Nun melden sich zwei direkt Beteiligte aus Ost und West zu Wort. Wir geben zunächst den Beitrag von Felix Menzel, Dresden, wieder, bevor Roger Beckamp, MdL aus Nordrhein-Westfalen, seine Sicht der Dinge schildert.
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Wenn am 1. September die Erststimmen im sächsischen Wahlkreis 58 ausgezählt werden, dürfte ganz Helldeutschland vor dem nächsten Rechtsruck zittern.
Denn sollte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hier in Görlitz abermals verlieren, ist höchst ungewiß, wer die Resterampe-Koalition der Altparteien im Freistaat anführen soll. 2017 flog er bereits aus dem Bundestag. Tino Chrupalla eroberte das Direktmandat und wird inzwischen als Nachfolger von Alexander Gauland als AfD-Parteivorsitzender gehandelt. Kretschmer erhielt derweil quasi als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme das Amt des Ministerpräsidenten angetragen, nachdem sich Stanislaw Tillich nach über neun Jahren zurückzog, um der CDU in Sachsen einen Neustart zu ermöglichen.
Geplant war, die Strategie der ÖVP mit Sebastian Kurz nachzuahmen. Ein junges Gesicht, Bürgerbeteiligung: Kretschmer engagierte sogar die Werbeagentur von Kurz, um dessen Erfolgsgeheimnis zu kopieren. Doch allem Anschein nach mißlang dies. Bei den Europa- und Kommunalwahlen im Mai 2019 konnte die AfD ihre Stärke als neue Volkspartei in Sachsen erneut unter Beweis stellen.
Besonders bitter für Kretschmer: In seiner Heimatstadt Görlitz gewann Sebastian Wippel von der AfD die erste Runde der Oberbürgermeisterwahl deutlich mit 36,4 Prozent. Als neues Stadtoberhaupt konnte er drei Wochen später nur durch ein Bündnis verhindert werden, das von ganz Linksaußen bis zur CDU reichte und zu dessen Unterstützung Filmgrößen auf den Plan traten. Kretschmer muß nun zur Landtagswahl gegen eben diesen Wippel antreten, der im zweiten Wahlgang zur Oberbürgermeisterwahl immerhin 44,8 Prozent der Görlitzer von sich hatte überzeugen können.
Da zur Landtagswahl die einfache Mehrheit reicht und auch die anderen Parteien Bewerber ins Rennen schicken, wird es für Kretschmer sehr eng. Seit anderthalb Jahren befindet er sich im Dauerwahlkampf. Er fehlt bei keinem Firmenjubiläum, gilt laut Umfragen als sympathischster Politiker des Freistaates, wuchert damit, daß er 17 Milliarden Euro für den Strukturwandel der Lausitz organisiert habe, und konnte Innenminister Horst Seehofer einige Bundespolizisten abringen, die an der Grenze zu Polen für mehr Sicherheit sorgen sollen.
In der Europastadt Görlitz etwa kommt es nämlich zu doppelt so vielen Straftaten wie im Rest von Sachsen. Selbst im Vergleich mit Bautzen sind es 42 Prozent mehr. Zeitweilig lag die Zahl der Autodiebstähle 507 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Trotzdem ist die Polizei im Landkreis Görlitz spärlicher besetzt als im Leipziger Land, das keine Außengrenze hat. Es ist daher keine Überraschung, daß sich die Bürger an der Grenze für eine Partei entscheiden, die Grenzkontrollen fordert und eine Hundertschaft in Görlitz ansiedeln möchte, um das sächsische Ost-West-Gefälle bei der Polizeipräsenz zu beseitigen.
Ähnlich desaströs sind die Versäumnisse bei der Infrastruktur: Seit 40 Jahren ist die Bahnstrecke Dresden-Görlitz für die Elektrifizierung vorgesehen. Geschehen ist bis zum heutigen Tag nichts, während es die Polen geschafft haben, den Abschnitt bis Breslau auf Vordermann zu bringen. Wer mit dem Zug von Dresden nach Breslau reisen will, muß deshalb ein- bis zweimal umsteigen – an sich kein Drama, aber ein Mosaikstein.
Und noch einer: Als im Jahr 2017 die Schließung des Görlitzer Turbinenwerks von Siemens drohte, fiel dem Vorstandsvorsitzenden der Aktiengesellschaft, Joe Kaeser, an Argumenten für den Erhalt des Standorts zunächst nur ein, daß der AfD womöglich bei einer höheren Arbeitslosigkeit weitere Wähler regelrecht zugetrieben werden könnten. Genauso wie die Mahnung aus Hollywood im Oberbürgermeisterwahlkampf dürften solche Äußerungen bei den Bürgern der ehemaligen DDR das Gegenteil des Intendierten bewirken, da sie aus historischer Erfahrung allergisch auf Bevormundungen reagieren.
Die Region um Görlitz pflegt eine ganz spezielle Abneigung gegen Anpasser und vorauseilenden Gehorsam. Denn hier treffen das sächsische Selbstbewußtsein, es „denen da oben“ zu zeigen, und der „dickschädelige Oppositionsgeist“ (Eckhard Fuhr) der Schlesier aufeinander. Die Grenze zwischen Sachsen und der preußischen Provinz Schlesien verlief bei Reichenbach (Oberlausitz). Bis hierher reicht auch der Wahlkreis 58. Ein smarter Wählerversteher wie Kretschmer, der allen das erzählt, was man hören wollen könnte, scheint in diesem Landstrich ein Fremdkörper zu sein. Ein „typischer Görlitzer Dickschädel“, wie die Junge Freiheit Wippel charakterisierte, dürfte eher den Nerv der Menschen treffen, auch wenn er sich einige Dinge in den Kopf gesetzt hat, die fast überall auf Ablehnung stoßen. So erging es Wippels Idee, den nahe der Stadt gelegenen Berzdorfer See aus marketingstrategischen Gründen in „Görlitzer Meer“ umzutaufen.
Was läßt sich nun aus den besonderen Umständen in Görlitz lernen?
Es gibt Regionen in Deutschland, die für Protest besonders empfänglich sind. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem lautstarken Protest, der etwa in Chemnitz aufgrund einer starken rechtsextremen Szene stets an der Schwelle zur gewalttätigen Eskalation stand, und einem vergleichsweise ruhigen Protest wie in Görlitz, wo selbst auf dem Höhepunkt der Asylkrise nur einige hundert Demonstranten auf die Straße gingen.
Dies läßt sich im konkreten Fall auf die „Mentalität des Mich-versteht-ja-sowieso-niemand-Rebellen“ zurückführen, dem dennoch „jede Obrigkeit zunächst einmal ein Angriff auf die eigene Besonderheit ist“, wie es Eckhard Fuhr in Bezug auf die Schlesier beschrieb. Da die exponierten Protesthochburgen bekannt sind, steht die patriotische Opposition vor der Herausforderung, in Ost und West jene Orte und Gegenden zu identifizieren, von denen eine ähnliche Signalwirkung wie von Görlitz ausgehen kann.
Die AfD wird nicht per se von „abgehängten“ Bürgern gewählt. Die aktuelle Arbeitslosigkeit hat nur einen geringen Einfluß auf das Wahlverhalten. Interessanterweise fiel dem Bremer Politologen Philip Manow bei seiner Untersuchung der „politischen Ökonomie des Populismus“ aber auf, daß es sowohl in Ostdeutschland als auch im Westen einen Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit des Jahres 2000 gibt. Das heißt: AfD-Wähler haben vermutlich biographisch bedingt eine größere Sensibilität für die Schattenseiten und Gefahren des Lebens.
Mit Blick auf Görlitz ist dieser Befund aufschlußreich: In den ersten Jahren nach der Deutschen Einheit verlor die Stadt überdurchschnittlich viele fähige Köpfe, weil diese nur in Dresden, Bayern oder Niedersachsen eine Arbeit fanden. Zugleich dürfte fast jede in der Heimat gebliebene Familie mit Arbeitslosigkeit in Berührung gekommen sein. Diese Erfahrungen machen wachsam für Fehlentwicklungen. Lebenslang in Watte gepackte Bürger, die beispielsweise durch geerbte Immobilien abgesichert sind, fehlt dagegen vielfach die Phantasie für negative Szenarien.
Die Beobachtungen von Manow legen sicherlich die Schlußfolgerung nahe, mit einem solidarischen Patriotismus auf die Abstiegsängste der Mittelschicht reagieren zu müssen, weil dies den größten Erfolg verspricht. Von diesem Standpunkt aus ist es bekanntlich nicht weit bis zu parteiinternen Auseinandersetzungen, in denen sich die eher freiheitliche Ausrichtung eines Jörg Meuthen mit der sozialpatriotischen eines Björn Höcke reibt. S
ebastian Wippel indes hat sich dem Volk als „Nationalliberaler“ vorgestellt, und auch ein Tino Chrupalla ist Vertreter einer energischen Mittelstandspolitik, die früher in der FDP nicht negativ aufgefallen wäre. Dies sieht eher nach einer Vermittlung beider Stränge aus.b Vielleicht ist beim Bürger diese Detailunterscheidung zwischen liberalen und sozialen Patrioten auch überhaupt nicht angekommen. Für die AfD ist dieser Umstand ideal: Er erlaubt, diejenigen Wähler aus der Mitte der Gesellschaft einzusammeln, die enttäuscht sind, weil die CDU nicht mehr konservativ ist, und zugleich diejenigen früheren SPD-Anhänger, die sich mehr soziale Gerechtigkeit wünschen, da ihnen die Großmutter im Pflegeheim mehr am Herzen liegt als der 22-jährige, illegal eingereiste Wirtschaftsmigrant.
Zum jetzigen Zeitpunkt befindet sich die AfD in der komfortablen Situation, lediglich die Positionen des gesunden Menschenverstandes verteidigen zu müssen, um das Terrain der ehemaligen Volksparteien erobern zu können. Auf lange Sicht reicht diese defensive Strategie freilich nicht aus, weshalb die Arbeit am inhaltlichen Fundament intensiviert werden sollte.
Können die alten Volksparteien mit einem Sebastian Kurz- oder Emmanuel Macron-Double wieder reüssieren? Angesichts der fehlgeschlagenen Inszenierung von Michael Kretschmer ist das nahezu ausgeschlossen. Solche Personen mögen in Sympathiewertungen vorne liegen. Vielleicht gelingt es ihnen auch hier und da, ein unerwartetes Direktmandat zu holen, aber die erfolgte Entkernung des Programms ihrer Parteien können sie nicht rückgängig machen.
Von dieser Entkernung können neue, alternative Parteien besonders in Regionen profitieren, die jahrzehntelang benachteiligt wurden. Das entspricht der demokratischen Logik: Wo die Regierung versagt, muß die Opposition als Nächstes ran. Für die Lausitz trifft dies in besonderem Maße zu, da nicht nur der Aufbau Ost suboptimal verlief. Vielmehr wird ihr mit dem Kohleausstieg gleich noch ein zweiter Strukturwandel zugemutet. Wie dieser bewältigt werden soll, ohne eine De-Industrialisierung zu riskieren, weiß weder die Regierung noch die patriotische Opposition.
In ihrem Regierungsprogramm fordert die AfD zwar die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen, kann jedoch nicht benennen, welche wachstumsstarken Branchen bzw. Unternehmen sie damit aus jeweils welchen Weltgegenden anziehen will. Irland hat Ende des 20. Jahrhunderts mit einer Sonderwirtschaftszone sehr erfolgreich amerikanische IT-Konzerne angeworben. Aber wer soll in die Lausitz kommen? Die Chinesen? Und sieht so patriotische Politik aus?
Eher nicht, und deshalb sollte sich die Partei nach Alternativen umsehen. Orientieren könnte sie sich dabei am Oxford-Ökonom Paul Collier, der die geographische Spaltung über die Abschöpfung der Agglomerationsgewinne überwinden will. Sein Ansatz beruht auf der Feststellung, daß die hohe Produktivität in den Großstädten zu einem wesentlichen Teil das Resultat vorheriger, kollektiver Investitionen in die Infrastruktur sei. Hochqualifizierte Singles mit geringem Wohnraumbedarf sind die Nutznießer dieser Konstellation, da Familien ihr Einkommen zur Bezahlung teurer Immobilien einsetzen müssen.
Um diese Ungerechtigkeit zwischen Stadt und Land sowie innerhalb der Metropolen zu beseitigen, will Collier die kinderlosen Besserverdiener über eine zusätzliche Steuer zur Kasse bitten. Die Einnahmen sollen in „abgehängte Städte“ und Regionen fließen, wo sie benötigt werden, um aus den Problemzonen wieder „Cluster produktiver Arbeit“ zu machen. Wer diese Idee ablehnt, weil die Steuerbelastung in Deutschland sowieso schon immens ist, sollte über eine regional ausdifferenzierte Einkommensteuer nachdenken.
Über ein Rabattsystem könnte dabei eine Entlastung aller Bürger und Unternehmen in ländlichen Räumen erzielt werden. Sie müßten dann nur noch für die Infrastruktur zahlen, die sie auch selbst nutzen können.
Unabhängig davon, welches dieser Konzepte die AfD bevorzugt, sollte eins klargeworden sein: Sie muß auf benachteiligte Regionen setzen und dort zeigen, daß sie es tatsächlich besser kann.
Verwendete Literatur:
Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft, München 2019;
Eckhard Fuhr: „Schlesien bleibt munter“, in: Die Welt vom 16.09.2005;
Paul Leonhard: „Kretschmers Alptraum“, in: jungefreiheit.de vom 02.05.2019;
Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018;
Recherche Dresden: „Deutschlands Problemzonen“, in: Recherche D, Heft 6. Chemnitz 2019, S. 6–19.
Atz
Drei Bundesländer stehen zur Wahl: Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In Brandenburg machen die Wahlkampf schon mit ihrer Gegnerschaft zur AfD, als ob negative Kampagnen funktionieren dürften. Die AfD hatte sie mit Willy Brandt geködert.
Es wird sehr spannend. Eigentlich müsste man erwarten, dass jeder Mandatsträger bundesweit nun diese Wahlkämpfe unterstützt.
Dass in Thüringen die Linke bei 25% liegt, kaum vorstellbar.
http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm
Gegen die Äußerungen Bodo Ramelows gegen Bundespräsident Gauck verblasst einfach alle "Hassrede".