Philipp Hübl: Die aufgeregte Gesellschaft: Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken

Philipp Hübl darf man sich als eine Art Neuversion des photogenen In-Philosophen Richard David Precht vorstellen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Elf Jah­re jün­ger (*1975) als Precht, ver­steht er – Juni­or­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Stutt­gart – es, »kom­ple­xe Sach­ver­hal­te« einem brei­ten Publi­kum zu ver­deut­li­chen. Hübl arbei­tet am Puls der Zeit, andern­falls wäre er als Phi­lo­soph kaum zu ver­kau­fen. Der wis­sen­schaft­li­che Anhang sei­nes Buches umfaßt neun­zig Sei­ten – er hat wirk­lich sämt­li­che Stu­di­en zu sei­nem Unter­su­chungs­feld ins Auge gefaßt.

Wel­ches Unter­su­chungs­feld? Der Titel führt in die Irre. Ver­mut­lich sind sol­che unge­fäh­ren Schre­ckens­mel­dun­gen rund um den soge­nann­ten Riß (Die gro­ße Gereizt­heit; Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt; Die letz­te Stun­de der Wahr­heit etc.) der­zeit ver­kaufs­träch­tig. Die Bür­ger sind poli­ti­sier­ter, pola­ri­sier­ter und popu­la­ri­sier­ter als in ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten. Es gibt wie­der hüben und drü­ben, pro­gres­siv ver­sus kon­ser­va­tiv, rechts gegen links. Daß sol­che oft als ungül­ti­ge Eti­ket­ten geschol­te­nen Feld­post­num­mern durch­aus eine Wahr­heit in sich tra­gen, ist die posi­ti­ve Erkennt­nis in die­sem frag­los unter­halt­sa­men Buch.

Der genu­in Rech­te (Hübl sagt zurecht, daß »kon­ser­va­tiv« durch­aus auch auf Lin­ke zutrifft – zudem inter­pre­tiert er das Schelt­wort »neo­li­be­ral« end­lich kor­rekt) und der genu­in Pro­gres­si­ve sind bei Hübl, sozi­al­psy­cho­lo­gisch betrach­tet, zwei Typen unter­schied­li­cher Art. Unse­re Emo­tio­nen prä­gen unse­re Moral und damit unse­re poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen, schreibt er. Man ver­schlingt all die­se hier geschil­der­ten Expe­ri­men­te mit gro­ßer Lese­lust und man­cher­lei Aha-Momen­ten. Eine unter dut­zen­den hier vor­ge­stell­ten Stu­di­en hat fol­gen­des Resul­tat: Wir stel­len uns vor, ein harm­lo­ser Berg­wan­de­rer müß­te in die Tie­fe gesto­ßen wer­den, um einen Zug zu blo­ckie­ren und damit fünf Men­schen­le­ben zu ret­ten. Lin­ke / Pro­gres­si­ve wür­den die­sen Mann viel eher sto­ßen, sofern er ihnen als »Chip Ells­worth III.« (also einen alten wei­ßen Mann) vor­ge­stellt wer­de und es dar­um gin­ge, Mit­glie­der des »Har­lem Jazz Orches­tra« zu retten.

Stellt man tra­di­tio­nell Kon­ser­va­ti­ve hin­ge­gen vor die­ses Dilem­ma, macht die Ras­sen­zu­ge­hö­rig­keit kei­nen Unter­schied. Hübl beruft sich fun­da­men­tal auf die Stu­die The Rig­theous Mind (2013) des ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­lo­gen Jona­than Haidt, der – bis­lang, wen wundert’s, nicht ins Deut­sche über­setzt! – bereits Mar­tin Licht­mesz und Caro­li­ne Som­mer­feld (Mit Lin­ken leben, 2018) als Gewährs­mann für »rech­te« und »lin­ke« Den­ke dien­te. Nun beruft sich Herr Hübl zwar aus­führ­lich auf Haidt, tut dies aller­dings aus links­li­be­ra­ler War­te. Es wird davon aus­ge­gan­gen, daß es sechs mora­li­sche Prin­zi­pi­en gibt, auf denen Wer­te und Ent­schei­dun­gen grün­den: Fair­neß, Für­sor­ge, Frei­heit, Auto­ri­tät, Loya­li­tät und Reinheit.

In Hüb­ls Les­art sind die drei F‑Worte grund­le­gend für mora­li­sche Ent­schei­dun­gen links­li­be­ral gepräg­ter Men­schen, wohin­ge­gen Rech­te deut­lich zu den ande­ren drei­en ten­dier­ten. Die hier man­nig­fach zitier­ten Stu­di­en geben aber gera­de dies gar nicht her! Kon­ser­va­ti­ven die­nen alle sechs Wer­te als Leit­plan­ken. Und gera­de Rein­heits­phan­ta­sien hegen wohl (Kli­ma, Vega­nis­mus, allent­hal­ben die Cor­rect­ness-Area) heu­te offen­kun­dig mehr Lin­ke als Rech­te – für den Fak­tor »Auto­ri­tät« gilt Ähn­li­ches. Auch daß lin­ke Uni­ver­sa­lis­ten das Ratio­na­li­täts­ar­gu­ment auf ihrer Sei­te hät­ten, wie Hübl es geschickt inter­pre­tiert, geben all die zitier­ten Unter­su­chun­gen nicht her. Typisch Hüb­lsche Con­clu­sio: »Die auto­ri­tä­re Lin­ke bevor­mun­det ande­re aus dem Gedan­ken des Schut­zes heraus.

Auto­ri­tä­re Rechts­ra­di­ka­le bevor­mun­den ande­re, ein­fach weil sie es ger­ne tun.« Dabei sind die­se Stu­di­en ein wah­res Schatz­käst­chen: Para­si­ten machen kon­ser­va­tiv. Grup­pen, die para­si­tär heim­ge­sucht wer­den, ten­die­ren zu gerin­ger Offen­heit. In Zei­ten von Infek­ti­ons­ge­fahr sind Men­schen frem­den­feind­li­cher. Frau­en in Län­dern mit hoher Infek­ti­ons­ge­fahr (Ban­gla­desch, Sim­bab­we) sind in sexu­el­ler Hin­sicht deut­lich kon­ser­va­ti­ver als Frau­en mit aus­ge­bau­tem Gesund­heits­sys­tem und wenig Anste­ckungs­be­dro­hung (Slo­we­ni­en, Finn­land): »Je gerin­ger die Gefahr, des­to poly­ga­mer ihr Lebens­stil.« Die Ekel­nei­gung, hoch­in­ter­es­sant, spielt übri­gens eine Sonderrolle.

Fast alle ekeln sich davor, aus einem Glas zu trin­ken, in das sie zuvor selbst gespuckt haben. Die meis­ten fin­den Sper­ma und Vagi­nal­flüs­sig­keit gene­rell eklig, mei­den des­halb aber nicht die sexu­el­le Annä­he­rung. »Mora­li­scher Ekel« sei weit­ver­brei­tet: Die meis­ten Pro­ban­den wei­ger­ten sich, einen net­ten Retro-Pul­li, frisch aus der che­mi­schen Rei­ni­gung, anzu­zie­hen, wenn ihnen gesagt wur­de, daß er von Adolf Hit­ler getra­gen wur­de. Es macht einen Unter­schied, ob wir uns eher vor der eit­ri­gen Knie­wun­de des Neben­man­nes ekeln oder vor gebra­te­nen Wür­mern. Kon­ser­va­tis­mus, sagt Hübl, basie­re auf Angst und Ekel: »Kon­ser­va­ti­ve wol­len die Außen­gren­zen ihrer Kör­per, Tra­di­tio­nen und Staa­ten« gegen Ein­dring­li­ne schüt­zen. In mehr­fa­cher Hin­sicht plagt mich bei der Lek­tü­re der Ver­dacht, daß Kon­ser­va­ti­ve mit einer Neu­en Rech­ten wenig gemein haben. Wir sind doch kei­ne Weich­ei­er, die sich ekeln und ängstigen!

Phil­ipp Hübl: Die auf­ge­reg­te Gesell­schaft: Wie Emo­tio­nen unse­re Moral prä­gen und die Pola­ri­sie­rung ver­stär­ken, Mün­chen: C. Ber­tels­mann 2019. 429 S., 22 € – hier bestel­len

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Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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