So wächst sehr spät die Erkenntnis, daß die Einwanderer die Schuld an ihrer fehlenden Integration hauptsächlich selbst tragen und der „Wille, hier heimisch zu werden“ (Schäuble) oft nicht einmal ein frommer Wunsch ist. Da helfen kein „Einbürgerungsleitfaden“ wie in Baden-Württemberg und kein „Handbuch für Deutschland“, das Fremden erklärt, warum sie eine Münze in den Einkaufswagen zu stecken hätten. Viele der Zugewanderten sind auch nach Jahren der deutschen Sprache nicht mächtig, die erst ein Verständnis von Kultur und Gesellschaft des Aufnahmelands ermöglichen würde. Die jüngste Empörung gegen das Ansinnen einer Berliner Realschule mit 90 Prozent Ausländeranteil, die deutsche Sprache zur Pflicht bei allen schulischen Aktivitäten zu machen, kann dann nicht mehr verwundern. Die Kriterien, nach denen eine kulturelle Integration erfolgen sollte, sind völlig unklar. Die jüngsten Diskussionen darüber weisen nur auf den Gesamtzustand der europäischen und deutschen Gesellschaft hin.
Immerhin trägt das „Forum für Verantwortung“ mit den Überlegungen renommierter Geisteswissenschaftler (Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hrg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, 522 S., 13.90 €) zu diesen Diskussionen bei, bestreitet aber schon im Vorwort „die Möglichkeit einer Wiederanknüpfung an die Idee vom christlichen Abendland … als Hort von Vernunft und wahrer Freiheit“. Die Untersuchung von Entstehung und Wandel eines Europas „in der Spannung zwischen Athen und Jerusalem“ ist wichtig, auch die „modernen“ Werte Innerlichkeit, Bejahung des gewöhnlichen Lebens, Selbstverwirklichung, Rechtsstaatlichkeit, Rationalität und Pluralität – immerhin als „ertragene Differenz“ dargestellt – werden ausführlich besprochen, jedoch fehlt ihre Verortung im wirklichen Leben. Denn wie gerade dieses „Ertragen“ heute zu erleben ist, wissen wohl nur die, die damit täglich konfrontiert sind. Dieter Senghaas wird in seinem Beitrag „Die Wirklichkeit der Kulturkämpfe“ deutlich: Kultur schaffe öffentliche Ordnung und begründe politische Souveränität. Sie könne aktuell „Entwicklungsnationalismus“ hervorbringen, der in Gesellschaften aufbreche, in der der Aufwärtstrend der Mittelschichten nicht mehr zu Wohlstand, der Abwärtstrend der Unterschichten zur Vergrößerung der Armut führt. Eine „militante Rekulturalisierung von Politik“ führe zu „Überfremdungsabwehr“ auf der einen und „Assimilationsabwehr“ auf der anderen Seite einander fremder Bevölkerungsgruppen.
Die Realität der Beschreibung läßt sich in fast jedem Migrantenviertel deutscher Großstädte erkennen. Gudrun Krämers Beitrag „Wettstreit der Werte: Anmerkungen zum zeitgenössischen islamischen Diskurs“ zeigt im Anschluß tatsächlich die „internen Gründe“ verweigerter Anpassung. Die hier beschriebene unantastbare Heiligkeit des Korans in der arabischen Sakralsprache, die unbezweifelbare Überlegenheit der islamischen Ordnung und die strikte Abgrenzung des reinzuhaltenden „Gebietes des Islam“ von zu bekämpfenden oder „im Waffenstillstand ruhenden Gebieten“ machen eine Integrierbarkeit tiefgläubiger Muslime aussichtslos. Oder sollte die Notwendigkeit zur Integration in Zukunft schwinden? Schätzungen gehen zur Jahrhundertmitte von einem Verhältnis von 19 Millionen Einwanderern zu 49 Millionen Deutschen aus, die Migranten könnten aber schon in wenigen Jahren bei den unter Vierzigjährigen die Mehrheit bilden.
Angesichts dieser Situation stellt sich für Urs Fuhrer und Haci-Halil Uslucan die Frage nicht mehr, ob, sondern wie Deutsche mit Migranten zusammenleben können, deren generationenübergreifende Einwanderung nicht verhinderbar sei (Urs Fuhrer und Haci-Halil Uslucan (Hrg.): Familie, Akkulturation und Erziehung. Migration zwischen Eigen- und Fremdkultur, Stuttgart: Kohlhammer 2005, 244 S., 28.00 €). Ein Fachpublikum mit Bildungsauftrag mag diese Publikation von Psychologen, Soziologen und Erziehungswissenschaftlern schätzen, stellt sie doch als eine der wenigen Zuwanderung als Familienunternehmen dar – als sei diese Tatsache erst jüngst bekannt geworden. Integration müsse nur von „Akkulturation“ begleitet sein, und die Fremden würden heimisch, so die Verheißung. Natürlich müßten in diesem Prozeß „Elemente der eigenen Kultur … aufgegeben werden, weil sie nicht mehr funktional sind“, und zwar von beiden Seiten. Dann entstehe eine neue Kultur, die alle integrieren würde, vorausgesetzt, und das sei der Schlüssel, die Sprachkompetenz bleibe nicht hinter dem Notwendigen zurück. Man kann angesichts solcher Fortschreibungen einer Politik des frommen Wünschens nur den Kopf schütteln. „Integration“ nun „Akkulturation“ zu nennen, bedeutet, alten Wein in neue Schläuche umzugießen. Und hinter der Hoffnung auf eine neue Kultur, in der Einwanderer und Eingeborene gleichermaßen zufrieden wären, steckt nicht nur der Versuch, „das Deutsche“ aufzulösen; wer auf eine Einheitskultur hofft, siedelt den Menschen auf der Ebene des Hausschweins an: Denn alles, was über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausreicht, muß zum Konflikt, zum Kampf der Kulturen im Alltag führen. Der kulturelle Konflikt prägt bereits alle Lebensbereiche, „Dialog“ zwischen den Kulturen scheint nicht möglich zu sein. Wie auch? Grundlegend für jeden „Dialog“ ist ja eine gemeinsame Sprache. Ohne Sprachkompetenz wird kein Ausländer in den Dialog mit der deutschen Kultur eintreten können, vorausgesetzt, er wollte dies überhaupt.
Die Ernsthaftigkeit von Integrationskonzepten läßt sich also stets nach dem Stellenwert beurteilen, den der Spracherwerb einnimmt. Eine Ghettobildung im Aufnahmeland führt zu mangelhafter Sprachbeherrschung und verhindert Integration. Mangelnder Sprachkompetenz folgen mangelnde schulische Leistungen und der Ausschluß aus der Berufs- und Arbeitswelt. Gefahr droht jedoch auch dem demokratisch verfaßten Staat selbst. Die Demokratie ist nämlich die Staatsform des Dialogs und ihr Ernstfall ist die Wahl. Wen soll wählen, wer nichts versteht? Und noch wichtiger: Wer wird als relevante Minderheit auf Dauer demokratische Mehrheiten akzeptieren, wenn zwischen der eigenen Position und der des Siegers kulturelle Gräben liegen? Über solche Fragen, über die augenscheinliche Gefährdung des inneren Friedens, über die Leerformel vom „Dialog der Kulturen“ hätte man im Buch von Fuhrer und Uslucan gerne etwas gelesen. Der Band jedoch hat die Situation in Deutschland weder gegenwärtig noch zukünftig im Blick und verharrt im friedfertigen Wunschdenken über eine sanfte Entwicklung.