Samir Amin: Souveränität im Dienst der Völker. Plädoyer für eine antikapitalistische nationale Entwicklung

Der französisch-ägyptische Intellektuelle Samir Amin (1931 – 2018) verlor sich, obschon marxistischen Positionen nahestehend, nie in ideologischen Blasen einer arrivierten Linken.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Er hielt sich nah an die zu ver­än­dern­de Lebens­rea­li­tät – ins­be­son­de­re Afrikas.

In sei­nem jüngst erschie­ne­nen Band geht es nun um eines sei­ner Lebens­the­men: Volks­sou­ve­rä­ni­tät als Vor­aus­set­zung für Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät et vice ver­sa. Amin wünscht sich eine genu­in afri­ka­ni­sche Her­an­ge­hens­wei­se an afri­ka­ni­sche Wider­sprü­che auf dem Weg zu einer mul­ti­po­la­ren Welt hand­lungs­fä­hi­ger Natio­nen. In sei­nem Fokus steht das Ziel einer flä­chen­de­cken­den afri­ka­nisch-bäu­er­li­chen Land­wirt­schaft, deren Bin­nen­prei­se durch sou­ve­rä­ne Natio­nal­staa­ten (mit star­ken Bau­ern­be­we­gun­gen) fest­ge­legt wer­den soll­ten – nicht vom Welt­markt. Denn daß der von der west­li­chen Welt oktroy­ier­te Frei­han­del in Afri­ka dazu füh­re, daß sich der Markt für Nah­rungs­mit­tel­im­por­te aus dem Glo­ba­len Nor­den öff­ne, wobei afri­ka­ni­sche Land­wir­te mit ihren agrar­po­li­tisch sub­ven­tio­nier­ten und hoch­pro­fes­sio­nel­len Kon­kur­ren­ten aus dem Wes­ten in kei­ner Wei­se mit­hal­ten kön­nen, ist für Amin ein Kernproblem.

Amins Weg besteht ins­be­son­de­re dar­in, allen Bau­ern – der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit Afri­kas, aber auch Asi­ens, ins­ge­samt 2,5 Mil­li­ar­den Men­schen – glei­chen Zugang zu Land zu gewäh­ren. Der jewei­li­ge Staat (als Allein­ei­gen­tü­mer des gesam­ten Bodens sei­nes Ter­ri­to­ri­ums) sol­le die bäu­er­li­che Fami­lie als Nutz­nie­ßer ein­set­zen, in den Dör­fern Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit her­stel­len und qua Auto­ri­tät garan­tie­ren. Die Bau­ern wären unmit­tel­ba­re Pro­fi­teu­re ihrer eige­nen Arbeit, die Pro­duk­te könn­ten sie in regio­na­len Wirt­schafts­kreis­läu­fen frei ver­kau­fen, der Staat wür­de durch geplan­te Ankäu­fe Min­dest­prei­se ermög­li­chen und Kre­di­te, Saat­gut und Markt­zu­gän­ge stellen.

Ohne die­se und wei­te­re Vor­schlä­ge zur fun­da­men­ta­len afri­ka­ni­schen Agrar­re­form an die­ser Stel­le dis­ku­tie­ren zu kön­nen, ist zwei­er­lei festzuhalten:

Ers­tens hat Amin in zen­tra­len Punk­ten recht: Afri­ka kann durch ver­meint­li­che Wohl­tä­te­rei des Wes­tens nie­mals auf eige­nen Bei­nen ste­hen; es müß­te ori­gi­när auto­chtho­ne Wege fin­den, die zen­tra­le Ver­sor­gungs­pro­ble­ma­tik als Schritt zur öko­no­mi­schen Gesun­dung des Kon­ti­nents in den Griff zu bekom­men. Wei­ter­hin ist Amin bei­zu­pflich­ten, daß der Boden einer Nati­on nie als ver­äu­ßer­li­che »Ware« zu betrach­ten ist. Und auch Amins Fun­da­men­tal­kri­tik der volks­fer­nen und kapi­tal­hö­ri­gen EU als »Instru­ment der Ame­ri­ka­ni­sie­rung Euro­pas« in kul­tu­rel­ler wie öko­no­mi­scher Hin­sicht ist nicht viel hinzuzufügen.

Zwei­tens sind Män­gel offen­kun­dig. Amin kri­ti­siert kor­rek­ter­wei­se den neu­en Impe­ria­lis­mus der »Tria­de« aus den USA, der EU und Japan, der für Ver­hee­run­gen unter­schied­lichs­ter Art sorgt. Aber sei­ne mao­is­ti­sche Prä­gung macht ihn blind für ande­re Akteu­re mit mate­ri­el­len Inter­es­sen – allen vor­an Chi­na, das längst ein ent­schei­den­der Play­er ist. Auch Amins Afri­ka-Begriff ist pro­ble­ma­tisch: Der Kon­ti­nent ist in sich äußerst hete­ro­gen – eth­nisch, reli­gi­ös, kul­tu­rell. Amin sug­ge­riert gele­gent­lich, hier hät­te man einen mehr oder weni­ger ein­heit­li­chen Raum vor sich, für den es ana­lo­ge Lösungs­an­sät­ze gäbe. Doch allein im von Amin genann­ten west­afri­ka­ni­schen Bin­nen­staat Mali gibt es ver­schie­dens­te Eth­ni­en und Reli­gio­nen, der Staat ist schwach, Ban­den und Ter­ro­ris­ten­netz­wer­ke stark, und neben der bäu­er­li­chen Fami­lie – dem Sub­jekt von Amins Theo­rie – gibt es gan­ze Land­stri­che, die noch von vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen Hir­ten und Jägern geprägt sind und sich der­zeit Ver­tei­lungs­kämp­fe mit seß­haf­ten Bau­ern lie­fern, die bereits zu Hun­der­ten Toten führ­ten. Wie sol­len da gar pan­afri­ka­ni­sche Lösun­gen aussehen?

Der Ein­wän­de unge­ach­tet emp­fiehlt sich die Lek­tü­re Samir Amins für jeden poli­tisch Akti­ven hier­zu­lan­de, der weiß, daß mas­sen­haf­te Migra­ti­ons­be­we­gun­gen nicht durch Sta­chel­draht und Fron­tex enden wer­den, son­dern daß kom­ple­xe geo­po­li­ti­sche und ‑öko­no­mi­sche Lösungs­an­sät­ze not­wen­dig sind, die es Mil­lio­nen von Men­schen ermög­li­chen, ein Aus­kom­men in ihrer Hei­mat zu fin­den. Amin bie­tet hier­für Denkanstöße.

Samir Amin: Sou­ve­rä­ni­tät im Dienst der Völ­ker. Plä­doy­er für eine anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche natio­na­le Ent­wick­lung, Wien: Pro­me­dia Ver­lag 2019. 144 S., 17.90 € - hier bestellen

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (3)

Brandolf

2. Dezember 2020 19:49

Herr Amin könnte ein nützlicher Verbündeter der Neuen Rechten in Europa, insbesondere für jene in den Mitgliedstaaten der EU, sein, denn sein Primärziel einer eigenständigen Versorgung der afrikanischen Staaten mit Nahrungsmitteln, Wasser und Energie würde aus langfristiger Perspektive zwangsläufig zu einer Minderung des Auswanderungsdruck in den afrikanischen Herkunftsländern und damit einhergehend zu einer Verringerung der Massenzuwanderung in die europäischen Zielländer der interkontinentalen und in der wirtschaftlichen Ungleichheit begründeten Armutswanderungsbewegungen führen.

Die afrikanischen Strategen einer auf Selbstversorgung ausgerichteten Entwicklung und die europäischen Souveränisten sowie die US-amerikanischen Anti-Interventionisten (Trump-Anhängerschaft) müssten sich demnach gegen die neoimperialen Transatlantiker verbünden.

Die von ideologisch marktradikal-globalkapitalistisch und pro-amerikanisch ausgerichteten transnationalen Eliten-Netzwerken dies- und jenseits des Atlantiks geplante, organisierte und gelenkte afro-asiatische Replacement-Migration in die EU-Mitgliedstaaten hat einen geoökonomischen Hintergrund.

Teil 1

Brandolf

2. Dezember 2020 19:50

Der Transfer der Überschussbevölkerung aus unterentwickelten und bevölkerungsexplosiven Weltregionen (v.a. Sub-Sahara-Afrika aber auch Nah-Mittelost und Nordafrika) soll nämlich 

1. eine Transformation der nationalstaatlich fragmentierten und kleinräumig strukturierten EU zu einer politisch und ökonomisch eng an die USA angebundenen Föderation mit einer sich auf Bestandserhaltungsniveau reproduzierenden, multiethnischen Bevölkerung konstanter Größe und 

2. eine ethnische, religiöse und kulturelle Fragmentierung und damit politisch erleichterte Kontrollierbarkeit der Arbeiterschaft herbeiführen. 

Die Zielsetzung dieses Großprojektes besteht in der für die Aufrechterhaltung der politisch-wirtschaftlichen globalen Dominanz der USA unabdingbaren Gründung eines mit dem größten und expansivsten Markt China konkurrenzfähigen geowirtschaftlichen Großraumes für die Güter und Dienstleistungen US-amerikanischer Konzerne und Großbanken.

Teil 2
 

Brandolf

2. Dezember 2020 19:51

Die als Flüchtlinge oder angeblich notwendige Fachkräfte ausgegebenen Bevölkerungsersatz-Migranten sollen zukünftige Konsumenten von Onkel Sam sein. Die Frage, die sich jedem Zeitgenossen der von diesem Vorhaben Kenntnis erlangt hat, stellt lautet: Werden die religiös-vormodern sozialisierten Versorgungssuchenden und Siedler wirklich brave Konsumenten US-amerikanischer Güter und Dienstleistungen sein, oder werden sie für die Errichtung eines schariatischen Staates kämpfen? Die Frage ist natürlich rhetorisch.

Die mit dem Neoliberalismus Einzug erhaltene Ökonomisierung der Gesellschaft hat zu einer Kapitalisierung des Geistes geführt.

Teil 3