Der französische Autor Jean Raspail hat schon vor Jahren mit einer konservativen Utopie Furore gemacht, einer schwarzen Utopie allerdings. Als er 1973 seinen Roman Das Heerlager der Heiligen – Le Camp des Saints veröffentlichte, war der Fünfzigjährige schon ein anerkannter Autor, Träger des Literaturpreises der Académie Française und Verfasser zahlreicher Reiseberichte, Romane und Erzählungen. Außerdem hatte er sich als Expeditionsleiter in entlegene Regionen einen Namen gemacht. Der Arktis, vor allem aber den fremden Kulturen Amerikas und der Karibik galt immer seine Liebe. Von seinen Schilderungen dieser bedrohten Welten ist nur eine ins Deutsche übersetzt worden, unter dem Titel Sie waren die Ersten. Tragödie und Ende der Feuerlandindianer (München: Langen-Müller 1988, 320 S., geb, 18.90 €).
Mittlerweile glaubt Raspail, daß auch die europäische zu den bedrohten Welten gehört. Denn im Heerlager der Heiligen geht es um die Invasion asiatischer Massen in Europa, die den alten Kontinent überfluten, dessen Völker ausgedünnt und demoralisiert, von ihren Führern im Stich gelassen werden. Die Intelligenz hat alle Tradition zersetzt und die Auffassung etabliert, daß Selbstbehauptung unmoralisch ist, die Geistlichen glauben längst nicht mehr an die Wahrheit der alten Lehre und predigen Indifferenz oder eine als Nächstenliebe getarnte Sentimentalität, die Wirtschaft ist allein auf Gewinnmaximierung aus und schert sich nicht um das Gemeinwohl, die Politiker sind korrupt und den Soldaten hat man alle Möglichkeiten genommen, auf ihren Dienst stolz zu sein und ihr Leben für die Nation zu wagen. Längst sind die Vorhuten der Invasoren im Land, haben Verbündete gesucht und gefunden und den Tag vorbereitet, an dem Europa untergehen soll. Dazu kommt es, weil die Auswirkungen der großen Wanderung nur allmählich absehbar werden. Es handelt sich eben nicht um bewaffnete Invasoren, sondern um die Verdammten dieser Erde, deren schiere Zahl und deren Elend überwältigend wirkt, weil es Gefühle des Mitleids weckt, die den Widerstand erschweren. Schließlich kommen alle Abwehrversuche zu spät, Südfrankreich wird geräumt und man kann sich unschwer ausmalen, was in der Folgezeit geschieht.
Angesichts der Ereignisse in den vergangenen Monaten hat sich mancher dieses Buches erinnert, sogar die FAZ wies darauf hin und die lange vergriffene deutsche Ausgabe liegt mittlerweile wieder vor (Tübingen: Hohenrain 2005, 272 S., kt, 17.80 €). Raspail selbst sah sich durch die Aufstände in den banlieues zu einer Stellungnahme veranlaßt. In einem langen Leserbrief an den Figaro äußerte er seine Verwunderung darüber, daß noch jemand verwundert ist: über die Eskalation des Prozesses, das Phlegma der Europäer und die Unfähigkeit ihrer Eliten. Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren habe er nicht, und er wolle auch nicht mehr zur Feder greifen, um literarisch eine Alternative zu gestalten. Immerhin deutet er an, wie so etwas aussehen könnte. Es müsse, so Raspail, in Zukunft ein junger Autor den Mut finden, die ungeschehene Geschichte jener reconquista zu schreiben, zu der die resteuropäische Bevölkerung irgendwann in den kommenden Jahrhunderten antreten werde.
Reconquista, die Rückeroberung Spaniens gegen die maurischen Eroberer, ist selbstverständlich kein zufällig gewählter Begriff, sondern von Raspail mit voller Absicht verwendet, der weltanschaulich ganz im traditionellen Katholizismus wurzelt. Manchen gilt er als Parteigänger der Action Française (AF), die heute zwar nur noch ein Schatten früherer Größe ist, aber nach wie vor an der Idee einer „nationalen Restauration“ festhält. Es bleibt die Wiederherstellung des Königtums das zentrale Anliegen der AF, obwohl man keinen geeigneten Prätendenten vorweisen kann. Dieser Mangel hat allerdings Raspail die Möglichkeit gegeben, ein Thema zu entwickeln, das mit dem von ihm gewünschten Zukunftsroman zwar nur am Rande zu tun hat, aber doch eine gewisse Berührung aufweist.
Raspails Buch Sire (Bonn: Nova et Vetera, 242 S., kt, 19.00 €) ist bereits 1990 in Frankreich erschienen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. Jetzt hat es der kleine, aber außerordentlich aktive Verlag Nova et Vetera ins Deutsche übertragen lassen. Schon der Titel, die vorgeschriebene Anrede für den französischen König, deutet das Thema an: die Geschichte der heimlichen Salbung eines jungen Bourbonen zum König. Pharamond ist fern der Heimat in der Schweiz aufgewachsen und hätte sein Leben auch als Privatmann zubringen können, wie viele seiner Familie vor ihm, die sich nach dem Sturz der Monarchie zurückgezogen hatten und bestenfalls durch Skandale oder beneidenswerten Luxus von sich reden machten. Aber Pharamond wurde nach dem sagenhaften Gründer der Dynastie benannt, er ist ein Gegenbild der heutigen Politikerkaste, zusammen mit seiner Zwillingsschwester eine Verkörperung dessen, was königliches Blut ausmachen sollte. Seine Getreuen bilden eine kleine Schar von Verschworenen, Nachfahren jener Edelleute, die nicht die prächtigsten Titel führten, aber der Krone auch im Unglück treu blieben. Daneben gibt es andere mächtige Helfer, in den Reihen der Kirche, aber auch unter denen, die ganz in der Welt des Mammons und der Korruption zu leben scheinen, und schließlich den Nachfahren jenes Sansculotten, der auf Befehl des Konvents die große Schändung der königlichen Gräber durchgeführt hatte. Im letzten sind Pharamond und seine Gefolgschaft aber ganz auf sich selbst angewiesen. Denn das Reich Pharamonds ist nicht von dieser Welt, er hat Frankreich nur in der Provinz kennenlernen wollen und reist von seinem Aufenthaltsort an der Küste zu Pferd und bevorzugt nachts bis nach Reims, dem traditionellen Krönungsort. Pharamond weiß, daß das heutige Frankreich nur noch wenig, sehr wenig mit der douce France zu tun hat.
Daß Sire auch eine politische Absicht verfolgt, merkt man spätestens an den langen Exkursen zur Geschichte der Könige und zum Ende der Monarchie, der Zerstörung von Saint Dénis, der Vernichtung der Kroninsignien und des Schicksals der Ampulle mit dem heiligen Salböl, die die Revolutionäre demonstrativ zerstörten, deren tatsächlicher Verbleib aber bis heute ein Rätsel ist. Raspail verzichtet ganz darauf, die Möglichkeit einer Konterrevolution zu entwerfen. Er weiß, daß sie keine Träger hätte, anrührend ist das Bild der riesenhaften Schwarzen aus Martinique, die in der Krypta von Saint Dénis als letzte das Andenken der Kapetinger, der Valois, der Anjou und der Bourbon verteidigt. Die einzige königliche Tat, die Pharamond vollzieht, ist denn auch die Handauflegung, mit der er nach seiner Salbung einen kranken Jungen heilt, gemäß der berühmten, in der letzten Phase des Ancien Régime schon aufgeklärterweise abgeschafften Überlieferung von den rois thaumaturges (wundertätige Könige).
Sire ist ein romantisches Buch, man könnte sich vorstellen, daß Pierre Joubert es gern illustriert hätte. Damit ist sein Wert nicht unterschätzt. Im Heerlager der Heiligen heißt es, daß nichts stärker sei als eine Haltung, und an anderer Stelle schrieb Raspail: „Wenn man für eine (fast) verlorene Sache steht, dann muß man ins Horn stoßen, sich auf sein Pferd schwingen und den letzten Ausweg suchen, denn sonst stirbt man an jämmerlicher Altersschwäche auf dem Boden einer vergessenen Festung, die niemand mehr belagert, weil das Leben sie verlassen hat.“