Die Staaten, die den Weltmarkt schufen, gingen – so würde es gegenwärtig heißen – aggressiv, extrem rassistisch und vor allem nationalistisch vor. Aber sie legitimierten sich mittels Rechts- und Staatsauffassungen, die dem Westen als vermeintlich humanistisches Erbe wichtig sind und der Welt als Muster vorgehalten werden.
Nebenbei: Gerade der Begriff des Liberalismus ist stets zu prüfen, verheißt er doch ökonomisch mehr, als er ethisch leistet. So bleibt zu fragen, wer denn genau in den Genuß von juristisch gewährten Freiheitsrechten kommt. Wem nützen sie, weil er die intellektuelle Befähigung und die finanziellen Mittel zu ihrer aktiven Wahrnehmung mitbringt?
Der Marxismus bewunderte den Liberalismus; Marx selbst startete als Liberaler, forderte dann aber zur rechtlichen Emanzipation die soziale. Diesen Anspruch trug die Arbeiterbewegung durch hundertfünfzig Jahre Geschichte, u. a. mit dem Ergebnis, daß sich Zielstellungen sozialdemokratisierten und seit den Fünfzigern vom Primat der Leistung zu jenem der Fürsorge wandelten, mitunter so, daß gar nicht mehr nach Leistung gefragt wird.
Gut, das Wahlrecht hat sich gewandelt, die Menschenrechte wurden formuliert und sind beinahe weltweit einklagbar, kein US-Präsident hält mehr Sklaven, und London steht ein islamischer Bürgermeister vor. Außerdem entschuldigt man sich fortlaufend für die einstige Greuel gegenüber indigenen Völkern, Museumsexponate werden an frühere Kolonien zurückgegeben, das Schuldbekenntnis scheint dauerritualisiert, und in Europa ist man eifrig auf der Suche nach immer neuen Gruppen, die sich diskriminiert und ausgegrenzt fühlen und die man endlich, endlich gleichberechtigen müsse.
Während es mindestens die USA aus pragmatischen Gründen in der Nachkriegszeit ganz selbstverständlich legitim fanden, für ihre Interessen Militärdiktaturen in Lateinamerika und Asien einzuspannen und zum Schutz der Erdölversorgung auf reaktionäre islamistische Regimes zu setzen, während Staaten Westeuropas noch nach 1945 blutige Kolonialkriege führten, schienen die Vereinigten Staaten mindestens in der Regierungszeiten Clintons und Obamas humanistisch durchgeläutert.
Bis Donald Trump die Wahlen gewann. Würde er sich selbst als Liberalen sehen? Sicher nur in gewissen Anteilen. Die Art, wie er eine Konversion liberaler Grundbestände betreibt, ist symptomatisch für die gegenwärtige politische Tendenz. Außenpolitisch jedenfalls ist Trump ganz zu Recht auf China fixiert.
Obwohl der einst so sündige Westen immerfort die Menschenrechte predigte und sich für ein paar illusionäre Jahre in den Neunzigern gerade deswegen als Sieger der Geschichte wähnte, zog er mit seinem Kapitalexport und im Sinne seiner Absatz‑, Markt- und Konsumbedürfnisse die nationalkommunistische Diktatur der „Volksrepublik“ Chinas groß und ließ sich dabei mit einer Staatspartei ein, deren Blutspur noch länger ist als jene des Bolschewismus und Stalinismus.
Mag sein, daß der Westen im Sinne des eigenen Narrativs zunächst erwartete, China würde sich gerade durch die Einführung der Marktwirtschaft quasi evolutionär liberalisieren. Als sich das als Trugschluß erwies und das Land sich nach innen so rigoros diktatorisch wie nach außen immer imperialer gebärdete, ließ man das durchgehen, zum einen, weil einem die neue Supermacht längst über den Kopf gewachsen war, zum anderen, weil man wachstumsfixiert den Riesenmarkt des Landes brauchte, allein schon zur Sicherung von Millionen Arbeitsplätzen im eigenen Land.
Daß die moralischen Appelle des Westens nichts als heiße Luft sind, dürfte mittlerweile die ganze Welt wissen. Nirgendwo kämpft der Westen im Sinn der „Menschenrechte“, es sei denn dies legitimiert die Durchsetzung seiner wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen. – Gegnern gegenüber, die er noch bezwingen kann. In dem Fall führt er selbst völkerrechtswidrige Kriege wie jenen in Jugoslawien.
China aber ist nicht Serbien, sondern ein Koloß in Ergebnis seiner eigenen ökonomischen Erfolgsgeschichte, seitdem Deng Xiaoping den Kapitalismus im Kommunismus implantierte. Offenbar verhält es sich so, weil die Grundvereinbarungen im Land ganz andere sind als im Westen. Man möchte das nicht bewundern, denn der chinesische Erfolg in Gestalt einer unheimlichen Chimäre aus Turbokapitalismus und Neokommunismus gründet auf politischer Brutalität; man kann es aber bedenken, mindestens in Anteilen, etwa jenen des Bildungswesens und überhaupt leistungskulturell.
China fördert Talente, und sein Konfuzianismus erweist sich nationalkommunistisch als kompatibel. Der Westen hingegen fördert vorzugsweise die Schwachen, was wiederum humanistisch ehrenwert sein mag, aber er bremst systemisch die Starken, wiederum ausgehend von völlig verfehlten Schwerpunktsetzungen seiner Bildungswesen, die eher schlecht und recht sozialpädagogisch betreuen als daß sie Verstand und Sprachvermögen anregen und zur Leistungsbereitschaft erziehen.
Während Europa sich in Teilen als Sozialagentur Schwarzafrikas versteht, betreibt China in dieser Richtung eigennützige Investitionen. Man kann das als Entwicklungshilfe auffassen, sollte das aber wohl eher als modernen Kolonialismus ansehen, der allerdings manchem verlorenen schwarzafrikanischen Land oder mindestens dessen Machthabern entgegenzukommen scheint, zumal China nicht nach Demokratie und Menschenrecht fragt, sondern korrupte Regierungen im Sinne nationalchinesischer Interessen einzuspannen bereit ist.
Der Westen ist fasziniert von China, solange er dort Waren absetzen und von dort Billigprodukte beziehen kann, er sieht aber nicht, daß er gegenüber dieser Diktatur längst auf der Verliererstrecke läuft. Wenn die USA China etwas entgegensetzen wollen, so gelingt das traditionell liberal gerade nicht. Das scheint Trump klar zu sein. Liberales, auch marktliberales Handeln bedarf der Stärke des Akteurs. Es steht zu befürchten, daß diese Stärke schwindet, auf mehreren Ebenen.
Mag sein, man muß aus dem ehemaligen Ostblock kommen, um die Grenzen vermeintlichen Liberalismus erkennen zu können. Empfehlenswert dazu ein jüngst in der FAZ veröffentlichter Essay von Ivan Krastev, einem bulgarischen Politologen, der das Centre for Liberal Strategies in Sofia leitet. Krastev Intention besteht zwar darin nachzuweisen, daß der Liberalismus weiterhin „die politische Idee bleibt, die im 21. Jahrhundert zu Hause ist“, aber er sieht klar dessen Defensive und nennt dafür die Gründe oder stellt mindestens die richtigen Fragen:
Nicht der Aufstieg des Autoritarismus, sondern die Verwischung der Grenzen zwischen Demokratie und Autoritarismus lähmt das liberale Denken im Westen. Was ist der Unterschied zwischen der Behauptung des Kremls, es gebe keine Alternative zu Putin, und unserer These, es gebe keine Alternative zur aktuellen Wirtschaftspolitik? Was unterscheidet Putins Rußland von Erdogans Türkei, Modis Indien und Bolsonaros Brasilien? Und unterschiedet es sich deutlich von Orbáns Ungarn und Trumps Amerika? Sind wir sicher, daß wir noch in liberalen Demokratien leben? Und ist der Unterschied zwischen Demokratie und Autoritarismus überhaupt noch sinnvoll in Gesellschaften, die vom großen Geld und von neuen Technologien manipuliert werden? Das sind die Fragen, die viele Amerikaner und Europäer sich heute stellen. (…) Könnte es sein, daß die konkurrenzorientierten Wahlen im Westen – geprägt von der manipulativen Macht des Geldes, entstellt von der wachsenden politischen Polarisierung und durch einen Mangel an echten politischen Alternativen ihres Sinns entleert – den vom Kreml inszenierten Wahlen ähnlicher sind, als wir glauben möchten? Ist der Aufstieg des Populismus im Westen ein Indiz für eine Konvergenz zwischen Demokratie und Autoritarismus?
Ja, wohin mag es gehen? Weiter, ins Unvertraute.
quarz
Ein bemerkenswertes, aber so gut wie nie reflektiertes Faktum am Rande: der Religionssoziologe Rodney Stark schätzt aufgrund aktueller Bestands- und Wachstumsraten sowie Dunkelzifferanalysen, dass im Jahr 2030 fast 300 Millionen Christen in China leben werden. China wäre dann das christenreichste Land der Erde.
Man darf gespannt sein, wie sich das ggf. auf den "konfuzianischen Nationalkommunismus" auswirken wird.