Für das seit Jahren kräftig austreibende alternative, bürgerliche und widerständige Milieu muß eine Ausrichtungsfrage beantwortet werden:
Was ist politisch noch möglich, wie lautet “unser” politisches Minimum? Man kann zur Beantwortung dieser sehr wichtigen und dringenden Frage auf dutzende Stellungnahmen aus den vergangenen Jahrzehnten zurückgreifen, aber bevor man dies tut, muß eines festgehalten werden:
Das Politische folgt anderen Bewegungsgesetzen als das Metapolitische. Was für den einen Bereich zwingend gilt, darf im anderen vernachlässigt werden oder kann sogar außer acht bleiben. Diese beiden Bereiche erneut deutlicher voneinander zu scheiden, mag also eine Nebenwirkung der folgenden Überlegungen sein, und das bedeutet: Neben einem politischen Minimum wird ein metapolitisches Maximum herausgearbeitet werden müssen – später einmal.
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1994 veröffentlichte der damals 35jährige Historiker und Gymnasiallehrer Karlheinz Weißmann unter dem Titel “Herausforderung und Entscheidung” einen Text “Über einen politischen Verismus für Deutschland” (so der Untertitel). Dieser Aufsatz erschien in dem von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband Die selbstbewußte Nation – einem der wichtigsten und wirkmächtigsten Projekte der sogenannten “Neuen demokratischen Rechten”, die den nicht-linken Schwung der Revolution von 1989 aufnehmen und Kräfte für eine politische Wende zu sammeln versuchte.
Neben Weißmann, Schwilk und Schacht ist der organisationsstarke Rainer Zitelmann als treibende Kraft dieses Versuchs zu nennen. 1994 war dieses Gegenlager auf dem Höhepunkt seines Einflusses angelangt, aber bereits Ende 1995 existierte die “Neue demokratische Rechte” nicht mehr, und es folgten die für den rechtskonservativen Ansatz schrecklichen zehn bleiernen Jahre – eine unerträgliche Zeit des Niedergangs der Projekte der Vorgängergeneration und des selbstausbeuterischen, unglaublich zähen Ausbaus weniger verlorener Posten: Die Junge Freiheit wäre an erster Stelle zu nennen, aber auch das Institut für Staatspolitik, der Verlag Antaios und die Sezession gehören dazu.
Zurück zu Weißmanns Text von 1994. Weißmann stellte darin zehn Thesen auf, in denen er die politische Lage zu beschreiben und Handlungsoptionen für eine realpolitische Rechte aufzuzeigen versuchte. Interessant sind seine Überlegungen auch nach fünfundzwanzig Jahren noch.
Er betonte das sich abzeichnende globale Pluriversum, thematisierte den schlechten Einfluß der Postmoderne auf die notwendige Verbindlichkeit der Institutionen , forderte mehr Staat und ein neues Denken und skizzierte die Umrisse eines “neuen Meinungslagers”, das “im innenpolitischen Streit eine exzentrische Position bezieht, die jenseits der alten Abgrenzungen liegt”.
Das für die Frage nach dem politischen Minimum Interessanteste an Weißmanns Text ist aber, daß er einen politischen Begriff zu setzen versuchte, hinter dem sich die “Neue demokratische Rechte” nicht nur sammeln, sondern mit dem sie zugleich Bescheidenheit nach außen signalisieren und eine Wahrnehmungs- und Sprechweise nach Innen festlegen sollte. Im Vorspann zu seinen Thesen schreibt Weißmann:
Als ‘Verismus’ bezeichnet man in der Kunstgeschichte eine Tendenz, die die Dinge ihrer ‘wahren’ Natur gemäß zeigt, d.h. auch vor der ‘häßlichen Wahrheit’ nicht zurückscheut, sondern dem Betrachter alles, wie es ist, vor Augen führt. Unter politischem ‘Verismus’ sei deshalb eine Position verstanden, die sich der Realität verpflichtet weiß, die ‘Tabuisierung der Wirklichkeit’ (Armin Mohler) ablehnt, den tröstlichen Unsinn meidet und dem inflationär gewordenen Schonungsbedürfnis mißtraut.
Soweit, und der einem politischen Verismus innewohnende Verzicht auf jedes Pathos, dieses Bescheidenheitssignal nach außen, diktierte Weißmann sozusagen die zehnte These in die Feder – sie wirkt wie eine nach außen gekehrte Handfläche, wie ein “seht her, wir kommen unbewaffnet”. Sie lautet:
Alle großen politischen Verschiebungen haben vor allem einen Wandel der Mentalität zur Folge. Das gesellschaftliche Klima schwankt erst unmerklich, dann deutlicher, was Auswirkungen auf die kollektiven Wertvorstellungen und Dispositionen hat. In diesen Zusammenhang gehören zum Beispiel die Phasen der Großen Ernüchterung in der Geschichte, etwa der Übergang zur “Realpolitik” nach den Blütenträumen der 48er Revolution im 19. Jahrhundert. Dem vergleichbar ist der ‘Verismus’ bis jetzt nur ein Niederschlag der veränderten politischen Atmosphäre, es handelt sich noch nicht um eine ‘Weltanschauung’, noch nicht um eine ‘Lehre’. Es entsteht vielmehr eine Plattform für Denkversuche, man beläßt es bis auf weiteres bei der Möglichkeit zur Revision und bewahrt sich davor, allzu schnell die notwendigerweise schwierigen Überlegungen abzuschließen.
In die Gefahr, schwierige Überlegungen allzuschnell abzuschließen, geriet die “Neue demokratische Rechte” gar nicht mehr – sie zerflatterte, nachdem ein erster großer, bis in die CDU hinein reichender Schulterschluß an der berühmten Feigheit der Mitte scheiterte. Was seit diesem Versuch immer und immer wieder im neurechten Lager diskutiert wird (nicht bezogen auf das innere geistige Reich, sondern ausschließlich auf Umsetzungsfragen!), hat in Weißmanns Text über den politischen Verismus eine Grundlegung erfahren.
Weißmanns nur andeutender, weil eben öffentlicher Hinweis auf ein kluges, mit einer seiner Lieblingsvokabeln ausgedrückt: realpolitisches Verhalten im vorpolitischen Raum, hat das schwierige und langwierige Herüberziehen der für Mehrheiten unabdingbaren Mitte bereits zum Hauptziel erklärt, dem alles andere unterzuordnen sei. Denn wer politisch gestalten will, braucht Macht, und Macht ist in einer Demokratie nur über demokratisch legitimierte Mehrheiten zu erreichen – parlamentarisch, direkt oder appellativ.
Auf dem mühsamen Weg dorthin muß die mögliche Mehrheit an Vokabeln, Argumente, Grundlagen, Wertungen und Tabus gewöhnt werden, deren sie jahrzehntelang entwöhnt wurde. Die Neudeutung und Rekonstruktion der kaputten Begriffe und falschen Schlußfolgerungen muß dabei wie ein langsames Unterschieben organisiert werden.
Die Gefahr der Ungeduld und der Machtphantasie bewog Weißmann dazu, der konservativen Intelligenz eine sehr bescheidene, aber gerade dadurch vielversprechende Grundlagenarbeit zu empfehlen: Ihr “politischer Verismus” müsse als ein Sammeln, Hinweisen, Aufdecken, Sortieren auftreten, keinesfalls als reine Lehre oder eine irgendwie geartete Kompromißlosigkeit, kurz: nicht als weltanschauliches Maximum, sondern als politisches Minimum, als anschlußfähiger Minimalkonsens, abgesichert durch eine geradezu brutale Abtrennung jener Teile von rechts, die in die Mitte hinein nicht vermittelbar wären.
Wer Weißmann je über das Scheitern der “Neuen demokratischen Rechten” sprechen hörte, weiß, daß dies sein politisches Trauma war und ist und daß er angesichts einer zweiten Chance (also jetzt, heute, gerade eben!) deren möglichen Verankerung in der mehrheitsbeschaffenden Mitte alles andere unterordnen würde.
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Sprung, dreizehn Jahre später, 2007, wiederum Weißmann. Er schrieb, das war selbstverständlich, den Eröffnungsband für die neue “reihe kaplaken” im Verlag Antaios. Das konservative Minimum erschien im Herbst und hat sich über die Jahre zu einem der bestverkauften Bände der Reihe entwickelt.
Weißmanns Ton ist in diesem Buch ein anderer als der von 1994. Das hat seinen Grund in der politischen Flaute, in der damals agiert werden mußte, in den von außen auferlegten Beschränkungen auf die Ausgestaltung und Konsolidierung der eigenen Strukturen. Noch 2011 bezeichnete Weißmann etwa die Junge Freiheit und das Institut für Staatspolitik als Projekte, die “zu einer Zitadellenpolitik gezwungen” seien.
In dieser Lage schrieb Weißmann härter, direkter, unversöhnlicher als 1994. Sein konservatives Minimum ist in seinen eigenen Worten “eine Kampf-Ansage”. Er hatte längst die Gefahr erkannt, daß der Begriff “konservativ” zu einer Versöhnungs- und Beschwichtigungsfloskel verkommen würde, zu einem Sedativum, einem politischen Beruhigungsmittel. “Das”, so Weißmann,
bedeutet allerdings einen Mißbrauch, dem hier begegnet werden soll. Deshalb ist das folgende als Inhalts- und Positionsbestimmung zu verstehen, als ein Versuch, dem Begriff ‘konservativ’ wieder einen guten Sinn zu geben, und das heißt: ihn als Kampfbegriff zu etablieren.” Der Kampf müsse aufgenommen werden: “Das, was Reinhard Maurer treffend als ’nachfaschistischen Defaitismus’ bezeichnet hat, müssen wir hinter uns lassen, den Kleinmut abstreifen, die lähmende Empfindung der vorweggenommenen Niederlage.
Das konservative Minimum ist die stringente und dichte Aufladung eines Kampfbegriffs. Um die harte Entgegensetzung zu illustrieren, zitierte Weißmann den damaligen Papst Benedikt XVI. und Thomas Mann: “Leben”, so Mann, sei der “im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff”; und der Papst sprach mit Blick auf unsere Zeit von einer “Kultur des Todes”, die sich als Vitalität maskiere und alles abräume, was an gedeihlicher Substanz, an Hegung, Dankbarkeit, Wohlverhalten, an Respekt vor der Vielgestaltigkeit, dem Schicksal und der Geschichte vorhanden sei.
Dagegen habe man anzutreten, so Weißmann, denn:
Unsre Existenz ist bindungslos, heimatlos, haltlos, glaubenslos geworden, und damit sind dem Leben feindliche Kräfte aufgestiegen.” Daraus sei Legitimität zum Widerstand abzuleiten, und wenn dieser Kampf, dieser Widerstand heute möglich scheine, “jedenfalls aussichtsreicher als in der jüngeren Vergangenheit, dann vor allem, weil die Konservativen weniger Rücksicht zu nehmen haben. Die Parteiraison kann ihnen gleichgültig sein, denn von denen, die sie vertreten, haben sie nichts zu erwarten.
Weißmann wähnt – zurecht – die Wirklichkeit auf seiner Seite und schreibt in einem verhaltenen Zorn gegen den “Konsens der Beschwichtiger” an,
deren Entschlossenheit, die Fakten zu verschweigen oder ruchlosen Optimismus zu pflegen umso größer wird, je eindeutiger die Tatsachen gegen sie sprechen.
Und weiter:
Es geht aber um Tatsachen, ganz gleich, ob es sich dabei um die Kriminalitätsrate handelt oder um den Analphabetismus, um die Kosten der europäischen Integration oder die Fälschung der deutschen Geschichte. Die Tatsachen bilden – nach einem Wort Heimito von Doderers – ‘unter den Erscheinungen des Lebens gewissermaßen das gemeine Volk … allerdings ein Volk mit derben Fäusten.
Es steckt in dieser optimistischen Legitimation des konservativen Widerstands die Überzeugung, daß die bizarren Gesellschaftsexperimente und Identitätskonstrukte, der hybride Individualismus und die Verbiegung des gesunden Menschenverstands, mithin die Vernutzung der Bestände tatsächlich von den derben Fäusten der Tatsachen und den kalten Duschen der Realität vertrieben und weggespült würden, wenn sie denn endlich mit voller Wucht direkt auf den Lebensvollzug durchschlügen.
So ähnlich hatte Weißmann das 1994 auch schon ausgedrückt, und das Warten auf den Kairos, den Einbruch der Tatsachen ist ja nachgerade eine konservative, rechte Hoffnungsphrase. Spätestens der Blick auf das Jahr 2015 sollte jedoch klarmachen: Die Hoffnung auf die Belehrung durch die Realität ist eben doch nicht nur eine Phrase.
Bleibt eines zu erwähnen: Den Begriff “politischer Verismus” versuchte Weißmann in seinem “konservativen Minimum” nicht erneut zu setzen.
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Es ist ein müßig, immer wieder auf die Bilanz der Politik der letzten Jahrzehnte hinzuweisen. Dieser schleichenden Katastrophe, dieser Auflösung aller Dinge fehlt das Alarmierende. Unsere Zivilisation? Für Arnold Gehlen ist das nichts anderes als die “Katastrophe im Zustand ihrer Lebbarkeit”.
Das von Max Weber beschriebene “stählerne Gehäuse” aus Institutionen, Bedürfnisbefriedigung und Verwaltungsnotwendigkeit, in das sich der einzelne Mensch innerhalb der Massengesellschaft gezwängt sieht, garantiert diese Lebbarkeit und schnürt natürlich auch den Politiker in ein Korsett:
Er wird zum anti-erhabenen Typ – wenn er es nicht schon immer war – und kann keine Alternative mehr formulieren. Die einzig realistische politische Alternative besteht in der Erkenntnis, daß, wenn überhaupt, dann in der Stärkung des Mehrheitsprinzips noch Widerstandsreserven gegen die massiven staatlichen Selbstzerstörungstendenzen zu finden sind.
Dazu aber ist nicht nur eine eindeutige Parteinahme für die Demokratie erforderlich, sondern auch die Bereitschaft, “anknüpfend” zu agieren. Denn wo außer in einer Mobilisierung der “Mitte”, im Namen des gesunden Menschenverstandes, wäre es heute noch möglich, Mehrheiten für eine andere Politik zu finden?
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Der wortgewaltige, SPD-konservative Publizist Peter Glotz prägte 1994 für die zu Anfang erwähnte Gruppe der “Neuen demokratischen Rechten” einen zweiten Begriff. Er nannte sie die “Normalisierungsnationalisten”, und er tat dies nicht in zustimmender, sondern in beschreibend-entlarvender Absicht.
Denn in dem durchaus treffenden Wort steckte zugleich die recht bescheidene Absicht des Projekts (nämlich: der Normalität wieder zu ihrem Recht zu verhelfen) und eine Warnung (nämlich: vor einem neuen Nationalismus in einem größer gewordenen, vielleicht doch nicht ganz widerlegten Deutschland).
Ich plädiere dafür, diesen Begriff nun zu setzen, ihn affirmativ zu verwenden, denn er ist eingängiger als der vom “politischen Verismus” und dynamischer als der immer wieder kursierende “neue politische Realismus”.
Aber: Geeigneter und treffender als die von Peter Glotz verwendete Variante ist eine um seinen denunziatorischen Aspekt bereinigte Fassung: Nichts dürfte das AfD-Projekt und sein “politisches Minimum” so genau treffen wie der Begriff “Normalisierungspatriotismus”. Darin stecken Minimalziel, Anknüpfungsfähigkeit, Ungefährlichkeit, Bezugspunkt, kurz: der kleinste gemeinsame Nenner in einem Wort.
Die Normalisierung der Verhältnisse, die Herstellung von Normalität in allen Lebensbereichen, Verfahrensfragen und Politikbereichen ist zugleich eine politische Minimalforderung und beinahe schon eine Überspannung der Kraft, und dies, obwohl in dem Aufruf zur Normalisierung das Defensive, das In-ein-Gleichgewicht-Bringen steckt – und keinesfalls eine Überdehnung in die andere, die nicht-linke Richtung.
Normalisierungspatriotismus: Das ist die Wiederherstellung des Selbstverständlichen und Tragfähigen, die Rekonstruktion des Angemessenen und Zuträglichen, und bereits das ist, so bescheiden es klingt, eine Herkulesaufgabe. Sie anzugehen und zu meistern, bedarf eines Bekenntnis- und Widerstandsmutes, der weit jenseits dessen liegt, was dem durchschnittlichen Bürger unserer Tage zuzumuten wäre. Gleichzeitig aber muß dieser überschießende Mut zur Normalisierung getragen werden von einer “Einsicht in das, was geht”. Dies ist im übrigen noch keine Annäherung an das Establishment, sondern eine an den großen, täglich größer werdenden verunsicherten Teil der Bevölkerung.
Der Normalisierungspatriotismus ist der kleinste gemeinsame Nenner und das maximal erreichbare politische Ziel. Man muß es beschreiben, formulieren, seine Sprödigkeit betonen, und man muß eine Art zurückhaltender Begeisterung für diese Sprödigkeit, diesen Rückbau, diesen nüchternen Dienst an und in einer Massendemokratie wecken.
Wer auf Seiten der Alternative (und das heißt: auf Seiten der Normalisierung) mittun möchte, muß wissen: Dort geht es um Politik, und das ist: das Anti-Erhabene und seine zähen Vertreter. Mehr gibt es nicht.
Franz Bettinger
@Kubitschek: Sie schreiben von den Phasen der Großen Ernüchterung in der Geschichte, etwa der Übergang zur Realpolitik nach den Träumen der 1848-er. Wäre es nur das, ein Interregnum, eine Phase des Übergangs, so könnte ich ertragen, was mit uns geschieht, mit Deutschland, mit Europa, mit der ganzen Menschheit des 21. Jahrhunderts. Ginge es nur um „eine Sklavenzeit in Ägypten“ ein Ausgeplündert und Mißbraucht Werden, ein deutsches Vasallentum zum Nutzen der '300 Familien' und der USA, so verbliebe immer noch Hoffnung. Ich fürchte aber, dass die Geschichte (und also der Tiefe Staat) sich diesmal irreversibel überhebt. Dass ein Experiment mit schlechtem Ausgang läuft. Dass ein dunkles Mittelalter hereinbricht und viele zivilisatorische Errungenschaften verloren gehen. Vielleicht ist dies ja der Plan jener Schurken. Cut Bono? Diese Frage treibt mich um.