Antonio Negri: Über das Kapital hinaus

Der italienische Theoretiker Antonio Negri (Jahrgang 1933) ist das linke Pendant zu Gabriele Adinolfi (Jahrgang 1954).

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Wäh­rend Adi­nol­fi (vgl. Sezes­si­on 55) als Akti­vist der außer­par­la­men­ta­ri­schen Rech­ten die »Blei­er­nen Jah­re« der 1970er und frü­hen 1980er erleb­te – als lin­ke und rech­te Mili­tan­te unter maß­geb­li­cher Beein­flus­sung durch Geheim­dienst­ak­ti­vi­tä­ten fol­gen­schwe­re Anschlä­ge ver­üb­ten (»Stra­te­gie der Span­nung«) –, war Negri auf der kom­mu­nis­ti­schen Gegen­sei­te aktiv. Der Unter­schied: Der Vete­ran der radi­ka­len Rech­ten Adi­nol­fi pro­ble­ma­ti­siert bis heu­te die Rol­le der »Diens­te« für die töd­li­che Gewalt­es­ka­la­ti­on; der Vete­ran der radi­ka­len Lin­ken Negri sieht kei­nen Anlaß zur Fun­da­men­tal­kri­tik des eins­ti­gen Handelns.

1979 wur­de Negri ver­haf­tet und als füh­ren­der Mit­strei­ter der ter­ro­ris­ti­schen Roten Bri­ga­den ange­klagt, 1983 ging er (wie Adi­nol­fi) ins fran­zö­si­sche Exil, wo er (anders als Adi­nol­fi) eine Anstel­lung als Dozent für Poli­ti­sche Theo­rie an der Uni­ver­si­tät Paris VIII erhielt, bevor er zwi­schen 1997 und 2003 erneut in Ita­li­en inhaf­tiert wur­de. Heu­te lebt Negri wie­der in Paris und gilt als einer der füh­ren­den Den­ker des »undog­ma­ti­schen«, sich kos­mo­po­li­tisch arti­ku­lie­ren­den Links­ra­di­ka­lis­mus mit anhal­ten­der welt­wei­ter Aus­strah­lung. Sein gemein­sam mit Micha­el Hardt ver­öf­fent­lich­tes Werk Empire (dt. 2002) gilt Tei­len der Lin­ken bis heu­te als rich­tungs­wei­sen­des Mani­fest, die bei­den Fort­set­zungs­bän­de (Multi­tu­de, dt. 2004; Com­mon Wealth, dt. 2010) rich­ten ihr Augen­merk auf das Ziel einer staats‑, nati­ons- und volks­lo­sen Welt­ge­sell­schaft der Vie­len. Die­se bio­gra­phi­schen und ideo­lo­gi­schen Mar­ker gilt es in Erin­ne­rung zu rufen, wenn die vor­lie­gen­de Erst­über­set­zung von Marx olt­re Marx (1979) auf­ge­schla­gen wird, die nicht als »Marx über Marx hin­aus« im Ber­li­ner Karl Dietz Ver­lag erschie­nen ist, son­dern als Über das Kapi­tal hinaus.

Die Titel­mo­di­fi­zie­rung ergibt Sinn in zwei­fa­cher Hin­sicht: Einer­seits wei­sen die Ideen des mit die­sem Werk ein­set­zen­den Negri-»Postoperaismus« – dies umschreibt grob: Revo­lu­tio­nä­rer Kampf plus Post­struk­tu­ra­lis­mus – über die kapi­ta­lis­ti­sche Gegen­wart hin­aus, und zwar in Fol­ge aktu­el­ler Debat­ten um imma­te­ri­el­le Arbeit und das neu­er­dings kol­por­tier­te Ende klas­si­scher Lohn­ar­beit in Fol­ge der viel­schich­ti­gen »Indus­trie 4.0«. Ande­rer­seits legen die abge­druck­ten Pari­ser Vor­le­sun­gen Negris, die sich den Marx­schen Grund­ris­sen der Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie (1857 / 58) wid­men, nahe, daß Marx in die­sen stür­mi­schen Vor­ar­bei­ten zu sei­nem Kapi­tal eini­ge Posi­tio­nen ver­trat, die er in sei­nem spä­ter erschie­ne­nen drei­bän­di­gen Haupt­werk dann revi­dier­te bzw. nicht mehr mit die­ser Vehe­menz ver­trat. Negri meint also, die Grund­ris­se wei­sen in ihrer »leben­di­gen«, kämp­fe­ri­schen Spra­che auch über das Kapi­tal – als wis­sen­schaft­li­cher, metho­di­scher, nüch­ter­ner Dar­le­gung – hinaus.

Negri wid­met sich den Grund­ris­sen vor allem in rebel­li­schem Sin­ne: Er liest die Grund­ris­se durch die Bril­le des Mili­tan­ten und stürzt sich auf jene Stel­len, in der die »revo­lu­tio­nä­re Vor­stel­lungs­kraft« Mar­xens eben­so her­vor­ste­che wie des­sen »revo­lu­tio­nä­rer Wil­le«. Die zwei­fels­oh­ne anspruchs­vol­len Betrach­tun­gen der Marx­schen Tex­te durch Negri, die eine Lek­tü­re für Marx-Inter­es­sier­te trotz genann­ter Idio­syn­kra­si­en emp­feh­lens­wert macht, die­nen dem Autor der Vor­le­sun­gen aber letzt­lich der Feind­be­stim­mung und der Zuspit­zung. Mehr als über Lohn und Pro­fit, die Mehr­wert­theo­rie, das pro­le­ta­ri­sche Sub­jekt, das Wert­ge­setz, die Kate­go­rien des Kapi­tals, Zir­ku­la­ti­on und den Welt­markt lernt man mög­li­cher­wei­se über das ant­ago­nis­ti­sche Grund­ver­ständ­nis gesell­schaft­li­cher Aus­ein­an­der­set­zun­gen in Negris ideo­lo­gi­schem Umfeld. Es geht um »die Ent­mys­ti­fi­zie­rung jeder pazi­fis­ti­schen Hypo­the­se«, um »die Demons­tra­ti­on von Stär­ke als dem ent­schei­den­den Element«.

Pro­le­ta­ri­sche Gewalt erscheint in die­sem Kon­text als »posi­ti­ve Andeu­tung des Kom­mu­nis­mus«, poli­ti­sche Gewalt von links als »eine ers­te unmit­tel­ba­re, macht­vol­le Beja­hung der Not­wen­dig­keit des Kom­mu­nis­mus«. Auch hier geht Negri weit über Mar­xens bil­dungs­bür­ger­li­che Sozia­li­sie­rung hin­aus: »Im Kom­mu­nis­mus lebt man oder lebt man nicht. Die Ent­schei­dung liegt vor uns, in den Bedin­gun­gen des Klas­sen­krie­ges.« Negris Fina­le furio­so mün­det in eli­mi­na­to­ri­schem Eifer: »Der Geg­ner muss ver­nich­tet werden.«

Die­se kon­stan­ten Wech­sel zwi­schen anspruchs­vol­ler Vor­le­sung und Auf­ruf zum Ter­ror sind lesens­wert, nicht zuletzt, um sich in Erin­ne­rung zu rufen, daß der offen arti­ku­lier­te Fetisch der ver­nich­ten­den, ent­grenz­ten Gewalt – ob 1979 oder 2019 – im anti­fa­schis­ti­schen Beritt sei­ne bestän­di­ge Wohn­statt fin­det. Über­dies mar­kie­ren die Pari­ser Vor­le­sun­gen Negris unmiß­ver­ständ­lich die Gren­ze zwi­schen kom­mu­nis­ti­scher Ideo­lo­gie und nicht­mar­xis­tisch-sozia­lis­ti­schen Ideen unter­schied­li­cher Cou­leur: Negris Kom­mu­nis­mus sucht »ein neu­es Sub­jekt, das (…) die Wirk­lich­keit ver­wan­delt und das Kapi­tal zer­stört«. Sozia­lis­mus? Ein Bin­nen­sys­tem des Kapi­tals. Mar­cel Mauss nann­te »Sozia­lis­mus« dem­ge­gen­über jede Leh­re von der »Über­nah­me der öko­no­mi­schen Macht« mit­tels »Natio­na­li­sie­rung« und »Schaf­fung eines unter natio­na­ler Kon­trol­le ste­hen­den indus­tri­el­len und kom­mer­zi­el­len Eigen­tums«. Anders gesagt: Hie Staats­feind­schaft und gewalt­sa­me Abschaf­fung der (Lohn-) Arbeit, da Orga­ni­sa­ti­on der Arbeit und ihres Ertra­ges zuguns­ten einer Gemeinschaft.

Anto­nio Negri: Über das Kapi­tal hin­aus, Ber­lin: Karl Dietz Ver­lag 2019. 264 S., 29.90 € - hier bestellen

Benedikt Kaiser

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