Klar wird erneut: Nichts ist lehrreicher als der optische Zugriff, die Wahrnehmung, das Erlebnis einer Verwerfung oder Dissonanz oder Sprachlosigkeit, eines Widerspruchs, einer völligen, rabiaten, nachgerade religiösen Inkompatibilität und Unvereinbarkeit – mit Leuten, die – wie wir selbst – Deutsche sind, sogar mehr oder weniger derselben Generation angehören, mehr oder weniger also dieselbe Epochenerfahrung gemacht haben – und die doch aus dieser sehr ähnlichen Herkunft völlig andere Schlüsse ziehen und einen gesellschaftspolitisch völlig anderen Weg einzuschlagen oder besser: zu riskieren bereit sind.
Über diese Risikobereitschaft, die Zukunft der Europäer in Europa für eine Utopie und ein gutes Gefühl aufs Spiel zu setzen, hat der Franzose Jean Raspail den ebenso ätzenden wie vielschichtigen und weitsichtigen Roman Das Heerlager der Heiligen verfaßt, und zwar bereits 1973.
Seit dieser Roman 2015 in meinem Verlag in der vollständigen und sprachlich gültigen Übersetzung auf deutsch erschienen ist, gilt er den einen als Kultbuch, den anderen als ekelhafte Blaupause für den menschenverachtenden und zynischen Blick von “rechts” auf den Traum von der grenzenlosen, der weltoffenen, solidarischen, gutwilligen “Einen Welt”.
In Recklinghausen wurde im April nun eine Adaption dieses Romans fürs Theater uraufgeführt – eine vom Autor genehmigte Kooperation zwischen den Ruhrfestspielen und dem Frankfurter Schauspielhaus. Kositza, Lichtmesz und ich waren in der dritten Aufführung, unangemeldet, und nahmen hinterher auch an einem Publikumsgespräch teil, zu dem der Intendant der Ruhrfestspiele und drei der Schauspieler geladen hatten.
Ob die Inszenierung des Romans gelungen war, spielt keine Rolle – man kann das so machen, das Stück war wuchtig und krass wie der Roman: Raspail hat holzschnittartig und mit den für ihn typischen Charakterstudien die Doppelmoral der sogenannten “Zivilgesellschaft” und die Experimentierfreude der Meinungsmacher und Volksvertreter herausgearbeitet, und beide Zielgruppen fanden sich auch auf der Bühne bloßgestellt, durch eine Auswahl an Originalpassagen aus dem Roman, die man zurecht so hat auswählen und zusammenstellen können.
Uns Kultbuch-Lesern blieb – da wir nicht zu der abgestumpften Sorte gehören – während der Lektüre und im Zuschauerraum das hämische Lachen über die karikierte Zivilgesellschaft im Halse stecken: Uns Rechten, uns Verteidigern des Eigenen, uns geistigen Identitätskriegern stellen nämlich Roman und Theaterstück die ebenso schwierige wie legitime Frage, wie denn eigentlich das Vorfeld vor den von uns geschlossenen Grenzen aussähe und wie unser Umgang mit jenem Menschenknäuel, jenem Migranten-Stau sich gestaltete, der bei Raspail auf hundert rostigen Kähnen vor Frankreich auftaucht und den wir heute, jetzt, also im Juni 2019, an der Küste Libyens auflaufen sehen – und über den wir Schreckliches hören. Auf welche Konsequenzen, das ist die Frage, läuft die Sache eigentlich hinaus, von links und von rechts, von entgrenzender und von abriegelnder Seite her?
Lichtmesz kam in Recklinghausen im Verlauf des Publikumsgespräches zu Wort und konnte einige Minuten lang ausführen – etwa in dem Sinne, den ich eben vortrug. Also: Ambivalenz, Uneindeutigkeit, Moralismus, Verlogenheit, Doppelmoral, Verteidigungsschwäche, Selbstbefragung, Selbstinfragestellung, Aufmarsch des Figurenkabinetts unserer Zeit und unserer Lage.
Danach folgten: zwei andere Publikumsbeiträge, dann eine Gegenfrage des Intendanten, dann ich: über die Experimentierfreude der moralisch aufgeladenen Zivilgesellschaft, deren Angehörige im Schnitt nicht dort wohnen, wo die weniger schönen Seiten ihres Experiments sichtbar, handgreiflich werden, und die nicht dort konkurrieren müssen, wo sich neben und vor unsere eigenen Ungebildeten und Handlanger ein Heer von völlig fremden Ungebildeten und Handlangern drängt, das bereit ist, den “Job” für nochmals drei Euro weniger in der Stunde zu erledigen. – Erste Buhrufe.
Den Vorwurf eines Zuschauers aufgreifend, in Raspails Roman und im Theaterstück würde die Gesichtslosigkeit der Migranten fortgeschrieben, obwohl es sich doch um je individuelle Biographien und Lebensentwürfe handle, denen man gerecht werden müsse, machte ich weiter: Was anderes als eine gesichtslose Invasion habe denn 2015ff stattgefunden? Ohne Ausweiskontrollen, ohne auch nur den Versuch, diejenigen, die kamen, individuell zu registrieren – gerade so, als rollten hinter ihnen der Assadsche und Orbansche Panzerkeil, bereit, unter seinen Ketten alle zu zerquetschen, die den rettenden Spurt von Salzburg über die Brücke nach Freilassing nicht mehr rechtzeitig schafften. Anonym, gesichtlos also der Einmarsch in unser Land, eine einfache Lösung auf komplexe Fragen sozusagen, und sowieso: unter diesen Hunderttausenden wieviele Kriegsverbrecher aus Syrien und Afghanistan, dem Irak und Nigeria? Wieviele “Gefährder”, wieviele, auf deren Gewissen vielleicht Frauen, Kinder, Zivilisten, Gefangene gingen, und: Warum vor alle junge Männer?
Im Publikum kein Halten mehr: Niedergebuht, niedergezischt legte ich, “der Nazi”, das Mikrophon aus der Hand, bezeichnete den Vorgang in einer letzten Wortergreifung als ein Paradebeispiel für jene aggressive Überempfindlichkeit der “Hochsensiblen”, die im “Heerlager der Heiligen” vor bald fünfzig Jahren bereits auf den Punkt gebracht worden sei.
Was danach folgte, war moralistische Bundesliga beim Elfmeterschießen ohne Torwart. Der Durchschnittsschütze: Frau um die 55, graugefärbte Kurzhaarfrisur, maximal Pagenschnitt, gutsituiert, in der kirchlichen Laienbewegung aktiv, also Chrismon-Leserin oder Maria 2.0, Zeit-Abonnentin, mit Holzschmuck aus dem Eine-Welt-Laden und Leinenhose, ungebleicht, zwei “tolle” Kinder und ein zurechtgequatschtes Was-vom-Manne-übrigbieb an der Seite.
Die Wortmeldungen: Versatzstücke wie aus einem Baukasten, aufeinandergestapelt in der vom Erstredner vorgegebenen, von den Nachrednern übernommenen Reihenfolge: “Buch nicht gelesen, werde ich bestimmt nicht lesen”, “tolle schauspielerische Leistung”, “in der Geflüchtetenhilfe aktiv”, “nur gute Erfahrungen”, “irritiert”, “abgeben, teilen, Platz machen”, “aufeinander zugehen”, “Grenzen töten”, “himmelschreiend”, “und wir schauen zu”.
Lichtmesz rief noch einmal dazwischen, daß sich das multikulturelle Experiment mit 5000 € im Monat wohl anders anfühle als mit 1000, aber dieser empirisch nachweisbare Einwand hat mit Sicherheit ebensowenig etwas ausgetragen wie überhaupt unsere Anwesenheit: Denn die Leute, denen es im Publikumsgespräch ausschließlich darum ging, sich ihr gutes Lebensgefühl nicht durch die Fragestellungen eines Theaterstücks oder die Argumente politischer Spaßbremsen eintrüben zu lassen – diese Leute wählen allesamt “grün”, und für dieses Angekommensein auf der moralischen Siegerseite nimmt man fast jede Lebenslüge in Kauf.
Für mich: verlorene Orte.
Laurenz
Nur persönliche Betroffenheit ändert diese Zustände und das betrifft vordergründig "verlorene Orte".
Eine Staats-Grenze ist nichts anderes als eine etwas größer geratene Wohnungs- oder Haustür.