Wer die Politik des Multikulturalismus zerlegen will, sollte deshalb die dafür nötigen Fakten zur Migration in Colliers Arbeit Exodus (2014) nachschlagen. Wer sich hingegen fundiert zur wirtschaftlichen Situation Afrikas äußern möchte, kommt an Die unterste Milliarde (2008) nicht vorbei.
Sozialer Kapitalismus! ist ebenfalls unverzichtbar, aber aus einem anderen Grund. Collier entwickelt darin Wege, wie die geographische, soziale und globale Spaltung überwunden werden könne. Hauptsächlich widmet er sich dabei der Sinnkrise des reichen Westens. Deren Ursache sei, daß sich »qualifikations- und nationalitätsorientierte Identitäten polarisierten«. Hochqualifizierte hätten in den letzten Jahrzehnten damit begonnen, sich nur noch über ihre Bildung zu definieren, während Geringqualifizierte weiterhin »ihre Nationalität stärker gewichten«.
Es gibt damit keine gemeinsame Identität mehr zwischen Basis und Überbau, wodurch einerseits das Vertrauen der Menschen in die Elite zusammenbricht und andererseits die Elite durch ihre gesteigerte Distanz alle Pflichten gegenüber dem Volk vergißt. Collier hält nun nichts davon, diesen Spalt mit populistischen Mitteln zu vertiefen. Er warnt ausdrücklich vor Donald Trump, Marine Le Pen in Frankreich und der AfD. Vielmehr hofft er, daß sich in der »mühsamen Mitte« wieder das Bewußtsein für »Verbundenheit mit einem Ort« sowie sozialen Pflichten herauskristallisiert.
Wie das gelingen soll, bleibt vage. Letztendlich wäre Collier in Deutschland ein Kandidat für die WerteUnion der CDU, die auch trotz aller Enttäuschungen der letzten Jahre noch an eine Heilung der Volksparteien glaubt. Die Substanz seines Buches liegt somit nicht in politischen Empfehlungen. Hier erweist er sich als naiv bis illusorisch.
Brillant ist allerdings seine Bestimmung des Sozialen im Kapitalismus. Wir denken dabei intuitiv an die Umverteilung in einem anonymen Sozialstaat. Skizziert man diese als einen mechanischen Vorgang, wird damit jeder patriotische Gehalt negiert, den eine ökonomische Theorie notwendigerweise bieten muß. Denn, so Collier: »Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Wertschätzung ist genauso fest in uns einprogrammiert wie das Bedürfnis nach Nahrung.« Aus diesem Grund wurden in der Menschheitsgeschichte Egoisten früher oder später vertrieben, was sich als eine Drohung gegenüber den aktuell herrschenden Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien lesen läßt.
Collier plädiert also dafür, das Soziale als ausgleichendes Gegengewicht zum rationalen, da Massenwohlstand erzeugenden, Kapitalismus zu sehen. »Sozial« bedeutet dabei für ihn das Bewahren der nationalen Identität als gemeinsames Narrativ sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten.
Bezogen auf die geographische Spaltung von Stadt und Land heiße dies, daß die Metropolen ihren Teil zur Stärkung des ländlichen Raums beitragen sollten. Eine Abschöpfung bzw. Besteuerung der Agglomerationsgewinne sei darüber hinaus ethisch gerechtfertigt, weil die hohe Produktivität der Städter maßgeblich ein Resultat vorangegangener, kollektiver Investitionen in die Infrastruktur sei. Collier hat hierzu ein Steuermodell entwickelt, das Einkommen und Wohnsitz berücksichtigt. Es zählt zu den stärksten, konkreten Vorschlägen des Buches und zeigt, wo seine unnachahmliche Begabung liegt. Wie schon bei seiner Idee, echten Flüchtlingen Städte in Heimatnähe aufzubauen, schafft er es auch diesmal, der Politik ein ökonomisch durchdachtes Konzept vorzulegen, das eigentlich nur noch umgesetzt werden müßte, wenn man denn dafür Mehrheiten gewinnen könnte.
Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft, München: Siedler Verlag 2019. 320 S., 20 € – hier bestellen