Das gilt zuerst für die entwickelten Industrieländer, deren Standards jedoch globale Zielvorstellung sind.
Nun gehört es zu den grundlegenden Übereinstimmungen beinahe aller Anthropologien, daß der Mensch als „Mängelwesen“ – mit Arnold Gehlen – einer „künstlich bearbeiteten und passend gemachten Ersatzwelt“ bedarf, „die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt. (…) Er lebt sozusagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdienliche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist.“
Diese den Menschen erhaltende und schützende künstliche Welt zu errichten bedurfte es immenser Leistungen und Opfer; nichts von dem, was uns gegenwärtig an Technik und Kultur gesichert erscheint, ist selbstverständlich, sondern als Errungenschaft fragil und gefährdet. Dies gilt ebenso für die von Arnold Gehlen geheiligten Institutionen „wie das Recht, die monogame Familie, das Eigentum.“ Gehlen warnt:
Und wenn man die Stützen wegschlägt, primitivisieren wir sehr schnell.
Was Gehlen folgernd daran anschließt, erinnert, ins Physikalische weisend, an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bzw. die Entropie: „Die Bewegungen nach dem Verfall zu sind stets natürlich und wahrscheinlich, die Bewegungen nach der Größe, dem Anspruchsvollen und Kategorischen hin sind stets erzwungen, mühsam und unwahrscheinlich. Das Chaos ist ganz im Sinne ältester Mythen vorauszusetzen und natürlich, der Kosmos ist göttlich und gefährdet.“
Je perfektionierter Sicherheit, Kultur und Komfort entwickelt sind, je selbstverständlicher und dauerpräsent sie dann scheinen, um so mehr verläßt sich der Mensch fatalerweise auf sie, wenn er seine Umwelt nur so lebensdienlich eingerichtet kennt: Sauberes Trinkwasser, ausreichend gesunde Nahrungsmittel und dauerverfügbare Energie scheinen für die Industrieländer ebenso abgesichert wie das Recht und eine grundsätzlich gewährleistete Sicherheit.
Davon auszugehen, daß diese Stabilitäten aus sich heraus stabil bleiben, ist gefährlich. Sie sind eben nicht naturgegeben, sondern künstlich installiert, mithin angreifbar und beständiger Erosion sowie Havarien preisgegeben. Dieser Gefahr nicht aufmerksam gewärtig zu sein macht fahrlässig.
Gehlens Bedenken und Mahnungen gelten nicht nur für die ingenieurtechnische Hardware der Gesellschaft, sondern ebenso für deren geistiges und soziales Betriebssystem. Daß etwas politisch erwünscht erscheint, und sei es ein „Menschenrecht“, eine „ethische Grundvereinbarung“ oder eine angeblich „unhintergehbare“ moralische Selbstverständlichkeit“, heißt noch nicht, daß damit sicher zu leben ist.
Interessant ferner: Was uns heute sichert und erhält, wurde in Jahrzehnten, ja Jahrhunderten errichtet, deren Protagonisten heutzutage vom „humanistischen“ Standpunkt aus als imperialistisch, verbrecherisch und unmenschlich geradezu verteufelt werden, während sie den Zeitgenossen als „Tatsachenmenschen“ galten. Und unsere humanitären Standards, nach denen gerade jeder „Weltbürger“ verlangt, schuf – Ja, auf Kosten und zu Lasten anderer, aber damit wohl doch zum Nutzen einer Mehrheit! – ein heutzutage extrem negativ konnotierter Akteur, nämlich der weiße Mann Europas und Amerikas. Er unterwarf sich die Welt, wie sich der Mensch die Welt nun mal zu seinen Gunsten unterwirft; er selektierte, unterschied, grenzte ab und betrieb auf diese dramatische, eben nicht per se globalgerechte Weise neuzeitlich den „Fortschritt“.
Seinem Muster folgten nahezu alle anderen, unter anderem das nach westlichen Leitbildern in den Meiji-Reformen sich öffnende moderne Japan oder das nachkoloniale Indien. China indessen mag seiner Führung selbst als kommunistisch gelten, handelt aber, von konfuzianischer Ethik untersetzt, in der strategischen Machtlogik des weißen Westens.
Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung,
schreibt Nietzsche in “Jenseits von Gut und Böse”. Man mag das ethisch problematisieren, aber damit problematisiert man die Grundlagen unserer Kultur. Für Güte, Hilfe, Solidarität muß Platz sein. Wenn und weil man um das Böse weiß.
Die düsteren Seiten der Fortschrittsgeschichte kann man als danteske Höllenreise lesen: Daß der Mensch nämlich ein Wesen wäre, das seinen Nächsten zu erschlagen bereit ist, um sich mit dessen Fett die Stiefel zu schmieren. So Schopenhauer. Daß der Fortschritt ein blutiger Götze wäre, der seinen Nektar aus den Hirnschalen Erschlagener trinkt. So Marx. Und daß das Recht, hobbesianisch und schmittianisch angeschaut, über die Gewalt der Mächtigen etabliert wird, seien diese nun selbst- oder fremdermächtigt. Die wichtigen zivilisatorischen Errungenschaften wurden – Teil der menschlichen Tragödie – tatsächlich eher durch eine „Politik von Eisen und Blut“ erstritten als friedlich durch „Majoritätsbeschlüsse“ eingeführt. Das gilt für das Revolutionsergebnis Demokratie als politische Gestalt gewordenes Prinzip des Liberalismus im 19. Jahrhundert ebenso wie für das Niederkämpfen des Hitlerismus. Und um den Stalinismus in staatserhaltender Weise zu transformieren, bedurfte es mit dem Hauptziel der politischen und kulturellen Bestandssicherung eben des vielfach geschmähten Putinismus, der nicht allen Kräften in und um Rußland freien Lauf läßt, auch nicht den vermeintlich progressiven des NGO-Humanismus.
Ich halte es für fatal, daß „im Westen“ mehr und mehr auf physische wie intellektuelle Fitneß Verzicht geübt wird, indem die Politik meint, es wäre jetzt endlich soweit, auf Anstrengungen zugunsten von umfassenden Gerechtigkeitsdeklarationen zu verzichten. Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Ein Blick in die Welt offenbart die Gefahr.
Daß wir nicht wehrhaft sein sollen, erscheint ebenso riskant wie die Lässigkeiten der Kultuspolitik, die uns suggeriert, umfassende Bildung, qualifiziertes, namentlich für die Demokratie unerläßliches Lese- und Sprachvermögen und die Befähigung zu rationalem und analytischem Denken wären durch bloßes Tun und Machen zu ersetzen, aus dem sich dann „Kompetenzen“ entwickeln würden. Nein, nichts entwickelt, nichts erhält sich ohne straffes Training von Körper und Geist. Wer Frieden gebieten will, muß offensiv die Auseinandersetzungen beherrschen.
Dem Improvisieren des Irgendwie ist die Ausbildung von Haltung, Leistungsvermögen, Kraft und Verstand entgegenzusetzen. Selbstverständlich ist der Lernbehinderte und Verhaltensgestörte im Sinne der „Inklusion“ zu schützen und zu fördern, aber ebenso gilt es, das Talent zu fordern und davon zu überzeugen, daß es zur Bewahrung der Kultur harter Kämpfe bedarf. Je weiter das Laisser-faire getrieben wird, um so näher der Verfall oder um so härter eben die Gegenkräfte, die sich dem entgegenstellen werden, solange im Abendland – schon aus demographischen Gründen – überhaupt noch Kraft versammelt ist. Gehlen:
Wenn die Gaukler, Dilettanten, die leichtfüßigen Intellektuellen sich vordrängen, wenn der Wind der Hanswursterei sich erhebt, dann lockern sich auch die uralten Institutionen und die strengen professionellen Körperschaften: Das Recht wird elastisch, die Kunst nervös, die Religion sentimental. Dann erblickt unter dem Schaum das erfahrene Auge schon das Medusenhaupt, der Mensch wird natürlich und alles wird möglich. Es muß heißten: Zurück zur Kultur! Denn vorwärts geht es offenbar mit schnellen Schritten der Natur entgegen, da die fortschreitende Zivilisation uns die ganze Schwäche der durch strenge Formen nicht geschützten menschlichen Natur demonstriert.
Genau das geschieht gerade. Und wieder mal geht es um die Entscheidung, ob wir sicher überleben werden oder Wesentliches verlieren, was uns – allzu selbstverständlich – ausmachte. Nicht infantilisieren, sondern erwachsen bleiben!
Götz Kubitschek
Seltsam, daß es keine Kommentare gibt. Das gab es noch nie. Dabei ist das so ein wichtiger Text! Oder funktioniert etwas nicht?