wie er untergeht, obwohl er eben noch als fester Bau alles Gesellschaftlichen galt. Deutschland bot dafür im 20. Jahrhundert allein viermal das Terrain, innerhalb verschiedener Akte der Geschichte und mit wechselnder Besetzung: Jeweils abrupt endeten im Zuge revolutionärer Aktionen oder in Ergebnis von Zusammenbrüchen das Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich, letztlich 1989/90 die DDR.
Während die Novemberrevolution von 1918 als echte deutsche Revolution gelten kann, schuf sie doch – im Gegensatz zum gescheiterten 1848er Frühversuch – eine neue und tatsächlich demokratische Staatsform, war wiederum die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Wortsinn durchaus revolutionär, allerdings in reaktionärer Weise.
Zwölf Jahre später stellte der Untergang des Dritten Reiches den katastrophal opferreichsten, grausamsten Umbruch dar, ein Ende im Schrecken, ein – zum Glück vorläufiges – Ende sogar des gemeinsamen, zudem territorial amputierten Vaterlandes. Bis zur Gegenwart der allergrößte Verlust des alten Reiches in der Mitte Europas, dessen geistige und kulturelle Substanz im Kern unwiederbringlich vernichtet wurde, nachdem sie bereits durch den Versailler Vertrag von 1919 hart getroffen war.
Die durch die stalinistische Siegermacht Sowjetunion betriebene Installation der DDR und deren vierzig Jahre später endende Kurzgeschichte wiederum dürfte den prinzipiellsten Wandel markieren, weil im Gebiet der sowjetischen Besetzungszone Enteignungen und Umverteilungen allergrößten Ausmaßes erfolgten; ein radikaler Unrechtsakt, der ein sozialistisches Experimentierfeld schuf, das 1990 ff. wiederum eine kapitalistische bzw. „marktwirtschaftliche“ Turborestauration durchmachte, die den revolutionären Beginn der „anderen deutschen Republik“ zu revidieren suchte.
Zwar konnten nach vierzig Jahren einstige Eigentümer nur zum eher geringen Teil in ihre alten Rechte eingesetzt werden, aber der Ausverkauf des Staats- bzw. „Volkseigentums“ via „Treuhand-Anstalt“ an solvente Verwerter und Entsorger – vorzugsweise aus der Alt-Bundesrepublik – dürfte ebenso einmalig gewesen sein wie die vormaligen Enteignungen durch die SMAD und den SED-Staat zu Beginn der DDR-Geschichte.
Nun werden „Wende“ und Wiedervereinigung von den gegenwärtigen politischen Deutungsbehörden der neuerlichen „Sieger der Geschichte“ zwar wohl als revolutionär – im Sinne des romantischen Wortes von der „friedlichen Revolution“ – dargestellt, und die sogenannte Bürgerbewegung wie die Montagsdemonstranten gelten sakrosankt als Schulbeispiel couragierter und urteilskräftiger Citoyens; darüber hinaus aber steht die DDR als „Unrechtsstaat“ und böses Kuriosum da, als etwas, das besser nicht gewesen wäre, so wie sie der damaligen Bundesrepublik verächtlich als „Regime von Pankow“, als „Sowjetzone“ und solcherart als eine Art Satrapie Moskaus galt. Im Wesentlichen ganz zu Recht. Was allerdings wiederum wenig über die menschlichen Schicksale aussagt, von denen der Westen des Landes bis heute keine klare Vorstellung haben kann.
Allerdings wird in den Gravitationsfeldern des Kalten Krieges gleichfalls die Bundesrepublik als Gründung der Siegermächte, insbesondere der USA, aufzufassen sein, legitimiert immerhin in ihrer vergleichsweise demokratischen Gestalt und mit der Zustimmung immer satterer Konsumenten, am allermeisten gerechtfertigt eben durch den wirtschaftlichen Erfolg, insofern der nach moderner Wahrnehmung überhaupt als einziger Indikator für die Positivbewertung gesellschaftlicher Systeme erscheint.
Aber ganz abgesehen von historischen Deutungen erscheint ein untergehender Staat, der wohl oder übel im ursprünglichen Sinne immerhin untergehende Heimat ist, als Phänomen an sich selbst. Die DDR wurde von ihren Bürgern – wiederum wohl oder übel – als besonders fest gefügt wahrgenommen, beherrscht nicht nur von einer totalitären und vormundschaftlichen Exekutive, die sich ihrerseits bis zur Ära Gorbatschow des Feuerschutzes durch zwei Millionen Sowjetsoldaten im Land sicher war, sondern sich selbstreferentiell erklärend aus der mythischen Erzählung der stalinistisch-poststalinistischen Variante des Kommunismus, Teil der besseren Welt zu sein, angeblich Garant des Friedens, vom Kapitalismus und dessen „Auswüchsen“ Faschismus bzw. Nationalsozialismus befreit, im Sinne der Historischen Materialismus als „Arbeiter- und Bauernstaat“ einer „lichten Zukunft“ entgegengehend.
Selbst wenn sie publiziert worden wären, würden die Argumentationen Karl Raimund Poppers zu einer „offenen Gesellschaft“ da nicht durchgedrungen sein, sondern hätten als spätbürgerliche Miesepeterei gegolten, die eine autoritäre Parteienherrschaft kritisierten, die es nach Selbstverständnis kommunistischer Ideologen in Anbetracht der globalen Zustände und Aufgaben nur in Gestalt des „demokratischen Zentralismus“, also als bürokratische Diktatur einer „Partei neunen Typs“ geben konnte.
Interessant und fatal, daß der Horror des sowjetischen Albtraums insbesondere der dreißiger Jahre in der DDR selbst unterschwellig kaum und jedenfalls nie spürbar tradiert wurde. Die ihn im Moskauer Hotel „Lux“ erlebt und aufatmend überlebt hatten, Ulbricht und Konsorten, schwiegen freilich und meinten auch späterhin, daß die Späne nun mal flogen, weil kräftig gehobelt werden mußte. So argumentierten die DDR-Sozialisten gegenüber den nach ihrer Lesart so veralteten wie verlogenen und die Ausbeutung nur kaschierenden bürgerlich-humanistischen Vorstellungen. Man verstand sich in Ergebnis der „Lehren der Geschichte“ als bewußt antibürgerlich und somit als antiliberal. Die Partei hatte in ihrer Eigenwahrnehmung immer Recht, da sie das einzig Richtige wollte. Indem der „realexistierende Sozialismus“ irgendwann den Kommunismus aufzubauen plante, träumte er seinen eigenen Traum von „Ende der Geschichte“ im Sinne eines weltlichen Paradieses.
Wer mit solchen Ansprüchen startet, dann aber vergleichsweise plötzlich innerhalb von Wochen, ja nur Tagen implodierend zusammenbricht und zunächst sang- und klanglos untergeht, erlebt solch desaströse Scheitern als Blamage, als Kränkung, als Zusammenbruch, als Desaster mindestens der eigenen „werktätigen“ Biographie, zumal doch über Jahrzehnte vom Wettbewerb der Systeme die Rede war, bei dem es nach „wissenschaftlicher Weltanschauung“ nur einen Sieger geben konnte – selbstverständlich den Sozialismus! Der dann vor aller Augen unterging und sich von den Plakaten nachrufen lassen mußte: „Wohlstand statt Sozialismus!“
Nebenbei: Interessant anzuschauen wäre ein mindestens kultureller Wandel im Westen, wo der Typus des alten Kapitalisten, etwa des rheinischen Industriellen, mitsamt seinen Tugenden ebenso quasi evolutionär ausstarb wie das für Deutschland so wesensprägende Bildungsbürgertum. Beides Verluste, die nicht allein auf das Konto ihrer Kinder, der Achtundsechziger, gingen, sondern Ergebnisse einer fulminanten Modernisierung und beginnenden Globalisierung innerhalb des Bürgertums selbst waren.
Obwohl seit den Siebzigern und insbesondere ab dem wichtigen Schlüsseljahr 1983 manchen Fährnissen, gerade wirtschaftlichen und finanziellen, ausgesetzt, erschien die DDR in den Achtzigern aus der Innenansicht zunächst nicht als dysfunktionaler Staat, zudem sie sich eingemauert hatte und ihre Querelen den wirtschaftlichen Dimensionen des Kalten Krieges und insbesondere der durch den Westen aufgezwungenen Rüstungs- und Blockadepolitik anlastete. Ihre der Nachwendepropaganda als „marode“ geltende Wirtschaft war – bei allen dramatischen Innovationsverlusten und bei allem Grau und Gestank – immerhin die eines zwar kleinen, aber respektablen Industriestaates, der – in der Rückschau betrachtet – in Anbetracht der ungünstigen systemischen, historischen und konkret außenwirtschaftlichen Probleme praktisch noch mehr zustande brachte, als ihm theoretisch zuzutrauen gewesen wäre, zumal sich die vermeintlichen Verbündeten, vor allem die UdSSR, weit mehr als Last denn als Hilfe erwiesen.
Offenbar lagen die akuten Versagensgründe ebenso wenig in der Frustration durch die Mangelwirtschaft wie im zunehmend verklärten Aufstand der Bürger, sondern vor allem darin, daß die sowjetische Schutz- und Besatzungsmacht unter dem weit überschätzten Illusionisten Gorbatschow dem gesamten Ostblock den ideologischen Starkstrom abgestellt hatte, völlig verquer der Annahme, so könne man im Zuge von „Glasnost“ und „Perestroika“ zu „leninistischen Prinzipien“ zurückkehren, also zu einer Organisationsform des Politischen und Wirtschaftlichen, die es so wie suggeriert, weder 1917 ff. noch überhaupt irgendwann und irgendwo gegeben hatte oder die mindestens nie oder höchstens miserabel funktionierte. Man vergißt heute: Gorbatschow wollte keine bürgerlich-demokratische Ordnung begründen, sondern den Sowjetkommunismus als Zombie wiederbeleben. Wenn überhaupt, dann gab es in russisch-sowjetischer Provenienz nur eine Variante des Sozialismus – den stalinistischen bzw. poststalinistisch-stagnativen eben, worin ja gerade die Tragödie dieser Variante des kommunistischen Utopismus bestand. Jeder Utopismus wird dort, wo er umzusetzen versucht wird, unweigerlich zu einer Tragödie! Das hat die deutsche Linke übrigens völlig vergessen und laboriert neuerlich an Verklärungen.
Indem der verwachsene Bolschewismus erschöpft und weitgehend durch seine perversen Verbrechen diskreditiert endete, endete auch die UdSSR und gleichzeitig ihr seltsames Stiefkind, die DDR, deren Bürger erschrocken registrierten, welchen Lebenslügen man offenbar aufgesessen war und welche alte Leichen plötzlich durch das gerade noch als sauber empfundene Haus rochen.
So interessant wie traumatisierend ist für Zeitgenossen an einem solchen Untergang vor allem die extreme Alltagserfahrung, daß über Nacht nicht mehr gelten soll, was noch gestern wie in die Verfassung und Gesetze gemeißelt schien. Immer aufs neue unterliegt der Mensch doch der Illusion, daß Beschlüsse und „Grundvereinbarungen“ – einerlei, ob nun vermeintlich demokratisch oder eben autoritär und vormundschaftlich verfaßt – nicht mehr als nur menschliche Übereinkünfte sind – und als solche aufkündbar, selbst von einem Tag auf den anderen, ganz so wie die Geschichte seit Anbeginn der Erinnerung alles, aber auch wirklich alles immer wieder aufgekündigt findet, wovon man einst glaubte, es würde jetzt endlich prinzipiell so bleiben, wie es ist. Nein, nichts bleibt, gar nichts. Eine Binsenweisheit, ob nun mit Blick auf das eigene kleine Leben oder auf die große Welt.
Der Untergang einer Gesellschaftsordnung, eines Systems, einer Kultur, eines Staates kann nur als Schulbeispiel für das Scheitern der jeweils nächsten gelten. Aber selbst davon werden wir verblüfft sein, „und so sehen wir betroffen den Vorhang zu – und alle Frage offen.“
Alles, was als große Chance empfunden beginnt, endete noch stets in Hoffnungslosigkeit und wird ersetzt durch neue trügerische Hoffnung, die sich – wie die letzte Wende – als tückische Euphorie meldet und den Leuten Rührungstränen in die Augen treibt, bis daraus wieder die Tränen der Verzweiflung werden. Mit dem einstigen russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin formuliert: „Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“
Der_Juergen
Die Beiträge von Heino Bosselmann haben Hand und Fuss und sind stets lesenswert. So auch dieser. Er enthält vielleicht nicht sonderlich viel Neues, fasst aber bereits Bekanntes anschaulich und prägnant zusammen. Das kann längst nicht jeder.
Zu Gorbatschow: Ob dieser wirklich das Sowjetsystem als "Zombie" wiederbeleben wollte, ist sehr zweifelhaft. Beweisen lässt es sich ja nicht, aber mir haben Russen mit guten Insiderkenntnissen versichert, er sei 1984, ein Jahr vor seiner Ernennung zum Generalsekretär, anlässlich seines Besuchs in England von den dortigen Hochgradfreimaurern in seine Aufgabe, die Zerstörung der Sowjetunion, eingeweiht worden (was natürlich bedingen würde, dass er selbst Freimaurer und zur Durchführung eines solchen Zerstörungswerkes bereit war).
Persönlich halte ich diese Version für glaubhaft, denn die "Reformen" Gorbatschows haben ja in der Tat zur Auflösung der UdSSR und somit zur "grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" (Putin) geführt, ganz abgesehen davon, dass sie Dutzende von Millionen Menschen in furchtbare Armut gestürzt und der Herrschaft einer ruchlosen Mafia den Weg geebnet haben, der erst ab 2000 von Putin die Flügel gestutzt wurden (leider besass er nicht die Härte, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten).
Dass Gorbatschow als Gegenleistung für die Wiedervereinigung Deutschlands nicht die permanente Neutralität des Landes nach österreichischem Vorbild, d. h. den Austritt aus der Nato und den Abzug der US-Truppen, gefordert hat, lässt sich kaum mit "Naivität" erklären, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er sich von den Ungarn, Tschechen, Polen, Balten etc. nicht vertraglich deren künftige Blockfreiheit garantieren liess. Seine Behauptung, den "Versprechen" der Nato (d. h. der USA), diese werde nicht nach Osten expandieren, geglaubt zu haben, würde ihn zum Volltrottel machen, falls sie der Wahrheit entspräche. Aber ein solcher war Gorbatschow bestimmt nicht. Er muss von Anfang an gewusst haben, was er tat.
Es wäre interessant, darüber zu spekulieren, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätte Moskau den Deutschen die Wiedervereinigung angeboten, aber als Conditio sine qua non die Neutralisierung und Blockfreiheit eines vereinten Deutschlands gefordert. Hätte Bonn die Bedingung akzeptiert? Kaum; Washington hätte es ihm verboten und es notfalls mit militärischer Macht daran gehindert. Dann wäre auch dem hintersten Gimpel klar geworden, wo der eigentliche Feind des deutschen Volkes hockt. Nicht in Moskau.