Am 28. Dezember 2018 hat Peter Sloterdijk in der NZZ einen Text über das »zynische Bewußtsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts« veröffentlicht.
Er griff darin Überlegungen aus jenem Wurf auf, der ihm 1983, also noch vor der friedlichen Revolution, mit seiner Kritik der zynischen Vernunft gelungen war.
Wir können Sloterdijks Aufsatz aus der Neuen Zürcher Zeitung als Unterfütterung der These lesen, daß die immer hemmungsloseren Attacken der “Zivilgesellschaft” gegen uns auf einem diskriminierenden Feindbegriff beruhen. Seine Ausführungen sind wichtig für die Deutung unserer Lage und für die Interpretation der politischen Theologie des Gegners.
Sloterdijk verfährt in der für ihn typischen Art, wenn er zunächst gesellschaftsphilosophische Grundbestandteile des BRD-Gemüts im Vorbeigehen abräumt – vorbereitend, weil er Platz braucht. Diesmal wird der »herrschaftsfreie Diskurs« zur Abholung an die Straße gestellt, denn es handelt sich bei ihm um eine rein theoretische (also durch keine Erfahrung gedeckte) Angelegenheit, wirkmächtig zwar, aber vor allem sedierend und vernebelnd, und damit das gefundene Fressen für den Entrümpler Sloterdijk, der über diese Habermassche Realitätsverweigerung sagt: »Es gibt ihn nicht, jedoch gibt es die Enttäuschung darüber, daß es ihn nicht gibt.« Zack, erledigt, damit ist die Fläche bereinigt, und nun wird neu möbliert.
Sloterdijk unterscheidet in seinem Text drei Gestalten des »irrenden Bewußtseins« – nämlich den unfreiwilligen Irrtum, der sich aufklären ließe, dann die bewußte Täuschung, die vom Getäuschten unfreiwillig erlitten werden muß, und drittens ein Stadium, in dem »das Getäuschtwerden von Freiwilligkeit« getragen wird: im Kino oder im Theater erlaubte Voraussetzung, im politischen Bereich dort auffindbar, wo die Suggestion die Nüchternheit ablöst und die Ideologie die Bandbreite des Möglichen und des Denkbaren zum Glauben, zu einer religiösen Haltung hin verengt und verdichtet.
Dieser »halb bewußte, halb unbewußte Pakt zwischen den Lügnern und den Belogenen« setzt sich unter »politisch-ethischen Vorzeichen« überall dort durch, wo – Sloterdijk –
ein Wille zum Glauben auf Propaganda trifft, sprich auf elaborierte und nachhaltige Überredungssysteme vom Typus Missionspredigt, Konfessionsliteratur, Sektenpresse und Parteiindoktrinierung.
Hier sind wir am entscheidenden Punkt: Die Notwendigkeit der politisch (und das heißt: der propagandistisch) Mächtigen, ein Bekenntnis zur Wahrheit abzulegen, ist in unserer Lage bereits eine Notwendigkeit von vorgestern. Wir beschreiben doch längst »Enthemmungsphänomene«: unverhohlene Aufrufe zur Denunziation, Kriminalisierung, Verleumdung, Verfolgung und Ausgrenzung – natürlich nicht mit den geradezu plumpen Mitteln einer offensichtlichen Diktatur, sondern mit denen der »Totalitären Demokratie« im Internetzeitalter, also bemäntelt, subtil, diskriminierend.
Das ist unsere Lage, und wir sollten als gute Beobachter die Selbstdemaskierung des Gegners, die »Lockerung des Maskenzwangs« (Sloterdijk) genau registrieren:
Wenn die Oberen die Maske fallen lassen, verhehlen sie ihre Gleichgültigkeit gegen die ihnen offiziell zugewiesene Sorge um das Gemeinwohl nicht länger.
Bemäntelungsraffinesse steht neben schwindender Bemäntelungsmühe.
Das ist das Einfallstor: Jede Bemäntelung läßt einen Schlitz frei, jede Heuchelei wirkt irgendwann wie eine solche, und mit zunehmender Macht und Machtausübungsleichtigkeit prägt sich im Gebaren und in den Gesichtern der Gewinner der zynische Zug aus. Sloterdijk:
In ihrem Zynismus lassen die Herrschenden sich anmerken, daß sie es leid sind, die Mühe der Heuchelei auf sich zu nehmen. Sie glänzen mit der Ironie der Gut-Davongekommenen. Für sie sind Größen wie Ehre, Anstand, Wahrheitsliebe, Takt und Einfühlung bloße Spielfiguren im großen Welttheater. Sie genießen die Überzeugung, sie dürften jederzeit das Recht auf Ausnahme für sich beanspruchen.
Aus Sloterdijks Gedanken über die Lüge und den Zynismus in der Politik unserer Tage wird überraschend deutlich, was wir unter jenem Riß verstehen, von dem wir meinen, daß er sich quer durch die Gesellschaft zieht, wobei wir auf der anderen Seite die Macht, ihre Helfer, die Opportunisten, die nützlichen Idioten und die Nutznießer stehen sehen. Das Machtgefälle nimmt dabei jeden Tag weiter zu: Es gibt keinen Belegzwang mehr auf Seiten der Macht, es reicht die Behauptung, die Unterstellung, die Verleumdung, und sei sie noch so absurd.
Auch die Hoffnung, die auf unserer Seite des Rissen blüht, trügt wohl: daß es nämlich, je krasser die Verleumdung und der Machtmißbrauch würden, umso “kenntlicher” für diejenigen werde, die noch einen Maßstab von Gerechtigkeit und Spielregeln in sich trügen.
Aber bereits zu dem selbstverständlichen Vorgang, den Machtzynismus oben und die Umsetzungsbrutalität unten als solche zu benennen, gehört ein Mut, den in den vergangenen Wochen und Monaten trotz dutzender Gespräche, die wir mit Mainstream-Journalisten führten, von diesen keiner mehr aufzubringen bereit ist.
Oder näher an Sloterdijk: Etliche von ihnen glauben gar nicht mehr, daß da etwas aus dem Ruder gelaufen sei. Sie sind in jenem dritten Stadium angelangt, von dem oben schon die Rede war und in dem “das Getäuschtwerden von Freiwilligkeit” getragen wird.
Es gibt also kaum noch bremsende Kräfte. Das aber ist nun seit jeher das Kennzeichen dafür, daß denen, die auf der Seite der Macht und des zivilgesellschaftlichen Glaubens stehen, eigentlich alles erlaubt ist. Deswegen hat die Antifa am 19. 7. – sozusagen in Vorbereitung auf die Demonstration der Identitären Bewegung in Halle/Saale am 20. 7. – die Autos zweier IBler angezündet. Das Motto der Antifa-Gegendemo lautet übrigens “Nice to beat them”. Aufgreifen wird diese selbstverständliche Gewalt von links selbstverständlich keiner. Und Konsequenzen für die Antifa-Gegendemo? Für das “breite Bündnis gegen rechts”? Aber nein.
quarz
Ganz meine Rede. Aber der Mechanismus, mit dem die Masse gefügig gemacht wird, scheint mir einfacher zu sein als hier vermutet: klassischer Pawlow.
Mit Verbaletiketten wie "rassistisch" wird jede unliebsame Meinung samt Argumentation assoziativ an einen NS-Plot gekettet. Die Konditionierung beginnt in der Schule und wird dann nahtlos von den Medien übernommen.
Es genügt danach, die so in Funktion gesetzten Wörter bei Bedarf einzusetzen, um beim Empfänger des Signals eine fix verankerte Reaktionskette auszulösen, die den Wahrheitstest auslässt und direkt auf Abwehralarm schaltet.
So kommt es, dass die von den Herrschenden erwünschte Sichtweise denktechnisch alternativlos wird, weil sie als einzige frei von stigmatisierenden Etiketten ist. Und ihre Überprüfung wird überflüssig, weil ja ihre Verneinung bereits per Reflex verneint wurde und sie somit nach dem Gesetz der doppelten Verneinung (dieser Rest an Logik wird gewährt) richtig sein muss.