Interview mit dem online-Magazin tichyseinblick.de. Der Anlaß spielt bereits keine Rolle mehr, nur das Grundsätzliche ist ja über den Tag hinaus von Belang. Der Journalist Alexander Wallasch stellte unter anderem die Frage, worauf sich diejenigen eigentlich stützten, die in uns Staatsfeinde ausmachen wollten. Ja, worauf eigentlich?
Es kann doch hinter solchen Kriminalisierungsversuchen gar kein objektiver Grund mehr ausgemacht werden, sondern nur noch ein denunziatorischer, also ganz sicher einer, der dem ursprünglichen Sinn unseres demokratischen Regelwerks entgegenläuft. Daher gab ich folgende Antwort:
Vermutlich sind wir der Popanz, den solche Leute brauchen, um ihr trauriges Dasein zu rechtfertigen. Meine Frau und ich reagieren mittlerweile wie Zuschauer. Wir nehmen eine übergeordnete Beobachterposition ein und verfolgen die Entwicklung. Wir sind uns dabei nicht sicher, ob wir einem absurden Theater, einem Stück aus der Anstalt, einem spontanen Dada-Abend oder einer Netflix-Serie über den ›tiefen Staat‹ zuschauen. Insgesamt: Spektakel, Ablenkung vom Wesentlichen, Fahrlässigkeit, Aushöhlung, drittklassiger Plot, Geschichten für später, für die Enkel. Jedenfalls spielen wir mit,
und als Wallasch nachhakte:
Es gibt eben Zeiten, in denen aus einem Offizier ein Käfer wird, den man mit der Nadel jagt. In meinem Sektglas schwimmen Erdbeeren, während ich mir und meiner Frau dabei zuschaue, was uns nun widerfährt.
Es gab Zustimmung zu dieser atmosphärischen Lagebeschreibung, allerdings oft verknüpft mit dem Zusatz, die Bilder vom Käfer und vom Sektglas mit den Erdbeeren seien reichlich überspannt. Dabei waren das doch Anspielungen: Hinweise auf die Herkunft des Gedankens, man solle in Momenten, in denen das Handeln, der Eingriffs- und Korrekturversuch sinnlos geworden seien, eine übergeordnete Position einnehmen und sich selbst mit Interesse beobachten. (Die Leute müssen wieder mehr und gründlicher Jünger lesen!)
– –
Manchmal fallen uns Bücher zu. Viele Leser werden diesen oft beglückenden, manchmal unheimlichen, stets aber stimmigen Vorgang kennen: vor dem Bücherregal zu stehen und ein Buch herauszuziehen, das man entweder schon einmal gelesen oder für später einsortiert hat und an das man jedenfalls gar nicht dachte, als man vor das Regal trat.
Dieses »später« scheint nun jedenfalls einzutreten, und das Buch fällt einem in die Hand. Diesmal: Erhart Kästners Zeltbuch von Tumilat, in der orangenen, längst vergriffenen Ausgabe der »Bibliothek Suhrkamp« (Antaios hat zwanzig davon zusammengetragen, hier bestellen).
Das andere stöberte Ellen Kositza auf, sie fand es, während sie die Kataloge der Neuerscheinungen durchforstete, um die Liste für die nächsten Rezensionenteile der Sezession zusammenzustellen, bestellte es und legte es bereit: Damir Ovčinas Roman Zwei Jahre Nacht (hier einsehen und bestellen).
In den Tagen und halben Nächten seither abwechselnd Lektüre in beiden Büchern. Das von Ovčina ist ein Ziegelstein, ein quälendes Buch über eine ausweglose, grauenhafte Zeit und das Festsitzen darin; das von Kästner ist dicht, philosophisch, durchgerungen, dadurch fast heiter, und zwar gerade weil auch hier das Ich festsitzt.
Ziemlich bald also stellte sich zur ineinander verwobenen Lektüre der Gleichlaut in diesem entscheidenden Aspekt ein – und über die Bücher hinaus die hilfreiche, weil heilsame Parallele zu jener Situation, die das Interview umriß: daß man nämlich in Auseinandersetzungen geraten kann, in denen der Bewegungsspielraum zusammengeschoben wird wie auf einem Schachbrett, wenn man nicht mehr die Dame, nicht mehr der Springer ist, sondern der König, der sich kaum noch rühren kann und darauf hoffen muß, daß die Reihe der Bauern hält und der Angriff des Gegners steckenbleibt.
Das ist keine schlechte Vorbereitung auf »Lagen«: sich selbst mit einer Figur auf dem Brett zu vergleichen, wobei die Dame-Tage sehr selten sind, die Turm-Tage die besten und die des Königs die gefährlichsten. Denn mit dieser unschlagbaren Figur ist keine Herrschaftsposition gemeint, sondern das Herz, der Kern der Existenz. Jeder weiß, daß er dieses Ganz-Eigene, wenn überhaupt, nur in einzelnen, vorsichtigen Schritten in Bewegung setzen kann (nie wird es »Dame« sein), und keinesfalls darf es schachmatt gesetzt werden.
– –
Zwei Jahre Nacht ist der literarische Bericht eines jungen muslimischen Bosniers aus Sarajewo, der am Tag vor der Abriegelung der bosnisch dominierten Stadtteile durch die serbische Armee Anfang Mai 1992 den naiven Fehler begeht, auf feindlicher Seite in einer Wohnung, die seiner Familie gehört, zu nächtigen. Am andern Morgen wird er an der Rückkehr gehindert und muß seinen Paß aushändigen.
In den Wochen danach zerschlägt sich jede Hoffnung auf eine Lösung, eine Übergabe, eine Flucht. Vielmehr härtet die Lage aus, erstarrt die Front, gibt es Opfer, wächst der Haß, und das Leben des Ich-Erzählers, der zur Zwangsarbeit verpflichtet wird und schreckliche Arbeiten erledigen muß, hängt an einem Faden, der jeden Tag reißen kann.
Er muß bei der Vertreibung seiner eigenen Landsleute helfen, die plötzlich nicht mehr die Landsleute der Serben sind, er muß Mobiliar aus enteigneten Wohnungen räumen, Schützengräben ausheben, bald die ersten Toten bergen und beerdigen – keine Kriegstoten, sondern einen in einem Keller erschlagenen Mann und einen, der so lange mißhandelt wurde, bis er starb, und dann eine halbe Familie.
Katastrophal die Lage, ungeordnet, willkürlich, lebensgefährlich und vor allem ausweglos; entlastet und erträglicher nur durch den glücklichen Umstand, daß im selben Haus eine Serbin wohnt, die ihn versorgt und liebt. Das alles erstreckt sich über hunderte quälende und bannende Seiten, notiert in einer protokollierenden Sprache, die auf eine kunstlose Weise festhält, was kaum auszuhalten ist und kunstvoll andeutet, was geschieht, wenn sich am Abend die Tür des Wohnhauses endlich schließt und dieser friedliche Innenraum zur Welt wird.
Verdichtetes Grauen, als der junge Mann mit seinem Arbeitskollegen, einem Musiker, zur Unterhaltung einer betrunkenen, vergewaltigenden Miliz-Horde befohlen wird: Sie spielen auf und halten durch und sind an das Ende ihrer Welt gelangt, an den Rand der Welt, an den Abgrund.
Die Befreiungsszene dann: viermalige Lektüre bisher, atemberaubend. Der junge Mann tötet drei seiner Peiniger, als er selbst getötet werden soll, und flieht zurück in das Haus, in dem er wohnen muß, seit er festgesetzt worden ist. Zwei Tage lang sucht man nach ihm, dann kehrt Ruhe ein, und aus der unteren Wohnung kommt ihm die Serbin entgegen, die ahnt, wo er sich verbirgt. Der junge Mann wird das Haus zwei Jahre lang nicht mehr verlassen, keinen halben Schritt weit. Zwei Jahre Nacht, in denen er seinen König schützt.
Der Gegner wird die Reihe der Bauern nicht überrennen, denn aus dem Aufgezwungenen wird eine Klausur, aus der äußeren Bewegungslosigkeit eine geistige und körperliche Einkehr, eine Vorbereitungszeit, eine Keimzeit, ein strenger Tagesplan: Schleifarbeiten am Schreibstil, Lektüren, die ihm seine Geliebte verschaffen kann, Gymnastik, Kraftsport, Geduldsübungen, Zuversicht, Rachepläne, erotische Phantasien – Sammlungsjahre, nach denen jeder, der zurückkehrt, auf seine Weise vor Kraft und Unbeirrbarkeit strotzt. Nicht anders der junge Mann.
– –
Es waren auch für Erhart Kästner ungefähr zwei Jahre, in denen er alles aus sich herausholen mußte, um nicht zu verdorren. Sein Raum: ein Zelt im Wadi Tumilat, zwischen dem Roten Meer und Kairo gelegen, wo er als Wehrmachtsangehöriger in einem dort in der Wüste eingerichteten englischen Kriegsgefangenenlager festsaß.
Kästner war zuvor Bibliothekar in Dresden und Privatsekretär bei Gerhard Hauptmann gewesen, dann einer jener seltenen Soldaten, die während des Krieges keinen Schuß abgeben mußten, sondern der kämpfenden Truppe das eroberte Gebiet durch Texte und Beschreibungen erschließen sollten. In seinem Fall: Griechenland, Ölberge, Weinberge.
Aber damit war es vorbei, als Kästner eingesperrt wurde, oder besser: in den Sand gesetzt, denn einsperren mußte man die Leute nicht wirklich im Wadi Tumilat. Wohin nämlich hätte einer fliehen sollen? Aus dem Sand in den Sand? Und weil das also nun das Schicksal war, das ertragen werden mußte (niemand von den Kriegsgefangenen wußte, wie lange man das würde ertragen müssen), ging es auch für Kästner darum, aus dem Erzwungenen eine Einkehr zu machen, aus fruchtloser, zermürbender, zermörsernder Warterei eine Sammlung, eine Besinnung auf das Königsspiel.
Nun, am Ende des Zeltbuchs von Tumilat angelangt, steht außer Frage, daß Kästner der richtige Mann für die Zumutungen dieser Ausweglosigkeit war und etwas in ihr fand, auf das er geradezu hingelebt hatte (obwohl eine solche Behauptung recht unverfroren ist: Denn auch als Sieger auf Rhodos und als Vermittler Griechenlands oder auch nur als Heimkehrer ohne Gefangenschaft wäre er vielleicht in eine ihm gemäße Rolle geschlüpft). Jedenfalls notierte er gleich auf den ersten Seiten den Notenschlüssel zu seiner Tonlage:
Wie es kommt, daß mich nirgendwohin, sogar nach Griechenland nicht, so unbändige Sehnsucht verzehrt wie nach der Wüste, weiß ich selbst nicht zu sagen. Aber mein Schmerz, nicht mehr dort zu sein, ist der Schmerz eines lebenslangen Verlusts, und seltsamerweise mischt sich etwas wie Reue darein, was ganz unsinnig ist: als hätte ichs nicht zu Ende gelebt, sei halben Wegs umgekehrt, wobei immer Schimpfliches ist.
Das kennt man, oder? Das will man am Ende auch sagen können, nicht wahr? Etwas getragen zu haben, das man sich nicht selbst auferlegt hat, und zwar so getragen und ertragen zu haben, daß es unterwegs zu etwas Angeeignetem geworden ist. Unterwegs also keine Ausflucht gefunden und keine Hilfe zugewiesen bekommen zu haben, sondern nur diese einzigartige Rolle, für eine Spanne, weiter nichts von Bedeutung, nur diese Rolle – und die Begabung, diese Rolle zu spielen wie kein zweiter.
Und man wird als daraus Entlassener stets meinen, daß man nicht dankbar genug war für die Last, unter der man sein Ganz-Eigenes verstand. So ähnlich faßt Kästner das aus einem der vielen Gespräche zusammen, die er in den Zelten im Wadi Tulimat führte: »Er habe die Beobachtung gemacht«, paraphrasiert er einem Mitgefangenen, einem Dirigenten,
daß große Taten nur auf dem Grund des ernsten Spiels erwüchsen. So sehr er sich die Heimkehr und Rückkehr ins vorige Leben wünsche, so sehr hoffe er doch, dies neuerworbene Gefühl als durchtönenden Orgelpunkt seines Lebens nie mehr zu verlieren. Es sei gut, in der Weise tätig zu sein, wie man eine Rolle übernehme und versuche, sie möglichst vollkommen zu spielen.
Welche Rolle nahm Kästner ein, als er für zwei Jahre in der Wüste festsaß? Eine kontemplative jedenfalls, eine asketische, eine der fortschreitenden Reduzierung und Entkleidung, eine auf das Wesentliche abzielende, und das setzte sich dann fort, als er wieder in Freiheit war und als Bibliothekar aus Deutschland wieder nach Griechenland reisen konnte: Er brachte von dort die Bilder und Notizen zu seinem wichtigsten Buch mit, zur Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, und in diesem Buch sind jene Kapitel die eindringlichsten, in denen er die Beweggründe und das Wesen der Eremiten nachzuzeichnen versucht.
Aber ob die noch eine Rolle spielen? Eher gießen sie mit sich selbst eine Form aus, eine uralte Form, an der es nichts mehr zu verbessern, die es vielmehr unter Aufbietung aller Lebenskraft erneut auszufüllen gilt.
– –
Die Verbindungslinien von der Lektüre zweier zugefallener Bücher zu unserer Lage, das Anknüpfen an aufgezwungene Klausuren, die Vermutung, einen Logenplatz zugewiesen bekommen zu haben, von dem aus man sich selbst dabei zusieht, wie man seine Rolle spielt.
Das alles ist nicht mehr nur politisch, sondern weit mehr: Das ist der Kampf um den König, um das Ganz-Eigene, und er ist längst im Gange.
Gotlandfahrer
Sehr geehrter GK,
Ich bewundere Sie für die Kraft und den Sinn, die Sie aus Ihrer Lage, durch diese bewegenden Beispiele, herauszulesen im Stande sind. Es sind immer wieder diese innerlich aufrichtenden Perspektiven auf das Geschehen, die mir Hoffnung schenken.
Danke Ihnen und all Ihren guten Mitstreiter*Innen... Sie wissen schon.