Da er vermögend genug war, um nicht auf Brotarbeit in den Mühlen des akademischen Mittelbaus und der Lehrstühle angewiesen zu sein, blieben ihm Verbiegungen und karriereförderliche Zugeständnisse an die Moden des Zeitgeistes erspart: Er konnte die Freiheit des ‚Privatgelehrten‘ kultivieren, um ein solitäres Werk hervorzubringen. Errang Kondylis anfangs als Außenseiter des akademischen Betriebs wenig Aufmerksamkeit, werden seine Arbeiten inzwischen längst auch von den Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten wahrgenommen und ausgebeutet. Sowohl in Deutschland als auch in Griechenland veröffentlichte er zahlreiche, teils dickleibige Monographien, die ein Spektrum vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, von der philosophiegeschichtlichen Spezialstudie bis zur Epochenanalyse und politischen Diagnostik umfassen, wovon mindestens seine Deutung der europäischen Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, die Studie über den ‚Konservativismus‘, seine Analyse der Theorie des Krieges bei Clausewitz, Marx, Engels und Lenin wie auch seine Geschichte der neuzeitlichen Metaphysikkritik als Standardwerke gelten. Darüber hinaus hat er sich in erstaunlichem Maß als Übersetzer und Kulturmittler betätigt: Neben Schriften von Machiavelli, Chamfort, Montesquieu, Lichtenberg, Rivarol, Karl Marx und Carl Schmitt, um nur einige zu nennen, übertrug er auch ein heute so abgelegen scheinendes Buch wie James Burnhams frühe Analyse der Technokratie als Revolution der Manager ins Griechische. Die eigenen Arbeiten übersetzte er selbst in seine Muttersprache beziehungsweise ins Deutsche. Kondylis nahm außerdem mit zahlreichen Essays und Aufsätzen lebhaften Anteil an aktuellen Debatten in deutschsprachigen und griechischen Zeitungen und Zeitschriften.
Die Bedeutung seines Werkes geht jedoch über die akademischen und allgemein anerkannten Erträge etwa für eine europäische Geistesgeschichte hinaus: Sie ist vor allem in seiner klärenden Begriffsarbeit, seinem Denkstil sowie dem wachen Gespür für das Politische in Geschichte und Gegenwart zu sehen. Kondylis ging es zeitlebens um das Wesen des ‚Sozialen‘, um das ‚Politische‘, um das Wesen der ‚Macht‘ als das Menschliche schlechthin. Dabei suchte er Anschluß an klassisch gewordene ‚realistische‘ Denker wie Thukydides, Machiavelli, Hobbes, Marx und Nietzsche, übernahm aber auch wesentliche Akzente aus den Debatten der Zwischenkriegszeit, die sich etwa mit Namen wie Carl Schmitt, Ernst Cassirer und Karl Mannheim verbinden. Während Westdeutschland im Schatten nord-amerikanischer Atomraketen schlummerte, hat der Grieche damit einen auf konkrete Lagen und deren Eskalationsmöglichkeiten bezogenen Denkstil, einen politischen Analysemodus wachgehalten, der hier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter einer offiziösen Kompromißund Konsensrhetorik endgültig verschüttet zu werden drohte. Als einer der „bedeutendsten Erben und Vollstrecker“ der deutschen philosophischen Tradition (Gustav Seibt) schien Kondylis deren fleischgewordene Synthese mit jenem auf die Antike gegründeten ‚Griechentum‘ zu bilden, auf das man hierzulande von Hölderlin bis Heidegger stets fixiert war.
Sein erstes deutsches Buch, eine über 700 Seiten umfassende gekürzte Variante seiner Dissertation, ist in souveränem Zugriff auf die Quellen der Analyse des frühen Denkwegs von Hölderlin, Schelling und Hegel gewidmet, der Entstehung der Dialektik, deren Ursprung er in Hölderlins Vereinigungsphilosophie erkannte. Schon hier verhandelte Kondylis in systematischer Hinsicht exemplarisch das Problem der Beziehungen zwischen Geist und Sinnlichkeit, der Lust an der Macht auch in der intellektuellen Welt. Die dabei entwickelte methodische Leitfrage, „wie sich ein systematisches Denken als Rationalisierung einer Grundhaltung und ‑entscheidung allmählich herauskristallisiert, und zwar im Bestreben, Gegenpositionen argumentativ zu besiegen“, bleibt auch für die folgenden Arbeiten zentral. In seiner großen Studie über die Aufklärung entfaltet Kondylis 1981 eine „Entdeckung“ seines ersten Buches: die „Rehabilitierung der Sinnlichkeit“ als wichtiges Anliegen jener Epoche. Ein beachtenswertes Ergebnis war in diesem Rahmen auch seine weiterführende Diskussion des nur scheinbar strikt antagonistischen Begriffspaares Rationalismus / Irrationalismus, die den irrationalen Urgrund jedes rationalen Systems herausstellt: Rationalismus ist für ihn nur „die zweckmäßige, formallogisch einwandfreie Verwendung der argumentativen Mittel, die das Denken zur Verfügung stellt, zur Untermauerung einer Grundhaltung“; diese Grundhaltungen beziehungsweise ‑entscheidungen selbst liegen „jenseits logischer Begründung“, müßten also „ihrem Wesen nach als mystisch bezeichnet werden“. Rationales Denken ist demnach, mit einfachen Worten, das methodisch schlüssige Entfalten eines Vorurteils zum begründeten Urteil. In solchen Grundentscheidungen haben auch die ‚Werte‘ ihre Basis, das heißt eine rationale Letztbegründung moralischer Normen scheint nicht möglich; Kondylis’ früh an ‚klassischen‘ Texten erarbeiteter Reflexionsstand erweist sich auch hierin späteren, insbesondere im angelsächsischen Raum mit anderem Instrumentarium vorangetriebenen Arbeiten als ebenbürtig.
Die bis dahin nur am Rande zweier materialreicher Studien in der Begriffsarbeit enthaltene philosophische Anthropologie bündelte und systematisierte er in einem seiner schmaleren Bücher, das zur Programmschrift der eigenen skeptischen Theoriebildung wurde: Macht und Entscheidung (1984) stellt die „Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage“ im allgemeinen auf den Prüfstand. Weltbilder sind für Kondylis grundsätzlich polemisch aufgebaut; sie beruhen auf Akten der Entscheidung im Sinne einer Komplexitätsreduktion, denen das einzelne Subjekt nicht nur seine Welt, sondern auch „seine Identität und konkrete Sehweise“ verdankt. Jeder dieser vorbegrifflichen und begrifflichen Akte der Sonderung ist für ihn bereits Machtanspruch, denn das Subjekt verbindet „den Sinn der Welt mit der eigenen Stellung in ihr“, also stets in der sozialen Relation zu anderen. Dabei ist dies keineswegs auf krisenhafte Zustände beschränkt, sondern eine grundlegende Operation menschlicher Existenz. Auch das „geistige Leben“ gehorche, so Kondylis, „den gleichen Gesetzen wie alle anderen Erscheinungen des sozialen Lebens“ und verschränke sich demgemäß ebenso „mit dem Selbsterhaltungstrieb und- bestreben, mit dem Machtanspruch und ‑kampf“. Es war symptomatisch, daß dieses Buch bei seinem Erscheinen nur wenig besprochen und damit öffentlich kaum zur Kenntnis gebracht wurde.
Kondylis, der sein Modell konsequent auch auf die Wissenschaften mit ihren abstrakten, mathematisierten, auf Werturteilsfreiheit gestützten Verfahren anwandte und darin dieselben polemisch-agonalen Prinzipien erkennen wollte, vertrat damit pragmatische Tendenzen der Wissenschaftstheorie; deren Wurzeln reichen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück und sind etwa schon in Karl Mannheims wissenssoziologischer Abhandlung über „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“ von 1929 zu finden. Solche heute von manchen noch immer als Zumutung empfundenen Einsichten waren bei den avancierteren Intellektuellen der deutschen Zwischenkriegszeit, als „Ausnahmezustände“ fast die Regel schienen, bereits einmal Gewißheit, keineswegs nur in Alfred Baeumlers Nietzsche-Deutung oder bei Carl Schmitt, also bei den „Schmuddelkindern“, mit denen man bekanntlich nicht spielen darf. „Im Grunde freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu haben“, propagierte etwa Walter Benjamin 1927 in Denkbilder – Moskau die „Entschiedenheit“ als Ergebnis einer den vorbewußten Akt einholenden „Entscheidung“. Dies gilt ebenso für ein auf konkrete Lagen bezogenes Denken, das, folgt man Bertolt Brecht, einerseits Situationen kannte, in denen höchste Einsätze, das „Einverständnis“ mit dem Sterben gefordert war, andererseits solche, die den „Neinsager“ mit der Forderung auf den Plan riefen, „in jeder neuen Lage neu nachzudenken“.
Freilich distanziert sich der von Marx herkommende Kondylis auf einer sachlichen Ebene vom „militanten Dezisionismus“ Carl Schmitts ebenso wie von seinen „normativistischen“ Gegnern: Man müsse um der theoretischen Neugier willen die These ernst nehmen, „Welt und Mensch seien an sich sinnlos“. Von daher sind auch Kondylis’ politische Ausführungen zur geistigen Selbstaufgabe durch „Übernahme des Siegerstandpunktes“ nicht etwa speziell auf die heutigen Deutschen gemünzt. Wer von diesen würde im übrigen denn eine „Ideologie der Sieger“ als solche erkennen und dann auch noch als Problem verstehen wollen? Der Grieche zielt vielmehr mit seinem „deskriptiven Dezisionismus“ auf allgemeine Befunde und gibt ein vom Spiel der Kräfte dieser Welt losgelöstes Erkenntnisinteresse vor: Er operiert scheinbar leidenschaftslos mit dem klinisch kalten Licht der Sezierung, die allein das Wirkungsgefüge sozialer – geistesgeschichtlicher, historischer sowie politischer – Konstellationen bloßlegen will. Dabei gestattet sich Kondylis allenfalls ein verhaltenes Pathos der Erkenntnis, wenn er als Credo formuliert: „Ich finde es aufregend und spannend, daß auf diesem Planeten die Materie oder die Energie, wie man will, zum Bewußtsein von sich selbst gekommen ist, daß es Wesen gibt, die in ihrem Machterweiterungsstreben den ‚Geist‘ in der ganzen Vielfalt seiner Formen und seiner erstaunlichen Spiele erzeugen und sich am liebsten mit Hilfe von Glaubenssätzen und Theorien gegenseitig vernichten“. Normativistische Einwände wischt Kondylis beiseite als Äußerungen einer auf Nestwärme erpichten, erkenntnisfeindlichen Empfindsamkeit einerseits, als selbst im Kampf um Macht instrumentalisierte geistige Waffen andererseits: Er will beharrlich das Factum brutum, die „Tatsachen“, die formalen Strukturen politischer, mithin sozialer Prozesse in den Blick rücken, um mit dem „Takt des Urteils“, so seine von Clausewitz stammende Lieblingswendung, möglichst verläßliche Grundlagen für eine „zukunftsorientierte Lagebeschreibung“ zu gewinnen. Kondylis, der in seiner auf drei Bände angelegten, durch den frühen Tod Fragment gebliebenen Sozialontologie Das Politische und der Mensch (1999) die Erträge seiner bisherigen Arbeit zu einer großen Synthese zusammenführen und seinen machtbezogenen Ansatz weiter ausbauen wollte, läßt freilich manche Fragen offen und hat bisweilen eine reduktionistische Tendenz: Wo er sich etwa dazu versteigt, „daß jede theoretische Position als Gegenposition“ entstehe, beschneidet er das Denken auf reine Re-Actio, die jede freie Actio negiert. Da von seiner theoretischen Gesamtschau, die auf die unterhintergehbaren Kategorien und Konstanten sozialen Seins von der menschlichen Urhorde an zielte, nur der erste Band vorliegt, muß aber offen bleiben, worauf das ganze Unternehmen letztlich zusteuerte.
Mit zwei großen Studien über den Konservativismus (1990) und den Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (1991), die bereits wesentliche Bausteine seiner später in Angriff genommenen systematischen Sozialontologie enthalten, leitete Kondylis auch seine intensive Beschäftigung mit den globalisierten Dimensionen heutiger Politik ein. In ihnen zeigt sich der Wert einer gründlichen und kritischen Schulung an den Originaltexten von Marx und Engels: Kondylis’ ideenhistorische Analysen, die auf idealtypische formale Denkstrukturen und –figuren ausgerichtet sind, verlieren nie die Bodenhaftung, sondern bleiben sozialgeschichtlich verortet, damit im besten Sinn konkret. Diese beiden Studien beschreiben zwei folgenreiche historische Übergänge oder Brüche in Europa: Der Konservativismus wird begrifflich der alteuropäischen, ständisch geprägten Adelswelt zugeschlagen, deren Untergang in die liberale Moderne mündete. Diese wiederum ist als Epoche der Bürgerlichkeit von einer massendemokratischen Postmoderne abgelöst worden, in der eine „analytisch-kombinatorische“ Denkfigur zur Vorherrschaft kommt und weltweit ausgreift: Die unter dem Signum einer „synthetisch-harmonisierenden“ Denkfigur stehende bürgerlich-liberale Moderne hatte in Kondylis’ Augen grundsätzlich die Tendenz, eine Harmonisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter übergeordneten Kategorien, etwa dem Staat, anzustreben; die massendemokratischen Lebensformen basierten hingegen auf atomisierten, fast beliebig kombinierbaren, prinzipiell gleichberechtigten Elementen, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Produzieren und vor allem das Konsumieren ist.
Aus diesen Arbeiten heraus entwickelte sich Kondylis zu einem veritablen Theoretiker der „Globalisierung“: Deren Gestalt und Ideologie versuchte er in den 1990er Jahren in dem schlanken, aber gewichtigen Buch Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg und in zahlreichen Essays zu umreißen, deren wichtigste 2001 in dem Sammelband Das Politische im 20. Jahrhundert zusammengefaßt wurden. Ihm geht es dabei weiterhin vor allem um eine „mehr oder weniger sachgerechte Erfassung des Charakters jener Triebkräfte und jener geschichtlich aktiven Subjekte, die durch ihr Wirken und ihre Begegnungen die Vielfalt der Ereignisse ins Leben rufen und somit den Bereich möglichen Handelns abstecken“. Zukunft ist dabei nur als „Form und Möglichkeit, nicht als Inhalt und Ereignis erkennbar“. Die gegenwärtig zum Schlagwort verkommene Globalisierung via Technik und Wirtschaft steht in einer Kontinuität diverser Formen planetarischer Politik, die sich mit der Neuzeit entfaltete, von den frühneuzeitlichen Entdeckungsreisen, Eroberungszügen und dem Ausbau des Kolonialhandels an bis zur industriellen und liberalen Revolution im 19. Jahrhundert, die mit dem Liberalismus den klassischen Imperialismus hervorbrachte. Schließlich trieben die Wirkungen des liberalen Kapitalismus der so verfaßten Gesellschaften auch im Inneren jenen Vermassungsvorgang voran, den Kondylis als Transformationsprozeß des bürgerlichliberalen Systems in eine moderne Massendemokratie beschrieben hat.
Der sich damit durchsetzende Topos „Wohlstand für alle“ entspricht einer gesellschaftlichen Verfaßtheit mit fortschreitender „Demokratisierung“ und sozialer Mobilität, und dieser wiederum einer individualistischen, egalitären und wertpluralistischen, tendenziell hedonistischen Ideologie, die ihren Begriff im Ideologem der „Selbstverwirklichung“ der 1968er-Generation gefunden hat. Der Kommunismus als scheinbarer Antagonismus zum „Westen“ hat in seinen Wirkungen dafür gesorgt, daß sich der massendemokratische Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und Konsumzugang weltweit durchsetzen konnte, normativ widergespiegelt in den „Menschenrechten“ und der Würde jedes einzelnen Menschen, indem er eine eigene Interpretation der Menschenrechte im „antiimperialistischen Befreiungskampf“ einsetzte, verbreitete und dadurch „den Westen“ im Kampf um politischen Einfluß zu Überbietungsreaktionen herausforderte. „Das Auftreten der unteren Schichten der Weltgesellschaft auf der internationalen Bühne wird daher immer selbstbewußter und die Grenze zwischen den Subjekten und Objekten planetarischer Politik immer flüssiger. Diese dramatische und epochemachende Wandlung springt ins Auge, wenn man sich den Stellenwert mancher asiatischer oder arabischer Staaten in der planetarischen Politik vor fünfzig Jahren im Vergleich zu heute vergegenwärtigt“. Hier entstehe tatsächlich „zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte eine wahre Weltgesellschaft, die zwar durch erhebliche faktische Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten gekennzeichnet ist, doch sich andererseits zur prinzipiellen Gleichheit ihrer Mitglieder bekennt und ihnen dieselben Rechte zuerkennt“; sie ist zwar nicht realiter vollkommen umgesetzt, verwirklicht, aber sie ist stets als Anspruch, als propagiertes Faktum präsent, an dem sich alle politisch Agierenden bewußt oder unwillkürlich ausrichten. Damit wird, nach dem vorläufigen Ende des Kommunismus, jedoch keineswegs die liberale Utopie der befriedeten Weltgesellschaft evoziert: Kondylis ist, wie Armin Mohler treffend zugespitzt hat, ein „Anti-Fukuyama“, das heißt, er sieht mit der Auflösung der bipolaren Welt des Kalten Kriegs nicht etwa ein „Ende der Geschichte“ gekommen, da der Mensch als animal sociale stets den idealtypischen Handlungsoptionen von Konkurrenz, Konflikt und Kooperation, der Definition von Freund, Neutralem und Feind nicht entkommen kann. Allenfalls sieht er einen Formenwandel geschichtlicher Aktionen; im Gegensatz zu Francis Fukuyama, aber auch zu Carl Schmitt, ist für Kondylis das Ende der Staatlichkeit beziehungsweise der Nationalstaaten nicht ausgemacht: Erscheine die Nation diesem oder jenem Kollektiv überholt, müsse es sich „erweitern und sich für eine andere Form von politischer Einheit entscheiden“; da Kollektive aber „ohnehin immer im Spiel bleiben“, sei auch die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, „daß dieses oder jenes Kollektiv die Nation und die entsprechende Organisationsform als das beste Mittel begreift, um seine Interessen geltend zu machen“. In Frage gestellt werden dürfe also nicht, ob „die Nation“ schlechthin überleben könne, sondern „ob diese oder jene bestehende Nation die Bedingungen der überlebensfähigen Einheit im planetarischen Zeitalter erfüllt oder nicht“. Es sei auch nicht die kulturelle Differenz als solche, die jenen clash of civilizations verursache, wie ihn der auf Kulturkreise fixierte Samuel Huntington annimmt; es ist vielmehr der „Verteilungskampf“, der „sich in bestimmten Lagen als Kulturkampf verkleiden“ muß. Kondylis, der Huntington eine „Unterschätzung des Nationalen“ vorwirft, geht also von konkreten, historisch gewachsenen Kollektiven als Handlungsträgern aus, das heißt den bestehenden Völkern und Staaten.
Vor dem Hintergrund der Begrenztheit der Ressourcen und des globalen Bevölkerungswachstums könne sich das „westliche“ Ordnungskonzept, das auf der Annahme einer bei allen Menschen gleichen „Würde“ basiert und eng mit materiellen Glücksversprechen verbunden ist, „in einen Auslöser von Unordnung verwandeln“. Nach der Ökonomisierung des Politischen im 20. Jahrhundert scheint auch künftig eine „Biologisierung“ der Konflikte und damit der Politik möglich: „Engpässe würden zur Instabilität und dauerhafte Krisen zu Zuständen führen, in denen sich die Ökonomisierung des Politischen zu einer Identifizierung der Politik mit der Verteilung von knapp gewordenen (auch ökologischen) Gütern steigern würde. Reduziert sich das Politische aber in Zeiten höchster Not auf die Güterverteilung, so muß eine Biologisierung desselben in doppelter Hinsicht eintreten: nicht nur wäre das (direkte oder indirekte) Ziel des politischen Kampfes ein biologisches, nämlich das Überleben in mehr oder weniger engerem Sinne, sondern auch die Unterscheidungsmerkmale, die dabei als Gruppierungskriterien dienen würden, wären höchstwahrscheinlich biologischer Natur, nachdem die traditionellen ideologischen und sozialen Unterscheidungen über den menschenrechtlichen Universalismus hinfällig geworden wären“. Was in der Globalisierungsanalyse von Panajotis Kondylis am Ende aufleuchtet, ist wiederum eine Haltung, die wir aus der Zwischenkriegszeit von marxistischer wie nationalrevolutionärer Seite her kennen: „Wenn das 20. Jahrhundert die kommunistische Utopie entlarvt hat, dann wird das 21. Jahrhundert die Abschaffung des Liberalismus bedeuten. Doch niemand weiß, welche konkreten Ereignisse diese großen Tendenzen im Hinblick auf das 21. Jahrhundert einleiten werden, das meines Erachtens das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden wird“.
Angesichts solcher Perspektiven rechnet Kondylis mit den traditionellen politischen „Lagern“ insbesondere in der deutschen Provinz ab. Die „Linke“ habe sich „zum Schlußlicht oder zum Rottenschließer des Amerikanismus gewandelt“, sie schöpfe „nicht mehr aus einer lebendigen marxistischen Tradition, nämlich der ausnahmslosen Verherrlichung des freiheitlichen Gedankenguts“. Sie, die einst den „‚nationalen Freiheitskampf des vietnamesischen Volkes‘ bejubelten“, verdammten „heute ‚alle nationalen Bewegungen‘, anstatt den Imperialismus anzuprangern, und machen sich für die Interpretation der Wirklichkeit die Parolen der Sieger zu eigen: die Globalisierung durch den internationalen Markt und durch die ‚Menschenrechte‘“. Die „Rechte“ wiederum suhle sich in „provinziellem Tiefsinn“ und bleibe in Deutschland – ebenso übrigens wie die „Linke“ – „auf die eigene nationale Vergangenheit fixiert“: Man betreibt „linken“ beziehungsweise „rechten“ Historismus und verliert die entscheidenden Fragen aus dem Blick. „Die strategische Frage lautet: Werden die wichtigsten europäischen Nationen durch Konsens oder durch gegenseitige oder einseitige Zugeständnisse eine handlungsfähige politische Einheit bilden, die in der Weltkonkurrenz bestehen kann, oder wird sich zu diesem Zweck die faktische Hegemonie einer Nation als notwendig erweisen – was an sich wünschenswerter wäre als der gemeinsame Untergang aller ?“
Der Gewinn von Kondylis’ an Hybris grenzender Attitüde eines zum Erdengewimmel nachgerade planetarisch distanzierten Beobachters ist eine intellektuelle Freiheit und Rücksichtslosigkeit, der standgehalten sein will. Als persönlicher Ermächtigungsversuch des Philosophen steht sein Werk ganz in der Tradition stoischer Denkübungen, geistiger Kneipp-Kuren, die die Widerstandskraft des gefährdeten – weil mit Einsicht geschlagenen – Intellekts erhöhen sollen, wie wir es etwa auch von der fatalistischen Monumentalperspektive des sensiblen Geschichtsdeuters Oswald Spengler oder den ins Imperiale gewendeten Schmerz-Etüden des Literaten Ernst Jünger kennen. Da Kondylis aber seine individuelle Freiheit für unbefangene philosophische und politische Analysen gerade der aktuellen restdeutschen beziehungsweise europäischen Zustände und Befindlichkeiten nutzte, ist ihr Wert auch für eine nüchterne, grundlegende Beurteilung der Lage „unserer“ im eigenen Geviert höchst bedrohten Horde evident: freilich allein für jene, die willens und fähig sind, sich über eine trostlose Eintagsfliegenexistenz hinaus als dauerhafteres, geschichtlich gewachsenes Kollektiv mit eigenen Interessen zu definieren und wahrzunehmen.