Waren Sie schon einmal im Herbst auf der Straße? Also, so richtig auf der Straße bei einer Demonstration, oder einer Kundgebung? Falls ja, so haben Sie vielleicht eine Ahnung, was ich meinte, als ich vor zwei Jahren in einem Artikel für die Druckausgabe vom “warmen Licht” schrieb, “welches Revolutionen im Herbst so reizvoll macht”.
Heute weiß ich: Es begegnet einem vor allem in den großen Kulturstädten unserer Zivilisation. Ich schrieb diese Zeilen damals über meinen ersten Besuch bei Pegida in Dresden, das war irgendwann Ende November, Anfang Dezember 2014. Und ich mußte heute – fünf Jahre später – an dieses Licht denken, als ich die Bilder vom diesjährigen 1683-Gedenkmarsch in Wien betrachtete.
Als ich die Bilder sah, da wußte ich noch gar nichts vom überraschenden Verlauf des Tages. Ich hatte noch nicht mitbekommen, daß es kurzzeitig so ausgesehen hatte, als würde der Marsch weitestgehend ins Wasser fallen. Ich wußte nicht, daß linksextreme Gegendemonstranten die wichtigsten Hauptzufahrten zum ursprünglichen Versammlungsort am Kahlenberg blockiert hatten – obgleich ich offensichtlich nicht der einzige war, der damit gerechnet hatte.
Noch viel weniger bekannt war mir, daß für den Gedenkzug durch eine kluge Vorabplanung längst eine Alternativroute mitten durch die Wiener Innenstadt vorgesehen war und die eigens angereisten Roten spätestens am Abend einsehen mußten, daß man sie im sprichwörtlichen Regen hatte stehen lassen. Ein gelungener Schachzug, der zur Folge hatte, daß die 400 Demonstranten ihre Botschaft mitten in die belebte Wiener Fußgängerzone tragen konnten.
Wer schon einmal eine Demonstration organisiert hat, der weiß, daß es unter Einberechnung von Vorgesprächen, Beauflagungen und Gegenprotesten dieser Tage schon eine gehörige Portion Verhandlungsgeschick und Behördenglück braucht, um eine Route mitten in der Stadt durchzukriegen. Nicht ohne Grund war mit dem Kahlenberg ja ein wesentlich weniger zentraler, dafür ruhigerer Kundgebungsort gewählt worden, der dem feierlichen Gedenken angemessen gewesen wäre.
Daß aus der würdigen Kundgebung am Stadtrand ein kraftvoller Demonstrationszug durch das Herz von Wien wurde, daran hat also die Wiener Antifa einen nicht unmaßgeblichen Anteil. Ihren unruhigen Fingern, die noch am Abend empört in die Tasten sprangen, ist es zudem mit zu verdanken, daß der Gedenkmarsch am nächsten Morgen bereits in aller Munde war: Eine lokale FPÖ-Politikerin hatte auf der Kundgebung gesprochen und ihrer Freude über den großen Anteil an Jugendlichen unter den Demonstranten Ausdruck verliehen – ein Affront, der dieser Tage offenbar als Skandalschlagzeile taugt.
Wie gesagt: Das wußte ich alles noch gar nicht, als ich die Bilder sah. Was mir aber sofort auffiel, war wieder jenes besondere Licht von dem ich oben schrieb – der Schein von Fackeln, Kerzen und alten Straßenlaternen, warm zurückgeworfen auf die jungen Gesichter von den Fassaden aus einer Zeit, als bauliche Schönheit noch ein Gemeingut gewesen ist – Dieses Licht meine ich.
Ich wußte also, um zum Schluß zu kommen – schon relativ schnell, daß sich in Wien alles zum Besten ausgegangen war. Das bestätigten mir auch die Hallenser Delegation, die mit einem vollem Auto angereist war und einen Redebeitrag beisteuerte. Es muß wohl eine ganz und gar runde Veranstaltung gewesen sein und ich lege meinen Lesern nahe, das Versäumen derselben mindestens so sehr zu bedauern, wie ich mir vorgenommen habe, das nächste Mal dabei zu sein.
Mein besonderer Ehrengruß geht heute abend stellvertretend für alle Organisatoren des Marsches, an Philipp, Fabian und Richard, die uns vor anderthalb Monaten in Halle schon sehr genau über die Schulter geschaut und offensichtlich die richtigen Schlüsse aus der schwierigen Lage jenes Tages gezogen haben.
Er geht aber – dem kleinen pressepolitischen Rückzieher zum Trotz – auch an die (nicht amtsausübende) Wiener Stadträtin Stenzel, die begriffen hat, daß das Gedenken an die Helden von Wien ein Akt der Tradition ist, dem sich jeder Europäer unabhängig von Partei oder Organisation verpflichtet fühlen sollte.
Übrigens: Als erste Reaktion auf ihre Teilnahme hat die FPÖ angekündigt, im kommenden Jahr eine eigene Gedenkveranstaltung durchzuführen, damit gedenkwütige Patrioten sich nicht aus Versehen auf einer identitären Kundgebung wiederfinden. Das ist sicher ein Bier, das etwas schal schmeckt, aber nach den freiheitlichen Enttäuschungen der letzten Monate ist es auch ein modus vivendi mit dem man fast schon leben kann.
quarz
"dem kleinen pressepolitischen Rückzieher zum Trotz"
So kurz vor wichtigen Wahlen, in deren Vorfeld die Kontrolleure der Informationsflüsse das rationale Argument aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend verbannt und durch ein täglich neu eingepeitschtes Reiz-Reaktions-Schema aus Stigmatisierung und Empörung ersetzt haben, ist freilich auch der schlechtest denkbare Zeitpunkt für ein grundsätzlich begrüßenswertes Bekenntnis einer FPÖ-Politikerin zur identitären Bewegung.
Der Konnex "identitär=böse" wurde in den Köpfen vieler Bürger erfolgreich neurologisch etabliert und gilt infolgedessen als Selbstverständlichkeit, die keine Begründung erfordert. Man kann ihn und die daran gekoppelte Ablehnungsreaktion nach Bedarf verlässlich abrufen und politische Akteure über diesen Zusammenhang kontaminieren und ihrer Wahlchancen berauben.
Die gezielte Dekonditionierung muss daher zeitlich in einer Phase stattfinden, in der sich diese Effekte nur in den Umfragewerten, nicht aber in Wahlergebnissen niederschlagen können.