Die Selbstvergewisserung des “Flügels” gelang in drei Schritten: Das Kartenkontingent (800 Plätze) war eine knappe Woche nach Öffnung der Listen ausgeschöpft; die Inszenierung war perfekt und hat qualitative Maßstäbe gesetzt; die Gesamtpartei beschäftigt sich seit Tagen mit der Interpretation der Bildsprache und der Redebeiträge des Treffens und bestätigt dem “Flügel” dadurch seine Bedeutung.
Das Flügeltreffen war nach den Vorbildern aus Italien, Österreich und den USA inszeniert: geschlossene Halle, Fähnchen zum Winken an jedem Platz, riesige Leinwand, Bühne mit Laufsteg aufs Publikum zu, Abdunklungsmöglichkeit, intelligentes Lichtspiel, stehende und mobile Kameras, straffes, durchmoderiertes Programm, Dramaturgie aus Vorrednern, Musik und Imagefilmen auf den Hauptredner zu, der zugleich die zentrale Figur des Flügels ist: Höcke.
Es war wie auf einem Konzert: Moderation, Vorband, Wartenlassen, Erregungssteigerung, Hauptband, große Zufriedenheit. Das haben die Organisatoren des Flügeltreffens studiert und begriffen, und sie haben es gekonnt umgesetzt. Das hat die Leute mitgerissen, und dagegen kann man nichts einwenden. Man sollte den in Szene gesetzten Höcke mit den Inszenierungen vergleichen, die den Grünen-Chefs Baerbock und Habeck auf den Leib geschneidert werden und sie von der Bühne herunter mit ihrem Wahlvolk spielen lassen wie Popstars mit ihren sehnsüchtigen Fans.
In der Politik gilt nämlich dasselbe, was für jeden Bereich gilt, in dem nonverbal überzeugt wird: Wer handelt und potent wirkt, hat recht, reißt mit und darf sich fast alles erlauben. Fast alles. Für die Grünen, diesen von den Medien hochgeschriebenen, gehätschelten Gegenentwurf zur AfD gilt das ohne Zweifel.
Aber es gilt nicht immer. Für die AfD und innerhalb der AfD gilt das Prinzip der Diskursherrschaft qua Machtdemonstration und Überwältigung nicht, und zwar aus drei Gründen:
1. Die Grünen sind eine durchgekaderte Partei, ausgestattet mit hypermoralisch aufgeladenen Mobilisierungsthemen, mit verlogenen Utopien samt Heiligenpersonal (Greta, Rackete) und mit “den Rechten” als einem politischen Feind, den es – unterstützt von den Meinungsmachern und den zivilgesellschaftlichen Gruppen – zu markieren, zu kriminalisieren und mundtot zu machen gilt. Aber niemand zieht von Habeck und Baerbock eine Parallele zu totalitären Führungsfiguren der linken Unheilsgeschichte, und zwar aus dem einfachen Grund, weil man ihnen nicht über mitspielen will. Von Höcke zu den Demagogen der dunklen Jahre ist es für die unfairen Berichterstatter (und im Nachgang: für die seit Jahrzehnten durchkonditionierten Leser und Zuschauer) hingegen nur ein denunziatorischer Assoziationsschritt. Darüber kann man sich die Haare raufen: Es ändert an der Lage nichts, und in ihr muß man leben und agieren.
2. Diesen denunziatorischen Assoziationsschritt sind auch die Höcke-Gegner in der eigenen Partei zu gehen bereit, denn der NS-Vergleich ist die billigste und zugleich zahlungskräftigste Münze unserer Zeit. Es mag denjenigen Parteifreunden, die sie in den Erregungsautomat werfen, bewußt sein, daß sie die Münze des Gegners verwenden, aber sie liegt nun einmal bereit, liegt nahe, ist rasch bei der Hand. Und parteiinterne Gegner werden umso ungeduldiger, je länger der zuvor geradezu spielend eingefahrene Erfolg zu bröckeln beginnt oder sogar in erste Mißerfolge umschlägt. In solchen Lagen wird der Zusammenhalt lockerer, werden Schuldige gesucht und markiert, und Risse, die gekittet waren, werden zur großen Sache erklärt. Auch darüber kann man sich die Haare raufen: Keinesfalls aber darf man selbst die Risse vergrößern oder dem anderen Lager in der Partei einen Anlaß dafür bieten.
3. Zuletzt das Bitterste: Jeder von uns, ob in der Partei oder davor, hat eine Szene-Geschichte, ein Image, hat eine Rolle zugewiesen bekommen, spielt sie gern oder lehnt sie ab, spiegelt sich in den Rollen seiner Mitstreiter, wird plastisch, hat den ihm zugemessenen Aktionsradius und – das ist das Entscheidende – “kommt aus der Nummer nicht mehr raus”. Ich selbst (um ein Beispiel von außerhalb der Partei zu geben) bin niemals wieder in denselben Kreisen vermittelbar oder für dieselbe Ausweitung des Resonanzraums hilfreich, in denen sich ein Karlheinz Weißmann, ein Dieter Stein oder ein Michael Klonovsky bewegen oder an der sie mitwirken können, und dies, obwohl ich mit den ersten beiden zwei Jahrzehnte lang eng zusammenarbeitete und mich mit dem dritten gut verstehe. Meine Profilierung hat ihren Preis, die Attribute, die mit mir in Verbindung gebracht werden (ob ich es wollte oder nicht), verbieten es mir geradezu, Felder zu betreten, in denen ich Abwehrreaktionen auslöse. Höcke geht es nicht anders: jeder von uns muß wissen, daß er auch zu einem roten Tuch geworden ist.
Alles das sollte dem Flügel zukünftig nahelegen, sich selbst als integrative Struktur in Szene zu setzen, als Podium, als Diskussionsplattform, als kämpfendes Bündnis gegen den eigentlichen Gegner, mit Höcke als einem unter anderen, als Fragesteller und als gutem Zuhörer, denn gerade die Westler haben den Ostlern viel zu erzählen über ihren sehr schweren Stand in einer doch ganz anderen Gesellschaft.
Kurzum: Ein Flügel-Treffen sollte so sein, daß es keine parteiinterne Gegenreaktion auslöst, und selbst die gröbsten Unverschämtheiten der internen Gegner sollten Höcke nicht dazu verleiten, diesen Gegnern einen Anlaß für eine Reaktion zu bieten.
Zuletzt hatte ja der just am Samstag zurückgetretene NRW-Sprecher Seifen Höcke-Goebbels-Vergleiche gebracht – wohl wissend, daß er die Polarisierung damit auf die Spitze trieb und jenen Medien Futter gab, die nichts lieber tun, als einen Keil in die AfD zu treiben. Überhaupt äußert Höcke noch nicht einmal in persönlichen Gesprächen, daß es ohne diese oder jene Strömung in der Partei besser voranginge. Höckes Gegner und die angrenzenden Medienhäuser haben jedoch schon ein halbes Dutzend Mal genau diese Behauptung aufgestellt: daß es ohne ihn besser aussähe in der Partei und mit der Wählergunst.
Der nun gegen Höcke gerichtete Appell, dessen Inhalt gestern durchsickerte und der heute Morgen veröffentlicht wurde, impliziert erneut, daß es ohne Höcke wohl besser liefe. Er ist von Mandatsträgern der Partei aufgesetzt und unterzeichnet worden und mußte wohl an die Luft. Er ist keine Wegmarke, sondern wirkt überflüssig, ist das Produkt einer Ungeduld, die nachvollziehbar, aber nicht professionell ist. Und er kommt zum falschen Zeitpunkt.
Denn um Wähler gekämpft wird in den kommenden Monaten in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, nicht in Nordrhein-Westfalen oder Bayern, und wenn man, wie die Unterzeichner behaupten, den Ostverbänden den größtmöglichen Erfolg wünscht, unterstreicht man den Wunsch am besten nicht mit einem Demontageversuch. Vor allem, und das wiegt schwer, steckt man einen solchen Appell nicht an diejenigen durch, denen die AfD egal in welchem Zustand zuwider ist. In der “Welt” konnte beispielsweise Matthias Kamann heute früh von einem “parteiinternen Aufruf” erzählen, der ihm vorliege.
Was die eigentlichen Gegner der Partei nun hoffen: daß diese Erklärung Fahrt aufnehmen und daß der “Flügel” reagieren werde. Beides wäre katastrophal, beides muß unbedingt verhindert werden, und es sieht zum Glück ganz danach aus, als ob das gelänge.
Denn vielleicht sollte man, bevor man Erklärungen veröffentlicht oder Kampfansagen macht, einmal gründlich (und frei von naheliegenden Interpretationen) über den simplen Umstand nachdenken, warum im Rahmen der nächsten Sommerakademie in Schnellroda Alice Weidel und Maximilian Krah Vorträge halten werden, warum Gauland und Meuthen auch schon referierten und warum auf dem Staatspolitischen Kongreß in Magdeburg Roland Hartwig einen starken Vortrag über den Verfassungschutz hielt. Meint jemand im Ernst, wir hätten beispielsweise bei Weidel einfach mal so angefragt?
Quertreiber in der AfD, die von solchen Schritten, von einem Zugehen aufeinander nichts halten, müssen sich fragen, ob sie begriffen haben, wo der eigentliche Gegner sitzt. Denen, die es immer noch nicht wissen, empfehle ich die Oberbürgermeisterwahl in Görlitz und das grüne Parteiprogramm zum gründlichen Studium.
Vielleicht sollte man den Blick also auf diejenigen richten, die diese “Erklärung der 100” nicht unterzeichnet haben, und vielleicht würde – bei genauer Betrachtung – klar, daß sich da im Hintergrund längst Gesprächsebenen angebahnt und Gemeinsamkeiten gebildet haben, deren zweifaches Ziel der Ausgleich und die Professionalisierung sind – daß da also auf das Wichtigste abgezielt wird, das diese Partei braucht.
Die soeben abgegebene Stellungnahme von Alice Weidel und Damian Lohr ist genau in diesem Tenor gehalten:
Die AfD steht in diesem Herbst vor drei richtungsweisenden Landtagswahlen. Eine sehr große Zahl an Wählern setzt das Vertrauen in unsere Partei. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst. Dieser Verantwortung müssen wir uns gemeinsam stellen, um erfolgreich zu sein. Gräben aufzureißen ist der falsche Weg. Es steht außer Frage, dass Spannungen innerhalb der Partei aufgetreten sind. Diese sind aber nur intern über die gewählten Gremien und ohne öffentliche Schlammschlacht zu lösen. Wir appellieren an alle Mitglieder: Gemeinsam für den Wahlerfolg in Brandenburg, Sachsen und Thüringen einstehen. Interne Konflikte intern lösen!
Halenberg
Herr Kubitschek. Ein nachdenklicher Artikel, wie man es gewöhnt ist. Aber dennoch einseitig. Die Erklärung wirft Fragen auf, ohne Zweifel. Inhaltlich ist sie aber nachvollziehbar. Es ist daran zu erinnern, dass der Flügel erheblich zum innerparteilichen Streit und Spaltung beiträgt und initiiert, wir alle erinnern uns an die sog. Erfurter Erklärung (über das Ungeschick Luckes und seiner Mitstreiter wollen wir mal nicht reden). Was soll der ganze Pomp des Flügeltreffens, den Sie da beschreiben, der Kult um Höcke, das ganze laute Auf-die-Brust-Trommeln von wegen „Wir sind die Grundsätzlichen, andere Karrieristen oder Warmduscher“ (was eine Unverschämtheit ist). Sie nennen es Selbstvergewisserung, andere nennen es scheinheilig, Provokation, oder einfach nur lächerlich (gefährlich für die Partei allerdings). Wieso sollte man da NICHT denken, der Flügel sei eine Partei in der Partei. Wenn der Flügel mal ein paar Gänge runterschalten täte, wäre vielen geholfen. Mal abgesehen davon, dass die Protagonisten oder prominente Anhänger oft nur sehr schwer zu ertragen sind, und man sich fragt, wie um alles in der Welt sie nur auf die Idee kommen, sie könnten Mehrheiten gewinnen.