daß man in der Öffentlichkeit als »schlechter Europäer« gilt, wenn man die EU kritisiert. Mag die moralische Qualifikation auch ein Propagandatrick sein, mit der Kritik mundtot gemacht werden soll, so ist die Identifikation von EU und Europa nicht nur eine Floskel der Elite – die meisten EU-Bürger haben kaum eine eigene Vorstellung von dem, was Europa sonst noch sein könnte. Europa war immer eine geistige Realität, mit der normale Zeitgenossen wenig anfangen konnten. Daß daraus ein Megastaat geworden ist, der in die Lebenswirklichkeit der Menschen umfassend eingreift, wird dann zum Problem, wenn die EU-Maschine ins Stocken gerät. Sichtbar wurde dies bei den beiden großen Krisen: des Euro und der Flüchtlinge. Außerhalb dessen scheint der Leidensdruck in den westlichen Mitgliedsstaaten nicht groß zu sein. In Ostmitteleuropa ist das bekanntlich anders. Hier gehört EU-Kritik zum Bestandteil der Wahlkämpfe.
Daß diese Staaten nicht nur ihre eigenen Ressentiments pflegen, sondern durchaus ein ernsthaftes Interesse an Europa haben, zeigt sich daran, daß man mit dem bekannten Althistoriker David Engels einen Mann nach Warschau geholt hat, der sich durch einen rücksichtslosen Blick auf die Gegenwart auszeichnet. Ein erstes Resultat dieser Zusammenarbeit ist der vorliegende Band. Engels hat ihn als »Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas« konzipiert und damit einen Begriff ins Spiel gebracht, der nur wenigen leicht von der Zunge gehen wird. Die Hesperiden, vielmehr deren vermuteter Heimatort, liegen ganz im Westen Europas, irgendwo im Atlantik.
Engels faßt den Hesperialismus als »Gegenbegriff zum ›Europäismus‹« auf, den er als Synonym für die gegenwärtige EU-Ideologie sieht. Im Laufe des Buches wird leider nicht deutlich, warum es dieser Begriff sein muß. Insbesondere bleibt unklar, ob sich damit eine Brücke über den Atlantik verbindet und eine entsprechende Spitze gegen die Russen impliziert ist. Es könnte sein, daß Trump das verkörpert, was den Beiträgern als Ideal vorschwebt. Etwas deplaziert wirkt die ständige Betonung der jüdischen oder jüdisch-christlichen Wurzeln bzw. Tradition Europas, für die es keinen Anhalt in der Wirklichkeit gibt, sondern die dem Jargon der amerikanischen Konservativen entliehen zu sein scheint.
Dabei bedürfte es solch nebulöser Begrifflichkeiten gar nicht, weil die Beiträger, allen voran der Herausgeber, sehr Bedenkenswertes zum Zustand der EU und dessen Überwindung beizutragen haben. Die Renovatio Europae ist ausdrücklich als Provokation gemeint, weil die damit bezeichnete konservative Reform viel von dem in Frage stellen muß, für das Europa heute steht. Die Bezugnahme auf traditionelle Werte ist eigentlich selbstverständlich für eine Gemeinschaft, die es auch in Zukunft noch geben soll, stößt heute aber, in Zeiten des Universalismus, des Genderwahns und der Political Correctness schnell an Grenzen. Engels’ Plädoyer ist durchaus eine Attacke: wenn er zeigt, daß die Demokratie nicht erst 1945 erfunden wurde und eine Neubewertung der föderativen Großstaaten des Mittelalters fordert. Er will die Nationalstaaten stärken, ohne auf die EU zu verzichten, die er in der Rolle sieht, alle Aufgaben in der globalisierten Welt zu übernehmen, die Nationalstaaten nicht allein bewältigen können. Seine konkreten Vorschläge einer Reform der Institutionen laufen auf eine Stärkung des föderativen Charakters hinaus, unter gleichzeitiger Zentralisierung einiger Aufgaben wie Verteidigung und Infrastruktur.
Engels’ Forderung nach einer entsprechenden europäischen Verfassung ist konsequent: »Rückkehr zum Naturrecht, Wiederbelebung des christlichen Geistes, Einsetzung eines sozialverträglichen Wirtschaftsmodells, Durchsetzung der Subsidiarität mitsamt Schutz kleinteiliger, gewachsener Identitäten, Verteidigung der natürlichen Familie, Sicherung einer anspruchsvollen Migrationspolitik, Erneuerung unseres Sinnes für das Schöne.« Der ungarische Philosoph András Lánczi untersucht in seinem Beitrag die verschiedenen europäischen Verfassungen und kommt unausgesprochen zu dem Schluß, daß es schwierig sein dürfte, zwischen den universalistischen Präambeln des Westens und den eher partikularen des Ostens eine gemeinsame Verfassung zu extrahieren.
Hier muß zunächst ein geistiger Kampf Klarheit schaffen. Wie wichtig dieser geistige Kampf als Vorbereitung für den politischen ist, macht der katholische Philosoph Jonathan Price deutlich, der einen »ästhetischen Patriotismus für Europa« fordert: »Der schlimmste Schaden, der durch ein zunehmend häßliches Europa angerichtet wird, ist die Tatsache, daß es selbst von den Europäern als immer weniger lebens- und liebenswert empfunden wird … Nur wenige werden bereit sein, zu kämpfen für etwas, das nur noch schrecklich, widerwärtig, grotesk, abstoßend, unziemlich, unförmig oder selbst ›funktionell‹ ist.«
Wir können den Bogen getrost etwas weiter spannen und neben die Ästhetik die ganze geistige Sphäre stellen, um die es im gegenwärtigen Europa schlecht bestellt ist. Eine Erneuerung muß ein geistiger Prozeß sein, der allerdings eines Anstoßes bedarf. In Preußen war es 1806 die Niederlage gegen Napoleon, die zu einem Umdenken zwang und das Band zwischen Volk und Staat erneuerte.
David Engels (Hrsg.): Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas, Lüdinghausen / Berlin: Manuscriptum 2019 (Edition Sonderwege). 221 S., 12.80 € – hier bestellen