Ost und West (1) – Görlitzer Besonderheiten

In der 90. Sezession veröffentlichten wir einen Grundlagenartikel über die Frage nach den widersprüchlichen Ost-West-Identitäten der AfD.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Nun mel­den sich zwei direkt Betei­lig­te aus Ost und West zu Wort. Wir geben zunächst den Bei­trag von Felix Men­zel, Dres­den, wie­der, bevor Roger Beck­amp, MdL aus Nord­rhein-West­fa­len, sei­ne Sicht der Din­ge schildert.

– – –

Wenn am 1. Sep­tem­ber die Erst­stim­men im säch­si­schen Wahl­kreis 58 aus­ge­zählt wer­den, dürf­te ganz Hell­deutsch­land vor dem nächs­ten Rechts­ruck zittern.

Denn soll­te Minis­ter­prä­si­dent Micha­el Kret­schmer (CDU) hier in Gör­litz aber­mals ver­lie­ren, ist höchst unge­wiß, wer die Res­te­ram­pe-Koali­ti­on der Alt­par­tei­en im Frei­staat anfüh­ren soll. 2017 flog er bereits aus dem Bun­des­tag. Tino Chrup­al­la erober­te das Direkt­man­dat und wird inzwi­schen als Nach­fol­ger von Alex­an­der Gau­land als AfD-Par­tei­vor­sit­zen­der gehan­delt. Kret­schmer erhielt der­weil qua­si als Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nah­me das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten ange­tra­gen, nach­dem sich Sta­nis­law Til­lich nach über neun Jah­ren zurück­zog, um der CDU in Sach­sen einen Neu­start zu ermöglichen.

Geplant war, die Stra­te­gie der ÖVP mit Sebas­ti­an Kurz nach­zu­ah­men. Ein jun­ges Gesicht, Bür­ger­be­tei­li­gung: Kret­schmer enga­gier­te sogar die Wer­be­agen­tur von Kurz, um des­sen Erfolgs­ge­heim­nis zu kopie­ren. Doch allem Anschein nach miß­lang dies. Bei den Euro­pa- und Kom­mu­nal­wah­len im Mai 2019 konn­te die AfD ihre Stär­ke als neue Volks­par­tei in Sach­sen erneut unter Beweis stellen.

Beson­ders bit­ter für Kret­schmer: In sei­ner Hei­mat­stadt Gör­litz gewann Sebas­ti­an Wip­pel von der AfD die ers­te Run­de der Ober­bür­ger­meis­ter­wahl deut­lich mit 36,4 Pro­zent. Als neu­es Stadt­ober­haupt konn­te er drei Wochen spä­ter nur durch ein Bünd­nis ver­hin­dert wer­den, das von ganz Links­au­ßen bis zur CDU reich­te und zu des­sen Unter­stüt­zung Film­grö­ßen auf den Plan tra­ten. Kret­schmer muß nun zur Land­tags­wahl gegen eben die­sen Wip­pel antre­ten, der im zwei­ten Wahl­gang zur Ober­bür­ger­meis­ter­wahl immer­hin 44,8 Pro­zent der Gör­lit­zer von sich hat­te über­zeu­gen können.

Da zur Land­tags­wahl die ein­fa­che Mehr­heit reicht und auch die ande­ren Par­tei­en Bewer­ber ins Ren­nen schi­cken, wird es für Kret­schmer sehr eng. Seit andert­halb Jah­ren befin­det er sich im Dau­er­wahl­kampf. Er fehlt bei kei­nem Fir­men­ju­bi­lä­um, gilt laut Umfra­gen als sym­pa­thischs­ter Poli­ti­ker des Frei­staa­tes, wuchert damit, daß er 17 Mil­li­ar­den Euro für den Struk­tur­wan­del der Lau­sitz orga­ni­siert habe, und konn­te Innen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer eini­ge Bun­des­po­li­zis­ten abrin­gen, die an der Gren­ze zu Polen für mehr Sicher­heit sor­gen sollen.

In der Euro­pa­stadt Gör­litz etwa kommt es näm­lich zu dop­pelt so vie­len Straf­ta­ten wie im Rest von Sach­sen. Selbst im Ver­gleich mit Baut­zen sind es 42 Pro­zent mehr. Zeit­wei­lig lag die Zahl der Auto­dieb­stäh­le 507 Pro­zent über dem Bun­des­durch­schnitt. Trotz­dem ist die Poli­zei im Land­kreis Gör­litz spär­li­cher besetzt als im Leip­zi­ger Land, das kei­ne Außen­gren­ze hat. Es ist daher kei­ne Über­ra­schung, daß sich die Bür­ger an der Gren­ze für eine Par­tei ent­schei­den, die Grenz­kon­trol­len for­dert und eine Hun­dert­schaft in Gör­litz ansie­deln möch­te, um das säch­si­sche Ost-West-Gefäl­le bei der Poli­zei­prä­senz zu beseitigen.

Ähn­lich desas­trös sind die Ver­säum­nis­se bei der Infra­struk­tur: Seit 40 Jah­ren ist die Bahn­stre­cke Dres­den-Gör­litz für die Elek­tri­fi­zie­rung vor­ge­se­hen. Gesche­hen ist bis zum heu­ti­gen Tag nichts, wäh­rend es die Polen geschafft haben, den Abschnitt bis Bres­lau auf Vor­der­mann zu brin­gen. Wer mit dem Zug von Dres­den nach Bres­lau rei­sen will, muß des­halb ein- bis zwei­mal umstei­gen – an sich kein Dra­ma, aber ein Mosaikstein.

Und noch einer: Als im Jahr 2017 die Schlie­ßung des Gör­lit­zer Tur­bi­nen­werks von Sie­mens droh­te, fiel dem Vor­stands­vor­sit­zen­den der Akti­en­ge­sell­schaft, Joe Kae­ser, an Argu­men­ten für den Erhalt des Stand­orts zunächst nur ein, daß der AfD womög­lich bei einer höhe­ren Arbeits­lo­sig­keit wei­te­re Wäh­ler regel­recht zuge­trie­ben wer­den könn­ten. Genau­so wie die Mah­nung aus Hol­ly­wood im Ober­bür­ger­meis­ter­wahl­kampf dürf­ten sol­che Äuße­run­gen bei den Bür­gern der ehe­ma­li­gen DDR das Gegen­teil des Inten­dier­ten bewir­ken, da sie aus his­to­ri­scher Erfah­rung all­er­gisch auf Bevor­mun­dun­gen reagieren.

Die Regi­on um Gör­litz pflegt eine ganz spe­zi­el­le Abnei­gung gegen Anpas­ser und vor­aus­ei­len­den Gehor­sam. Denn hier tref­fen das säch­si­sche Selbst­be­wußt­sein, es „denen da oben“ zu zei­gen, und der „dick­schä­del­i­ge Oppo­si­ti­ons­geist“ (Eck­hard Fuhr) der Schle­si­er auf­ein­an­der. Die Gren­ze zwi­schen Sach­sen und der preu­ßi­schen Pro­vinz Schle­si­en ver­lief bei Rei­chen­bach (Ober­lau­sitz). Bis hier­her reicht auch der Wahl­kreis 58. Ein smar­ter Wäh­ler­ver­ste­her wie Kret­schmer, der allen das erzählt, was man hören wol­len könn­te, scheint in die­sem Land­strich ein Fremd­kör­per zu sein. Ein „typi­scher Gör­lit­zer Dick­schä­del“, wie die Jun­ge Frei­heit Wip­pel cha­rak­te­ri­sier­te, dürf­te eher den Nerv der Men­schen tref­fen, auch wenn er sich eini­ge Din­ge in den Kopf gesetzt hat, die fast über­all auf Ableh­nung sto­ßen. So erging es Wip­pels Idee, den nahe der Stadt gele­ge­nen Berz­dor­fer See aus mar­ke­ting­stra­te­gi­schen Grün­den in „Gör­lit­zer Meer“ umzutaufen.

Was läßt sich nun aus den beson­de­ren Umstän­den in Gör­litz lernen?

Es gibt Regio­nen in Deutsch­land, die für Pro­test beson­ders emp­fäng­lich sind. Zu unter­schei­den ist dabei zwi­schen dem laut­star­ken Pro­test, der etwa in Chem­nitz auf­grund einer star­ken rechts­extre­men Sze­ne stets an der Schwel­le zur gewalt­tä­ti­gen Eska­la­ti­on stand, und einem ver­gleichs­wei­se ruhi­gen Pro­test wie in Gör­litz, wo selbst auf dem Höhe­punkt der Asyl­kri­se nur eini­ge hun­dert Demons­tran­ten auf die Stra­ße gingen.

Dies läßt sich im kon­kre­ten Fall auf die „Men­ta­li­tät des Mich-ver­steht-ja-sowie­so-nie­mand-Rebel­len“ zurück­füh­ren, dem den­noch „jede Obrig­keit zunächst ein­mal ein Angriff auf die eige­ne Beson­der­heit ist“, wie es Eck­hard Fuhr in Bezug auf die Schle­si­er beschrieb. Da die expo­nier­ten Pro­test­hoch­bur­gen bekannt sind, steht die patrio­ti­sche Oppo­si­ti­on vor der Her­aus­for­de­rung, in Ost und West jene Orte und Gegen­den zu iden­ti­fi­zie­ren, von denen eine ähn­li­che Signal­wir­kung wie von Gör­litz aus­ge­hen kann.

Die AfD wird nicht per se von „abge­häng­ten“ Bür­gern gewählt. Die aktu­el­le Arbeits­lo­sig­keit hat nur einen gerin­gen Ein­fluß auf das Wahl­ver­hal­ten. Inter­es­san­ter­wei­se fiel dem Bre­mer Poli­to­lo­gen Phil­ip Manow bei sei­ner Unter­su­chung der „poli­ti­schen Öko­no­mie des Popu­lis­mus“ aber auf, daß es sowohl in Ost­deutsch­land als auch im Wes­ten einen Zusam­men­hang mit der Arbeits­lo­sig­keit des Jah­res 2000 gibt. Das heißt: AfD-Wäh­ler haben ver­mut­lich bio­gra­phisch bedingt eine grö­ße­re Sen­si­bi­li­tät für die Schat­ten­sei­ten und Gefah­ren des Lebens.

Mit Blick auf Gör­litz ist die­ser Befund auf­schluß­reich: In den ers­ten Jah­ren nach der Deut­schen Ein­heit ver­lor die Stadt über­durch­schnitt­lich vie­le fähi­ge Köp­fe, weil die­se nur in Dres­den, Bay­ern oder Nie­der­sach­sen eine Arbeit fan­den. Zugleich dürf­te fast jede in der Hei­mat geblie­be­ne Fami­lie mit Arbeits­lo­sig­keit in Berüh­rung gekom­men sein. Die­se Erfah­run­gen machen wach­sam für Fehl­ent­wick­lun­gen. Lebens­lang in Wat­te gepack­te Bür­ger, die bei­spiels­wei­se durch geerb­te Immo­bi­li­en abge­si­chert sind, fehlt dage­gen viel­fach die Phan­ta­sie für nega­ti­ve Szenarien.

Die Beob­ach­tun­gen von Manow legen sicher­lich die Schluß­fol­ge­rung nahe, mit einem soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus auf die Abstiegs­ängs­te der Mit­tel­schicht reagie­ren zu müs­sen, weil dies den größ­ten Erfolg ver­spricht. Von die­sem Stand­punkt aus ist es bekannt­lich nicht weit bis zu par­tei­in­ter­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, in denen sich die eher frei­heit­li­che Aus­rich­tung eines Jörg Meu­then mit der sozi­al­pa­trio­ti­schen eines Björn Höcke reibt. S

ebas­ti­an Wip­pel indes hat sich dem Volk als „Natio­nal­li­be­ra­ler“ vor­ge­stellt, und auch ein Tino Chrup­al­la ist Ver­tre­ter einer ener­gi­schen Mit­tel­stands­po­li­tik, die frü­her in der FDP nicht nega­tiv auf­ge­fal­len wäre. Dies sieht eher nach einer Ver­mitt­lung bei­der Strän­ge aus.b Viel­leicht ist beim Bür­ger die­se Detail­un­ter­schei­dung zwi­schen libe­ra­len und sozia­len Patrio­ten auch über­haupt nicht ange­kom­men. Für die AfD ist die­ser Umstand ide­al: Er erlaubt, die­je­ni­gen Wäh­ler aus der Mit­te der Gesell­schaft ein­zu­sam­meln, die ent­täuscht sind, weil die CDU nicht mehr kon­ser­va­tiv ist, und zugleich die­je­ni­gen frü­he­ren SPD-Anhän­ger, die sich mehr sozia­le Gerech­tig­keit wün­schen, da ihnen die Groß­mutter im Pfle­ge­heim mehr am Her­zen liegt als der 22-jäh­ri­ge, ille­gal ein­ge­reis­te Wirtschaftsmigrant.

Zum jet­zi­gen Zeit­punkt befin­det sich die AfD in der kom­for­ta­blen Situa­ti­on, ledig­lich die Posi­tio­nen des gesun­den Men­schen­ver­stan­des ver­tei­di­gen zu müs­sen, um das Ter­rain der ehe­ma­li­gen Volks­par­tei­en erobern zu kön­nen. Auf lan­ge Sicht reicht die­se defen­si­ve Stra­te­gie frei­lich nicht aus, wes­halb die Arbeit am inhalt­li­chen Fun­da­ment inten­si­viert wer­den sollte.

Kön­nen die alten Volks­par­tei­en mit einem Sebas­ti­an Kurz- oder Emma­nu­el Macron-Dou­ble wie­der reüs­sie­ren? Ange­sichts der fehl­ge­schla­ge­nen Insze­nie­rung von Micha­el Kret­schmer ist das nahe­zu aus­ge­schlos­sen. Sol­che Per­so­nen mögen in Sym­pa­thie­wer­tun­gen vor­ne lie­gen. Viel­leicht gelingt es ihnen auch hier und da, ein uner­war­te­tes Direkt­man­dat zu holen, aber die erfolg­te Ent­ker­nung des Pro­gramms ihrer Par­tei­en kön­nen sie nicht rück­gän­gig machen.

Von die­ser Ent­ker­nung kön­nen neue, alter­na­ti­ve Par­tei­en beson­ders in Regio­nen pro­fi­tie­ren, die jahr­zehn­te­lang benach­tei­ligt wur­den. Das ent­spricht der demo­kra­ti­schen Logik: Wo die Regie­rung ver­sagt, muß die Oppo­si­ti­on als Nächs­tes ran. Für die Lau­sitz trifft dies in beson­de­rem Maße zu, da nicht nur der Auf­bau Ost sub­op­ti­mal ver­lief. Viel­mehr wird ihr mit dem Koh­le­aus­stieg gleich noch ein zwei­ter Struk­tur­wan­del zuge­mu­tet. Wie die­ser bewäl­tigt wer­den soll, ohne eine De-Indus­tria­li­sie­rung zu ris­kie­ren, weiß weder die Regie­rung noch die patrio­ti­sche Opposition.

In ihrem Regie­rungs­pro­gramm for­dert die AfD zwar die Ein­rich­tung von Son­der­wirt­schafts­zo­nen, kann jedoch nicht benen­nen, wel­che wachs­tums­star­ken Bran­chen bzw. Unter­neh­men sie damit aus jeweils wel­chen Welt­ge­gen­den anzie­hen will. Irland hat Ende des 20. Jahr­hun­derts mit einer Son­der­wirt­schafts­zo­ne sehr erfolg­reich ame­ri­ka­ni­sche IT-Kon­zer­ne ange­wor­ben. Aber wer soll in die Lau­sitz kom­men? Die Chi­ne­sen? Und sieht so patrio­ti­sche Poli­tik aus?

Eher nicht, und des­halb soll­te sich die Par­tei nach Alter­na­ti­ven umse­hen. Ori­en­tie­ren könn­te sie sich dabei am Oxford-Öko­nom Paul Col­lier, der die geo­gra­phi­sche Spal­tung über die Abschöp­fung der Agglo­me­ra­ti­ons­ge­win­ne über­win­den will. Sein Ansatz beruht auf der Fest­stel­lung, daß die hohe Pro­duk­ti­vi­tät in den Groß­städ­ten zu einem wesent­li­chen Teil das Resul­tat vor­he­ri­ger, kol­lek­ti­ver Inves­ti­tio­nen in die Infra­struk­tur sei. Hoch­qua­li­fi­zier­te Sin­gles mit gerin­gem Wohn­raum­be­darf sind die Nutz­nie­ßer die­ser Kon­stel­la­ti­on, da Fami­li­en ihr Ein­kom­men zur Bezah­lung teu­rer Immo­bi­li­en ein­set­zen müssen.

Um die­se Unge­rech­tig­keit zwi­schen Stadt und Land sowie inner­halb der Metro­po­len zu besei­ti­gen, will Col­lier die kin­der­lo­sen Bes­ser­ver­die­ner über eine zusätz­li­che Steu­er zur Kas­se bit­ten. Die Ein­nah­men sol­len in „abge­häng­te Städ­te“ und Regio­nen flie­ßen, wo sie benö­tigt wer­den, um aus den Pro­blem­zo­nen wie­der „Clus­ter pro­duk­ti­ver Arbeit“ zu machen. Wer die­se Idee ablehnt, weil die Steu­er­be­las­tung in Deutsch­land sowie­so schon immens ist, soll­te über eine regio­nal aus­dif­fe­ren­zier­te Ein­kom­men­steu­er nachdenken.

Über ein Rabatt­sys­tem könn­te dabei eine Ent­las­tung aller Bür­ger und Unter­neh­men in länd­li­chen Räu­men erzielt wer­den. Sie müß­ten dann nur noch für die Infra­struk­tur zah­len, die sie auch selbst nut­zen können.

Unab­hän­gig davon, wel­ches die­ser Kon­zep­te die AfD bevor­zugt, soll­te eins klar­ge­wor­den sein: Sie muß auf benach­tei­lig­te Regio­nen set­zen und dort zei­gen, daß sie es tat­säch­lich bes­ser kann.


Ver­wen­de­te Literatur:

Paul Col­lier: Sozia­ler Kapi­ta­lis­mus! Mein Mani­fest gegen den Zer­fall unse­rer Gesell­schaft, Mün­chen 2019;

Eck­hard Fuhr: „Schle­si­en bleibt mun­ter“, in: Die Welt vom 16.09.2005;

Paul Leon­hard: „Kret­schmers Alp­traum“, in: jungefreiheit.de vom 02.05.2019;

Phil­ip Manow: Die Poli­ti­sche Öko­no­mie des Popu­lis­mus, Ber­lin 2018;

Recher­che Dres­den: „Deutsch­lands Pro­blem­zo­nen“, in: Recher­che D, Heft 6. Chem­nitz 2019, S. 6–19.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (12)

Atz

12. August 2019 10:35

Drei Bundesländer stehen zur Wahl: Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In Brandenburg machen die Wahlkampf schon mit ihrer Gegnerschaft zur AfD, als ob negative Kampagnen funktionieren dürften. Die AfD hatte sie mit Willy Brandt geködert.

Es wird sehr spannend. Eigentlich müsste man erwarten, dass jeder Mandatsträger bundesweit nun diese Wahlkämpfe unterstützt.

Dass in Thüringen die Linke bei 25% liegt, kaum vorstellbar.
http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm

Gegen die Äußerungen Bodo Ramelows gegen Bundespräsident Gauck verblasst einfach alle "Hassrede".

Der_Juergen

12. August 2019 11:25

Keinerlei Kritik an diesem Beitrag von Felix Menzel, sondern nur eine Frage: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass die beiden AFD-Flügel, für die stellvertretend die Namen Höcke und Meuthen stehen, auf Dauer miteinander auskommen werden? Ich persönlich nehme dies nicht an und halte eine Spaltung spätestens in der kommenden Legislaturperiode für wahrscheinlich. Die Zeit arbeitet natürlich für den sozialpatriotischen Flügel, denn mit der unvermeidlichen Verarmung immer grösserer Volksschichten wird das Bedürfnis nach liberalen Rezepten rapid schrumpfen.

RMH

12. August 2019 12:57

Grundsätzlich ein sympathischer Text, wenn dann nicht immer wieder so ein paar Phrasendreschereien dabei wären, die keinerlei neumodischem sog. "Faktencheck" standhalten würden. Beispiel:

"Lebenslang in Watte gepackte Bürger, die beispielsweise durch geerbte Immobilien abgesichert sind, fehlt dagegen vielfach die Phantasie für negative Szenarien."

Über wie viel Prozent der Bevölkerung reden wir hier eigentlich, auf die diese Beschreibung zutreffen könnte?

Wir bewegen uns sicherlich im einstelligen Prozentbereich, also glatt vernachlässigbar. Was nicht zu vernachlässigen ist, ist die Fähigkeit der Bundesbürger zu verdrängen und zu vergessen. Wer bspw. in den 70/ 80er Jahre ne simple Lehrstelle im sog. "Westen" haben wollte, der musste guten Noten haben und durfte dennoch Klinkenputzen, um dann evtl. Gas-Wasse-S... lernen zu dürfen. Und er war stolz darauf, wenn er so eine Lehrstelle bekam. Noch in den 90er Jahren wurden ganze Jahrgänge von Ingenieurabsolventen ebenso zum Klinkenputzen oder zur Umschulung in Sachen Vertrieb, "EDV-Beratung" etc. geschickt (die besten 10 - 20% des Jahrgangs hatte auch damals keine Probleme, einen job zu finden, dass wird aber immer so sein) und heute redet man vom Fachkräftemangel (genau diese Jahrgänge haben es jetzt noch locker 20 Jahre bis zur Rente).

Der Kapitalismus war im Übrigen schon seit langem eine einzige, große Kinderlandverschickung der Akademiker und Fachkräfte aus den kleineren Städten hin zu den Großstädten oder eben da, wo man noch Stellen bekam. Glaubt einer in den neuen Ländern etwa, die ganzen West-Richter/innen und Beamten, über die geschimpft wurde und wird, seien etwa freiwillig in die neuen Länder gezogen?

Wie auch immer, die nicht zu verleugnende sog. "Friedensdividende" fällt erst seit ein paar Jahren an und in vielen Fällen wurde "Oma ihr klein Häuschen" zuvor schon von den Pflegekosten aufgefressen und um den kläglichen Rest streiten sich dann die Erben. Die letzten gut dotierten Lebensversicherungsverträge sind zum großen Teil auch schon ausbezahlt (gerne wird dass dann in eine Wohnmobil investiert, damit man diesem Land möglichst lange den Rücken zukehren kann).

Man fragt sich also, was will mit dem oben zitierten Satz zum Ausdruck gebracht werden?

Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und substantieller und struktureller Not ist Deutschlandweit auffindbar, lediglich seit den Schröderschen Reformen und des (nicht alleine dadurch, aber es war ein kleiner Baustein dafür) seit den 00er Jahren eintretenden kleinen Arbeitsmarkt-Booms scheinen die kleinen grauen Zellen der Menschen in den Vergessens- und Verdrängungs- Modus zu kommen. Von 1995 bis 2006 hatten wir in Deutschland einen Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von stattlichen 6,5% (aktuell 2,5% - das wird aber schneller wieder ansteigen, als es den Damen und Herren in Berlin lieb ist) und das war mitnichten nur alleine dem sog. "Strukturwandel" in den neuen Ländern geschuldet, denn diese Strukturwandel gab es überall in Deutschland, bspw. auch im Ruhrgebiet und unabhängig von Mittel-, Ost und West gibt es auch heute noch in ganz Deutschland Gegenden, die von einem solchen noch oder wieder gebeutelt werden.

"sozialpatriotischen eines Björn Höcke"

Ich erkenne bei Björn Höcke ernsthaft glaubhaft nur eine patriotische Linie - die soziale wirkt doch arg aufgesetzt und den taktischen Überlegungen geschuldet. Sieht man sich seine frühen Reden an, dann ist da auch nichts groß "soziales" im Sinne eine Art von sozialistischer oder linker oder gar sozialdemokratischer Ausgleichs- oder Umverteilungspolitik zu erkennen. Eigentlich war (und ist?) doch Höcke auch eher ein national-liberaler Patriot und deswegen kann er grundsätzlich auch mit Meuthen (ob er das wirklich kann, weiß ich nicht, da ich ja kein Insider bin - die beiden erwecken zumindest nach außen den Eindruck, dass sie schon irgendwie miteinander können).

Ansonsten, interessanter Beitrag, bin gespannt auf den Artikel von Beckamp.

AlexSedlmayr

12. August 2019 15:08

Ein Problem erscheint mir hier mit Blick auf die wirtschaftsschwachen Regionen dennoch nicht zufriedenstellend aufgelöst. Wenn wir sagen wir schöpfen die Gewinne ab, die die Städte aus der vernutzung gemeinschaftlicher Ressourcen ziehen (Berlin bspw. das massiv Geld über den Länderfinanzausgleich aus der Peripherie saugt um den Ausbau und Unterhalt seiner Infrastruktur zum Wohlleben der dortigen Anywheres zu finanzieren) bleibt das Problem welche Unternehmen durch Erhalt und Ausbau der Struktur in der Peripherie angelockt werden sollen, immer noch aktuell. Die Sonderwirtschaftszone nähert sich dem gleichen Problem, der Standortattraktivität nur von einer Richtung, der fiskalischen, nicht der infrastrukturellen (obwohl beide eine Rolle spielen, denn staatliche Wertabschöpfung ist mindestens ebenso wichtig wie eine schnelle Transportanbindung, Energiesicherheit und Zugriff auf fähige Arbeitskräfte) weil sich daraus ergibt, was unterm Strich noch vom Umsatz verbleibt. Infrastruktur ist also nur mal die ohne notwendige Basis, die staatliche Abschöpfung (oder Regulation) die Kür.

Also selbst wenn wir jetzt Autobahnen und modernste Strom- und telekommunikationsnetze in die Lausitz legen, bleibt die Frage danach was sich dort ansiedeln soll in gleicher Weise präsent wie bei dem fiskalischen Vorschlag der AfD. Nur als kleine Anmerkung.

Ansonsten sehe ich genauso, dass die AfD dringend dazu angehalten sollte die Region als Wiege ihres hauptsächlichen Wählerpotenzials, der Somewheres, zu stärken und dabei auf Wirtschaft und Infrastruktur setzt.

Einer der Gründe dafür, dass die Regionen vor allem im Südwesten ein schweres Pflaster für die AfD sind, dürfte auch monetär daran liegen, dass dort die Peripherie durch die Existenz vieler Subzentren mit industrieller Produktion (Mittelstädte mit großen Betrieben) profitiert. Diese strahlen als Arbeitgeber auch in das Umfeld ihrer jeweiligen Produktionsstandorte aus und der Steuerfluss erlaubt Kreisen und Kommunen Infrastruktur in Stand zu halten und ein attraktives Leben auch auf dem Land zu ermöglichen. Dazu kommt die durch das produktiv generierte Vermögen mögliche Erweiterung von Handel und Dienstleistungsgewerbe.

Ostdeutschland teilt sich (und deshalb sind die Sorgen der Lausitz nur allzu berechtigt) genau eine Geschichte: der Wegfall des Großteils seiner industriellen Basis nicht wie im Westen schleichend sondern auf einen Schlag in der Fläche, wodurch Mittelstädte, sofern sie nicht touristisch bedeutsam sind wie Wittenberg, jegliche Funktion verloren haben.

Aufgrund der höheren Bevölkerung konnte sich eine schmale Dienstleistungsbasis erhalten, die sich allerdings mit Bevölkerungsschrumpfung und zunehmenden Vermögensabbau in der Stadt immer weiter verschmälerte und damit die Region noch undynamischer und damit noch unattraktiver machte und weitere Abwanderung auslöste usw. usf.

Produzierendes Gewerbe und vor allem produzierender Mittelstand müssten her und die Frage bleibt, woher nehmen und wie steuern, dass sie sich nicht an wenigen ohnehin großen Zentren wie Leipzig oder Dresden ansiedeln, sondern eine Wiederbelebung der Mittelstädte und damit deren belebende wirkung für die sie umgebende ländliche Peripherie wieder entfalten können.

Fakt ist: Die Großstädte selbst die stabilen im Osten werden immer dazu neigen den Typus von der Scholle entfremdeten BEssermenschen hervorzubringen, der um die Grundlagen seines in jeder Weise abhängigen Lebens nicht weis und sich einbildet, dass deshalb das wahre Leben in einem globalen Äther stattfände, dessen immer gleiche (und sich immer ähnlicher werdende) städtische Nabel als Oasen und Weidegründe in einer Art Globalnomadentum dienen und deren Ressourcen entweder aus dem Nichts heraus natürlich generiert werden oder dessen Erzeuger im Grunde Nomaden sind wie man selbst, die sich aus der Unzähligkeit aller globalen Möglichkeiten Lebensentwürfe zu gestalten individuell dazu entschieden hätten, ohne das es gänzlich andere Bindungen traditioneller oder emotionaler art gibt, die denjenigen an seine Scholle binden und ihm deshalb de facto nicht die Möglichkeit offen lässt, bei Nichtgefallen eine andere Oase aufzusuchen, wenn ihm das hiesige eingeschleppte Klientel nicht gefällt.

Ratwolf

12. August 2019 20:23

"Zum jetzigen Zeitpunkt befindet sich die AfD in der komfortablen Situation, lediglich die Positionen des gesunden Menschenverstandes verteidigen zu müssen, um das Terrain der ehemaligen Volksparteien erobern zu können.

Auf lange Sicht reicht diese defensive Strategie freilich nicht aus, weshalb die Arbeit am inhaltlichen Fundament intensiviert werden sollte."

Das denke ich auch immer. Die Alt-Parteien können mit allen Forderungen der AfD nachziehen, AUSSER:

NATO, Auslandseinsätze, Aggression gegen Russland.
Also die Themen der wirklichen Herren im Hintergrund.
Der westlichen Oligarchen.

Fredy

12. August 2019 22:54

Kretschmer ist kein schlechter Kerl. Der gibt sich Mühe, meint es gut und ist fleißig. Mit dem könnte man sich arrangieren. Charisma hat er keins. Bräuchte er auch nicht, wenn er da geblieben wäre, wo er hingehört: Als zweiter Mann. Macher und Organisator. Da war er richtig.

Die Menschen in Görlitz mögen anders sein. Aber eben alle, nicht nur die, die AfD wählen. Die Anderen, die BRDler, sind auch Betonköpfe und machen normalen Menschen das Leben schwerer als irgendwo anders. Und gerade diejenigen Bürger haben in Görlitz das Sagen. Kein Wunder tut sich in Görlitz nichts zum Guten. Und wenn, dann geht's abwärts. Aber zumindest in denkmalgeschützten Kulissen, mit schönen Worten, guten Absichten und hollywoodesken Bildern. Görlitz ist tot. Wer es nicht glaubt soll hinziehen. Und die Masse der AfD-Wähler sind eben doch die Verlierer und ichbezogene Jammerossis.

Laurenz

13. August 2019 01:37

Mir gefällt der Artikel sehr gut, auch eine Portion gesunder Zynismus a la Wallasch ist dabei, das hält den Leser wach. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Kretschmer noch einer der verständigsten CDUler ist, aber keiner ist eben besser als sein Chef.

@Atz .... die AfD hat ganz professionell das volkseigene Wissen über Willy Brandt genutzt. Daß es mit dem volkseigenen Wissen nicht weit her ist, und Willy Brandt der übliche spezial-demokratische Verräter an seiner eigenen Klientel war, wird wohl schwer vermittelbar bleiben.

@Der_Juergen ... ich kann genauso wenig hellsehen, wie Sie. Aber in der Analyse des menschlichen Charakters bleiben Ihre Kassandra-Rufe unwahrscheinlich im Resultat. Auch in der AfD machen viele Westler im aktuellen Osten Karriere, Herr Höcke ist keine Ausnahme. Die Wirtschaftsliberalen in der AfD schöpfen ihre Sicht der Dinge meist aus dem eigenen Lebensmodell, und die wenigsten waren Berufspolitiker, die gewohnt sind, zu schauen, wo ihre Wähler sind. Geben Sie doch den Wirtschaftsliberalen die Zeit über sich selbst hinaus zu verstehen und sich zu professionalisieren. Entscheidend ist die reine Machtfrage. Hinzu kommt, daß wir mittlerweile in einem italienischen 6-Parteien-System angekommen sind, von dem 5e sich in einer Nationalen Einheitsfront zusammengeschlossen haben, von daher gilt die oder wir. Die AfD-Liberalen, wie Herr Meuthen spüren doch am eigenen Leib, daß ihr Liberalismus sie keinen Millimeter mehr weiter bringt.

@RMH .... Sie haben leider Unrecht und Herr Menzel liegt richtig. Natürlich sind es nur 8% der Bevölkerung, obere Mittelschicht, die über 40% des Steueraufkommens erwirtschaften. Aber faktisch leben (im Westen) die wenigsten aktuellen Rentner alleine von ihrer Rente, das greift sogar noch tiefer. Auch die meisten Akademiker und Werktätigen unter 50 Jahren leben ihren Lebensstil durch Zuwendungen der über 50jährigen. Zumindest alle diejenigen, die in der Bonner Republik groß wurden, leben heute von der Substanz der 60er und 70er, ob nun frühere Betriebsrenten, Immobilien oder sonstige vermögenswirksame Modelle. Das finden wir in den Neuen Ländern so nicht vor. Hier wurde sogar die noch vorhandene Substanz durch die Treuhand-Mafia in den Westen transferiert. Ihre, RMH, in den mitteldeutschen Raum versandten Beamten und Richter müssen doch gar nicht Omas kleines Häuschen verhökern, da zahlt die Hälfte der Pflegekosten die Beihilfestelle, ein starkes Argument, sich unter die Berliner Knute zu begeben.
Der Unterschied zwischen Herrn Höcke und Herrn Meuthen liegt im Bewußtsein. Beide sind nach aktueller Rechtslage nicht auf liberale oder asoziale Rentenversicherungssysteme angewiesen. Herrn Meuthens Welt bestand bisher im Umgang mit Studenten, Seinesgleichen und Seiner Familie. Aber nach Seinen eigenen Worten drängte Ihn nicht Sein Forschungsauftrag, Seine denkende Überzeugung in die Politik, sondern die emotionale Sorge um Seine Enkel. Geben Sie Herrn Meuthen doch Zeit Seine soziale Blase zu verlassen, er ist bereits in wenigen Jahren politisch weiter marschiert als in Seinem ganzen Leben zuvor. Sie selbst, RMH, sind doch selbst so belesen, um Sich daran zu erinnern, daß die Weimarer Republik 14 Jahre brauchte, um von links nach rechts zu rutschen, ähnlich wie Horst Mahler zu weit gerutscht, aber das passiert(e) so gut wie nie umgekehrt.

Herr Höcke hingegen hatte mit Schülern zu tun, da ist das soziale Spektrum doch wesentlich weiter gefaßt, als an der Uni. Und Herr Höcke ist, im Gegensatz zu Herrn Meuthen, als "Rechter" geprägt. Die meisten Rechten empfinden über ihr eigenes "ich" hinaus die Volksseele in sich, Sie und ich machen da keine Ausnahme. Ob man das als Narzißmus bezeichnet oder nicht, ändert nichts an der Tatsache an sich. Wenn Sie eine der Höcke-Dokus sehen, bemerken Sie das. Wenn Sich Herr Höcke zB beim Wandern in der Öffentlichkeit bewegt, ist Er als Volkstribun authentisch. Und Sie können davon ausgehen, daß Herr Höcke, über Seine privaten Interessen hinweg, weiß, daß Er nur glaubwürdig bleiben kann, wenn Er Seine eigenen Privilegien als Beamter abschafft oder zumindest relativiert. Denn die Masse der Politiker hat den Hang, nach Erringung eines Mandats, diesen Sachverhalt zu vergessen. Einer der wenigen wirklichen System-Revolutionäre in der deutschen Nachkriegspolitik war ein früherer Kampfgenosse Horst Mahlers, das frühere Grün- und spätere SPD-Mitglied Otto Schily (*1932), der lebt sogar noch. Herr Schily wurde als Bundes-Minister des Inneren komplett von seinen Ministerial-Beamten geschnitten, gemobt, weil er das Beamtensystem komplett reformieren wollte, etwas das immer noch ansteht. Otto Schily hätte noch etwas mehr Zeit gebraucht, um sein Werk zu vollenden. Die erste Amtshandlung seines Nachfolgers, Wolfgang Schäuble, war gegenüber dem Beamtenbund zu versichern, daß alles beim alten bliebe. Ich erwähne das deswegen, weil auch Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes mit mehr als 10 Jahren Dienstzeit fast Beamten-gleiche Privilegien erhalten, was eine feudale Staatsdiener-Schicht erschafft, die über dem Souverän steht. Lange hält das Land eine solche soziale Schieflage nicht mehr aus. Österreich und die Schweiz haben auch einen Weg des Ausgleichs gefunden, aber weder die Linke noch die SPD sprechen wirklich darüber. Und auch der Meuthen-Flügel wird sich dieser Frage stellen müssen. Frau Simonis scheiterte in Schleswig-Holstein an der Frage des Nicht-Verbeamtens wegen ihres prekären Landeshaushalts. 

@AlexSedlmayr .... Großprojekte müssen durch politischen Willen geschaffen werden. Die Berliner Republik hat aber schon lange jene Beamte eingespart, die zu einer solchen Planung fähig waren. Mittlerweile hat man alles in privat-wirtschaftliche Hände gelegt, was den Untergang der Staates als solchen mittelfristig erzwingt.

@Ratwolf ..... Zitat- NATO, Auslandseinsätze, Aggression gegen Russland. -Zitatende    Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir dran sind. Als Oppositionskraft können wir die Themen jedenfalls gut nutzen. Und übrigens, hier schert die Linke aus und ist gleichauf. 

RMH

13. August 2019 10:43

"Auch die meisten Akademiker und Werktätigen unter 50 Jahren leben ihren Lebensstil durch Zuwendungen der über 50jährigen. Zumindest alle diejenigen, die in der Bonner Republik groß wurden, leben heute von der Substanz der 60er und 70er, ob nun frühere Betriebsrenten, Immobilien oder sonstige vermögenswirksame Modelle."

@Laurenz,
das ist ihre subjektive Einschätzung - vermutlich kennen Sie ein paar solcher Leute und weil Sie selber nichts bekommen, stößt dann das bei Ihnen besonders auf.

Meiner Meinung nach entspricht dies nicht der tatsächlichen Lage bzw. betrifft das vor allem die von Ihnen genannten 8%, ggf. noch ein paar prozente mehr. Nicht jeder wohnt zudem in einer der westdeutschen Großstädte, wo eine Immobile in der tat einem von heute auf morgen zum Millionär machen kann.

Betriebsrenten in nennenswertem Umfang - auf die dann übrigens auch volle Krankenkassenbeiträge zu zahlen sind - haben vor allem Personen, die in der sog. Großindustrie tätig waren, erhalten und diese "Großindustrie" hat diese Programme schon vor Jahrzehnten massiv ausgedünnt. Die letzten, die hierüber nennenswerten Beträge erhalten, dürften so vor ca. 10 bis 15, eher 20 Jahren in Rente gegangen sein. Seitdem verringert sich dieser Zusatz kontinuierlich und wer bei einem Mittelständler oder Kleinbetrieb gearbeitet hat, bekommt in der Regel gar nichts, da die solche Zusagen gar nicht gemacht haben bzw. machen konnten. Nicht umsonst versucht die Politik durch alle möglichen Programme, diesen nicht sozialversicherungsrechtlichen Teil der Altersversorgung irgendwie am Leben zu halten, auszubauen etc. - in Zeiten der 0 Zinsen natürlich ein schweres Unterfangen.

Im Übrigen taugt das Thema Renten und Transfers von Alt nach Jung nicht für eine typische West-Ost-Neid-Diskussion. Gerade der sog. "Osten", besser Mitteldeutschland, wäre vermutlich ohne die Rentenleistungen an die dort in der Regel beiden vormals Erwerbstätigen (es haben schließlich dort Männer und Frauen gearbeitet, nicht umsonst haben die Rentnerinnen dort im Schnitt fast das Doppelte im Vergleich zu West-Rentnerinnen) eines Ehepaars bei über Jahre gleichbleibend niedrigen Wohnungskosten (steigt ja auch erst in den letzten Jahren) und die dadurch auch möglichen Zuwendungen von Alt an Jung erst gänzlich ausgeblutet. Die Kaufkraft der Ostrentner hat Mitteldeutschland über Jahre maßgeblich mit am Leben gehalten.

Im Osten hat man höhere Sozialversicherungsrenten als im Westen!

Und nun zur Ergänzung meine subjektive Sicht, die ich auch noch dagegen halten darf:

Ich könnte meinen Schreibtisch voll machen mit Fällen, wo Leute zwischen 50 und 65 kommen, die sagen, jetzt habe ich meine Kinder groß gezogen, diesen eine Berufsausbildung/ Studium ermöglicht und jetzt werde ich via Unterhaltspflicht für die Pflege meiner Eltern herangezogen, hört das denn nie auf mit den Unterhaltsleistungen? Oder: Meine Eltern/Großeltern haben mir vor 8 Jahren 50tsd Euro fürs Eigenheim geschenkt - jetzt soll ich das wegen der Pflege und der damit entstandenen Bedürftigkeit ans Amt zahlen ... Die meisten zahlen und schweigen, denn darüber jammert man nicht, es sind ja die eigenen Angehörigen.

Insgesamt hat sich hier aber enormer sozialer Sprengstoff gebildet. Evtl. auch einmal ein Thema für die AfD, wenn sie sozialer werden will? Das totale Versagen der Pflegeversicherung, oder wie die Leute von Blüm & Co. verarscht wurden ... das ist ein Thema, dass wie geschrieben, mehr oder weniger totgeschwiegen wird.

Laurenz

13. August 2019 12:36

@RMH .... Sie täuschen Sich gewaltig, RMH, ich nenne den Erwerb 3 privat-wirtschaftlicher Renten, neben der gesetzlichen Rentenversicherung mein eigen, und ich habe auch noch nicht geerbt, was ich aber erst im Falle des Falles kalkuliere. Nach der Verminderung der Rente durch Müntefering, im wesentlichen durch Steuerpflicht, und einem niedrigeren Renten-Satz, hat es das Finanzamt bis heute nicht geschafft, alle Rentner rückwirkend (10 Jahre Verjährungsfrist) zu besteuern, aber zumindest hat man die erwischt, bei denen es sich lohnt. Die schleppende Bearbeitung durch das Finanzamt hatte den Vorteil, daß sich keine politische Rentner-APO bilden konnte. Hier ein wissenschaftlicher Beitrag, der die Steuerlast in Deutschland erklärt, und Sie werden mir sicherlich nachsehen, daß die Information aus meiner Erinnerung um 2% abweicht, kann aber auch an der jeweiligen Studie liegen. Also nichts mit meiner subjektiven Einschätzung. Sie, RMH, schätzen subjektiv ein und haben nicht recherchiert. https://www.wz.de/politik/inland/haelfte-der-rentner-bekommt-unter-800-euro_aid-25240759 Sie sehen, nur diejenigen sind betroffen, die keine zusätzlichen Mittel aufweisen können. Die Wohneigentum-Quote liegt knapp über 40%.
Die von Ihnen angesprochene Unterhalts-Frage im Sozial-Recht für Eltern, bei Ausfall der Eltern, für Groß-Eltern ist uralt. In der rot-grünen Regierungsphase wurden mal Anstalten gemacht, hier etwas zu ändern, weil natürlich auch Abgeordnete der deutschen Bundestages davon betroffen waren, aber man konnte sich nicht durchringen. Die installierte Pflegekasse steht meist kurz vor dem Bankrott. Und Sie, RMH, wissen doch haargenau, daß eine Schenkung/Erbschaft über 10 Jahre zurück liegen muß, damit sie rechtsgültig wird. Das ist, mit Verlaub, nichts neues. https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/pflegeantrag-und-leistungen/elternunterhalt-wann-muessen-kinder-fuer-pflegebeduerftige-eltern-zahlen-28892
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/unterhalt-in-der-pflege-wann-zahlen-kinder-fuer-ihre-eltern-1.4219104
Nur Beamte ersparen Ihren Kindern meist Unterhaltsverpflichtungen, da die Hälfte der Pflege-Kosten durch Beihilfe und die andere Hälfte durch 70-72% des letzten Brutto-Lohns an Beamten-Pension gedeckt ist. Die Debatten von Frau Nahles über 46 oder 48% Rentensatz in der gesetzlichen und fremd-belasteten Rente entbehren nicht einer gewissen spezial-demokratischen Lächerlichkeit. Die Debatte ist angesichts des Öffentlichen Dienstes jenseits einer Absurditäts-Grenze. Und Sie selbst, RMH, haben die vielen ausgelaufenen Lebensversicherungen benannt. Die noch laufenden wurden zwar gesetzlich in der Rendite gekürzt, was dazu führt, daß keine neuen mehr abgeschlossen werden, wurden aber bisher immer ausbezahlt.
https://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/guenstige-kosten-locken-kampf-der-altersarmut-immer-mehr-deutsche-rentner-ziehen-ins-billige-ausland_id_10178751.html
https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61848/rentner
Das grundsätzliche Rentenproblem basiert auf der Währungsfrage und des Währungs- Außenwerts. Aufgrund der Abstraktion versteht das aber quasi keiner.

RMH

13. August 2019 15:33

@Laurenz,
ich sehe jetzt eigentlich keine großen Widersprüche zu meinen Ausführungen - insbesondere nicht dazu, dass es eben so gut wie keine Betriebsrenten für normale Arbeitnehmer mehr gibt (Ausnahme: Vorstände und echte leitende Angestellte etc. - die lassen sich nach wie vor ordentliche Altersbezüge von der Gesellschaft zusagen).

Ich beackerte im Übrigen Ihre These, die offenbar auch zum Teil die These von Herrn Menzel zu sein scheint, dass im ach so dekadenten Westen die Leute in erster Linie jegliches bisschen mehr als die nackte Butter auf dem Brot dem Transfer von Alt zu Jung bzw. Erbschaften zu verdanken haben. Dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt, habe ich ja nie bestritten, ich habe lediglich bestritten, dieses Beispiel zur Phrase werden zu lassen oder gar zu einem generell üblichen, fast allgemeingültigen Phänomen zu erklären (und schon gleich gar nicht zu einem Mehrheits-Phänomen). Und dafür sind gerade ihre letzten Ausführungen kein Widerspruch. Im Übrigen interessiert es bei dem Thema nicht, wie Sie selber vorsorgen, sondern ob Sie selber Teil des von Ihnen proklamierten angeblichen West-Phänomens des dauerhaften Pamperns durch Eltern und Großeltern sind.

Dass die Unterhaltspflichten bzw. die Rückforderung von Schenkungen bei Vermögensverfall/Bedürftigkeit ein alter Hut sind, ist wiederum wirklich uralt, nämlich ungefähr so alt, wies das BGB gibt (dies gilt bekanntermaßen seit 1900). Das sozialpolitisch Fragwürdige ist doch, dass die u.a. auch zur Abhilfe dieser Probleme geschaffene Pflegeversicherung dem gerade nicht abhilft, da man hier auch auf Biegen und brechen die Beiträge zu dieser Versicherung niedrig halten will (steigen tun sie trotzdem stetig).

Polemisch gesagt, wer Sozialfall sein Leben lang war, liegt auf derselben Pflegestation wie der normale Rentner, und sollten die Kinder des Sozialfalls wiederum Sozialfälle sein, müssen diese nichts zahlen während die Kinder, die der Rentner treu-brav zu guten Bürgern und Steuerzahlern herangezogen hat, jetzt auch die Tasche öffnen müssen.

PS: Bitte nicht Beamte in diesen Topf werfen. dies sind ein gesondertes, spezielles Thema. Diese werden zwecks Erhaltung der bedingungslosen Loyalität zu jedweder Regierung in einer fast schon grotesken Art und Weise durch den Staat bzw. jedweden Regimes alimentiert und zwar nicht unbedingt durch die Höhe der monatlichen Bezüge sondern vor allem durch Altersbezüge, Beihilfen aller Art etc. Das dieses - für den Bürger und Steuerzahler extrem teures und riskantes - System sehr erfolgreich ist, zeigt die konstante und nach wie vor gegebene Loyalität der deutschen Beamten durch alle Systemwechsel hindurch.

Laurenz

14. August 2019 11:35

@RMH ... in der Debatte mit Ihnen sah ich mich gezwungen, mehr ins langweilige Detail zu gehen. Denn Sie waren es, der meine persönliche Situation als Mutmaßung zu meiner Haltung einbrachte. Sonst stimme ich Ihrer letzten Schlußfolgerung zu, bis auf diese hier.

Zitat-PS: Bitte nicht Beamte in diesen Topf werfen. dies sind ein gesondertes, spezielles Thema. -Zitatende.

Hier liegen Sie in meinen Augen, vor allem Wahl-taktisch, komplett falsch. Bis auf ein paar Militärs und Polizisten wählen uns Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes eh nicht. Da können Sie Sich auf den Kopf stellen, es bringt nichts. Wir können aber viele Angehörige des Souveräns gewinnen, wenn wir alleine schon die Civey-Umfragen des Spiegleins analysieren. Nur die Profiteure des Versorgungssystems von Beamten und des öffentlichen Dienstes argumentieren wie Sie. Das ist auch keine Debatte, die nur die AfD betrifft, sondern eine gesamtgesellschaftliche. Einer meiner besten Freunde ist kommunalpolitischer CDU-Fraktionsvorsitzender. Er läßt keine parteiinterne Renten-Debatten durch eingeladene CDU-Landes- oder Bundes-Parlamentarier zu, wenn diese elementare Frage ausgeklammert wird, wozu besagte Parlamentarier neigen. Österreich und die Schweiz sind uns nicht so kultur- oder gesellschaftlich fremd, daß diese epochale Frage dort nicht zutreffen würde. Aber die dortigen Volksparteien hatten sich, wohl aus Existenznot, zur Lösung dieser Frage aufgerafft. Und das ist mit eine Erklärung dafür, warum es in Deutschland auch keine Volksparteien mehr gibt. Und wenn wir eine werden wollen, müssen wir uns mit dieser Frage vordergründig beschäftigen.

RMH

14. August 2019 14:27

@Laurenz,
nur zur Klarstellung: Ich befürworte das bei uns sich breit gemachte und ausgeuferte Alimentierungssystem für Beamte nicht. Im Hinblick auf die gemutmaßten Wahlneigungen teile ich ihre Auffassung ebenfalls.

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.