Introvertierte werden locker, andere kommen ins Sprudeln, spätestens nach dem zweiten Gläschen. So kann es auch mit Büchern sein, und mit Nell Zinks Roman Virginia ist es definitiv so.
Dieser außergewöhnliche Roman einer außergewöhnlichen Autorin ist gut mit einem Zustand zwischen dem dritten und dem vierten Sektglas zu vergleichen, wenn Beflügeltsein zum Schwindel gerät. Mehr kann man schlecht verkraften. Gläschenweise ist es ein irres Vergnügen.
Auf’s Korn genommen wird hier die große Erzählung des postmodernen Westens über »fluide Identitäten«. Es geht – wir schreiben die sechziger Jahre in Virginia – um die begabte Peggy (die ihren Namen mehrfach ändern wird), die lesbisch ist, allerdings keine sexuellen Beziehungen zu Frauen hat.
Sie beginnt als ganz junge Frau eine Affäre mit dem hochbegabten Dichter und Dozenten Lee, der seinerseits eigentlich schwul ist. »Hochbegabt«: Lee schafft Poesie, in dem er beispielsweise 41mal das Wort »F*tze« in der Form des Empire State Buildings anordnet. Es gehe, sagt er, um den »Leseakt« und darum, daß die USA »schließlich ein freies Land« seien. Rasch entspringen dieser Mesalliance zwei Kinder. Peggy töpfert nun Figürchen, die sie als Symbole »für ihre Frustration als Hausfrau« betrachtet.
Lee liebt seinen Sohn, ist ansonsten aber ein mieser Kerl, der sie notorisch betrügt und ihre Tonfiguren mißhandelt. Peggy verzieht sich mit ihrer Tochter in den Untergrund, sie wird jahrelang nicht auffindbar sein und mit Drogen handeln.
Ihrer Tochter (wie sich selbst) verpaßt sie eine neue Identität. Das hellblonde Mädchen wird als Schwarze ausgegeben. Bei der Einschulung stutzt die Rektorin: »Sind Sie ganz sicher, daß sie nicht weiß sein soll?« Als das Kind dazwischenruft, es sei blond, fährt man ihr über den Mund: »Es gibt keine blonde Rasse!« und läßt darüber hinaus die Selbstaussage der Mutter gelten.
Das also per definitionem »schwarze« Mädchen wird größer, wiederum hochbegabt und verliebt sich in einen höchstbegabten jungen Schwarzen. Der nennt die Freundin »Blondie«, wie Hitlers Hund.
Am Ende dieser durchgedrehten, verschmitzten, gelegentlich trashigen, aber durchweg mit kalter Arroganz erzählten Geschichte kommt es zu einer erweiterten (zwischenzeitlich war Peggy platonisch mit einem päderastischen Indianer liiert) Familienzusammenführung. Lee will seiner schwarzweißen, wiedergefundenen Tochter ihren innigsten Wunsch erfüllen. Den wiederum kann man sich– die Flasche Sekt nun gewissermaßen intus – beinahe schon denken: Einmal die Villa Malaparte auf Capri besuchen …
Nell Zink (*1964) wurde in Kalifornien geboren, wuchs in Virginia auf, promovierte in Tübingen und lebt schon seit langem in Bad Belzig. Sie liebt Vögel, ist also das, was man bei den Angelsachsen einen Bird-watcher nennt, was wiederum den Kreis zu Malaparte schließt, der Vögel verehrte. Ihren Schreibstil (übersetzt hat Michael Kellner; das Original hatte sie 2015 unter dem Titel Mislaids veröffentlich) dürfte man typisch amerikanisch nennen. Sprich: in den artigen oder maximal mainstreamfrechen deutschen Erzählduktus hat sie sich noch nicht integriert. Und das ist gut so.
Nell Zink: Virginia. Roman, Hamburg: Rowohlt 2019. 320 S., 22 €
Niekisch
Hier komme ich auch ohne Sekt ins Schwindeln. So oder so: der Artikel ist beabsichtigt oder absichtslos ein Kettenglied am Schutzpanzer der Rüstung gegen die bereits im Anflug begriffene Lanze der Verfassungsschützler.