Elf Jahre jünger (*1975) als Precht, versteht er – Juniorprofessor an der Universität Stuttgart – es, »komplexe Sachverhalte« einem breiten Publikum zu verdeutlichen. Hübl arbeitet am Puls der Zeit, andernfalls wäre er als Philosoph kaum zu verkaufen. Der wissenschaftliche Anhang seines Buches umfaßt neunzig Seiten – er hat wirklich sämtliche Studien zu seinem Untersuchungsfeld ins Auge gefaßt.
Welches Untersuchungsfeld? Der Titel führt in die Irre. Vermutlich sind solche ungefähren Schreckensmeldungen rund um den sogenannten Riß (Die große Gereiztheit; Die Vereindeutigung der Welt; Die letzte Stunde der Wahrheit etc.) derzeit verkaufsträchtig. Die Bürger sind politisierter, polarisierter und popularisierter als in vergangenen Jahrzehnten. Es gibt wieder hüben und drüben, progressiv versus konservativ, rechts gegen links. Daß solche oft als ungültige Etiketten gescholtenen Feldpostnummern durchaus eine Wahrheit in sich tragen, ist die positive Erkenntnis in diesem fraglos unterhaltsamen Buch.
Der genuin Rechte (Hübl sagt zurecht, daß »konservativ« durchaus auch auf Linke zutrifft – zudem interpretiert er das Scheltwort »neoliberal« endlich korrekt) und der genuin Progressive sind bei Hübl, sozialpsychologisch betrachtet, zwei Typen unterschiedlicher Art. Unsere Emotionen prägen unsere Moral und damit unsere politischen Präferenzen, schreibt er. Man verschlingt all diese hier geschilderten Experimente mit großer Leselust und mancherlei Aha-Momenten. Eine unter dutzenden hier vorgestellten Studien hat folgendes Resultat: Wir stellen uns vor, ein harmloser Bergwanderer müßte in die Tiefe gestoßen werden, um einen Zug zu blockieren und damit fünf Menschenleben zu retten. Linke / Progressive würden diesen Mann viel eher stoßen, sofern er ihnen als »Chip Ellsworth III.« (also einen alten weißen Mann) vorgestellt werde und es darum ginge, Mitglieder des »Harlem Jazz Orchestra« zu retten.
Stellt man traditionell Konservative hingegen vor dieses Dilemma, macht die Rassenzugehörigkeit keinen Unterschied. Hübl beruft sich fundamental auf die Studie The Rigtheous Mind (2013) des amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt, der – bislang, wen wundert’s, nicht ins Deutsche übersetzt! – bereits Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld (Mit Linken leben, 2018) als Gewährsmann für »rechte« und »linke« Denke diente. Nun beruft sich Herr Hübl zwar ausführlich auf Haidt, tut dies allerdings aus linksliberaler Warte. Es wird davon ausgegangen, daß es sechs moralische Prinzipien gibt, auf denen Werte und Entscheidungen gründen: Fairneß, Fürsorge, Freiheit, Autorität, Loyalität und Reinheit.
In Hübls Lesart sind die drei F‑Worte grundlegend für moralische Entscheidungen linksliberal geprägter Menschen, wohingegen Rechte deutlich zu den anderen dreien tendierten. Die hier mannigfach zitierten Studien geben aber gerade dies gar nicht her! Konservativen dienen alle sechs Werte als Leitplanken. Und gerade Reinheitsphantasien hegen wohl (Klima, Veganismus, allenthalben die Correctness-Area) heute offenkundig mehr Linke als Rechte – für den Faktor »Autorität« gilt Ähnliches. Auch daß linke Universalisten das Rationalitätsargument auf ihrer Seite hätten, wie Hübl es geschickt interpretiert, geben all die zitierten Untersuchungen nicht her. Typisch Hüblsche Conclusio: »Die autoritäre Linke bevormundet andere aus dem Gedanken des Schutzes heraus.
Autoritäre Rechtsradikale bevormunden andere, einfach weil sie es gerne tun.« Dabei sind diese Studien ein wahres Schatzkästchen: Parasiten machen konservativ. Gruppen, die parasitär heimgesucht werden, tendieren zu geringer Offenheit. In Zeiten von Infektionsgefahr sind Menschen fremdenfeindlicher. Frauen in Ländern mit hoher Infektionsgefahr (Bangladesch, Simbabwe) sind in sexueller Hinsicht deutlich konservativer als Frauen mit ausgebautem Gesundheitssystem und wenig Ansteckungsbedrohung (Slowenien, Finnland): »Je geringer die Gefahr, desto polygamer ihr Lebensstil.« Die Ekelneigung, hochinteressant, spielt übrigens eine Sonderrolle.
Fast alle ekeln sich davor, aus einem Glas zu trinken, in das sie zuvor selbst gespuckt haben. Die meisten finden Sperma und Vaginalflüssigkeit generell eklig, meiden deshalb aber nicht die sexuelle Annäherung. »Moralischer Ekel« sei weitverbreitet: Die meisten Probanden weigerten sich, einen netten Retro-Pulli, frisch aus der chemischen Reinigung, anzuziehen, wenn ihnen gesagt wurde, daß er von Adolf Hitler getragen wurde. Es macht einen Unterschied, ob wir uns eher vor der eitrigen Kniewunde des Nebenmannes ekeln oder vor gebratenen Würmern. Konservatismus, sagt Hübl, basiere auf Angst und Ekel: »Konservative wollen die Außengrenzen ihrer Körper, Traditionen und Staaten« gegen Eindringline schützen. In mehrfacher Hinsicht plagt mich bei der Lektüre der Verdacht, daß Konservative mit einer Neuen Rechten wenig gemein haben. Wir sind doch keine Weicheier, die sich ekeln und ängstigen!
Philipp Hübl: Die aufgeregte Gesellschaft: Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken, München: C. Bertelsmann 2019. 429 S., 22 € – hier bestellen