Der Parlamentarismus etwa bindet die Entscheidung nicht einfach an die Mehrheit und deren bloßes Meinen, wie es im Plebiszit geschieht, sondern an die Begründung, mithin an das Argument. Argumente und Urteile wiederum basieren zum einen auf Kenntnis, um zu wissen, zum anderen auf Sprache, um Erkenntnisse, Positionen und Entschlüsse vermitteln zu können.
Vor diesem Hintergrund ist es fatal, daß das Schulfach Deutsch in seinen Inhalten und Bewertungen über die letzten drei Jahrzehnte hinweg reduziert und degradiert wurde. Übrig blieb nicht mal der Rumpf, den früher einmal das elementarsprachliche Vermögen bildete. Rechtschreibung und Grammatik haben für Berufsreife, Mittlere Reife und für das Abitur ihre Bedeutung beinahe verloren, insofern Fehlerquoten die Bewertung kaum mehr beeinflussen. Als richtig gilt, was verstanden wird.
Absolventen dürfen für höhere Schulabschlüsse durchaus agrammatische Texte verfassen; im Abitur Mecklenburg-Vorpommerns konnten von maximal fünfzehn lediglich ein bis zwei Notenpunkte abgezogen werden, wenn Orthographie und Grammatik das Verständnis des Textes entscheidend erschwerten. Man vermochte also sogar noch sehr gut abzuschließen, auch wenn man kaum richtig zu schreiben verstand.
Die Mittlere Reife in den meisten Bundesländern kennt indes schon gar keinen Prüfungsaufsatz mehr, so wie der deutsche Schulaufsatz generell kaum mehr geschrieben wird. Der größte Teil der auf simples Textverständnis orientierten Prüfungsaufgaben wird neuerdings im Multiple-Choice-Verfahren durchgekreuzt.
Am Ende der Aufgabenblätter finden sich zwar „kreative Aufgabenstellungen“, die das Schreiben ganzer Sätze verlangen, aber recht beliebig abgearbeitet werden können. Da es sich weder um komplexe problem- noch textgebundene Erörterungen handelt, sondern eher um kurzläufige Übungen, reichen ein paar halbwegs sinnvolle Gedanken aus; die Schreibweise selbst ist für die Bewertung wiederum fast unerheblich, weil Fehler kaum Abzüge eintragen.
Wie aber steht es ums Lesen? Daß der Deutschunterricht seit Jahrzehnten keine eigens aufgelegten Lesebücher mehr nutzt, war für das kulturkritische Feuilleton nie und nirgends Thema. Es gibt einfach keine Lesebücher mehr! Phänomenal: Der Wegfall jenes Schulbuches, das Generationen den Zugang zur literarischen Welt ermöglichte, wurde überhaupt nicht bemerkt. Die Didaktiker und Methodiker müssen also nichts erklären, würden aber meinen, daß sich die Literatur viel besser „integral“ behandeln läßt.
Wer ein aktuelles Deutsch-Lehrbuch durchblättert, dessen nervöses Layout sich einem für jugendlich gehaltenen Geschmack anzubiedern versucht, findet also da und dort eine eher fade und vor allem politisch sehr korrekte Geschichte, ein paar Gedichte und Auszüge aus Romanen oder Dramen – wie überhaupt alles gern in „Auszügen“ behandelt wird oder in Anwendung des „exemplarischen“ Prinzips, erschließe sich der Schüler doch heutzutage Wissen und Weltbild eben nicht über die von der „Bildungsforschung“ verpönte Allgemeinbildung, sondern über „Methodenkompetenz“. Heißt es.
Während die Bestandsverluste des Faches Deutsch in der Alt-Bundesrepublik in den Siebzigern begannen, hielt die DDR an einer geradezu orthodoxen Schul-Germanistik fest. In dualer Weise existierten Muttersprach- und Literaturunterricht im Stundenplan der Woche nebeneinander. So hatte der Schüler für die linguistische und stilistische Grundausbildung das Deutschlehrbuch „Unsere Muttersprache“ auf dem Tisch, die von der Klasse fünf bis zehn von der Morphologie aus über Wortbildung, Syntax, Lexikologie bis zu anspruchsvollen Ausdrucksübungen pyramidal aufbaute, andererseits
„Unser Lesebuch“, das einer literaturgeschichtlichen und gattungstheoretischen Systematik folgte. Hinzu kam ein fester Kanon von bis zu sechs Ganzschriften im Schuljahr. Alles ideologisch überfrachtet, klar, dabei aber motiviert, ein „nationales Erbe“ sprachlich und literarisch zu pflegen. Das schöne Wort „Muttersprache“ dürfte mittlerweile den Kultusbürokraten ebenso suspekt sein wie das Wort Vaterland.
Unterschiedliche Ergebnisse der zwischen Ost und West diametral verschiedenen Deutsch-Didaktik wurden nach der Wende sogleich augenfällig. Die Ossis staunten, wie flüssig die Wessis zu reden verstanden, aber wie fehlerhaft sie mitunter schrieben, gerade im Kontrast zur für DDR-Bürger bestechenden Eloquenz.
In den schriftlichen Deutsch-Abschußprüfungen der einstigen DDR, bei denen es sich sowohl nach der zehnten Klasse der Polytechnischen Oberschule wie im Abitur stets um Aufsätze handelte, konnte die Gesamtnote maximal eine Note besser sein als die Rechtschreib- und Grammatikzensur, die nach rigoros streng festgelegten Fehlerquoten erteilte wurde.
Kritischer ausgedrückt: Als totalitärer Staat alphabetisierte und literarisierte die DDR auch totalitär. Ihre Analphabetenrate war signifikant gering. Gegenwärtig jedoch sind fünfzehn Prozent der Bundesbürger, zwischen sieben bis acht Millionen, funktionale Analphabeten, weitere 26 Prozent, um die 13 Millionen, haben erhebliche Probleme mit dem einfachen Lesen und Schreiben. Das „Handelsblatt“ beklagt zwölf Prozent Analphabetismus unter Berufstätigen.
Der generelle Ansatzfehler der Analyse dazu besteht bislang im Lamento, dies wäre trotz der Schule so. Nein, es verhält sich genau so eben wegen der Schule! – Man versucht dieses Desaster im Einklang mit gegenwärtigen Gerechtigkeits- und Teilhabevorstellungen nicht über eine Revision des Deutschunterrichts aufzuarbeiten, sondern durch die Präsentation von Texten und Sendungen in sogenannter „einfacher“ oder „leichter“ Sprache dem strukturell verursachen Analphabetismus vielmehr entgegenzukommen.
Zur Gegenwart: Will sich ein Schüler oder wollen sich „Studierende“ tatsächlich in vermeintlich moderner „Methodenkompetenz“ Inhalte selbst erschließen, bedürften sie dazu der Geduld, der konzentrierten Gründlichkeit, idealerweise der Muße. Gerade eine aufmerksame Korrektur bedarf der Zeit und Ruhe. Dies widerspricht allerdings der „Effizienz“ durchgeplanter Verläufe. Etwas Umfangreiches durchzulesen, gar ein ganzes Buch, ist innerhalb der „Module“ eines Studiums oft weder möglich noch verlangt.
Schwierig ferner, daß ruhiges Lesen umfassender Texte kaum je erlebt oder gar geübt wurde. Ein gegenwärtiger Abiturient dürfte etwa einen ganzseitigen Essay in einer der noch existierenden traditionellen Zeitungen, falls er die je aufschlägt, als viel, viel zu lang empfinden, weil ihm ein solcher Text vom Deutschunterricht nie zugemutet wurde. Die Deutsch-Methodik setzt bis zum Abitur auf möglichst kurze Einheiten; sie fürchtet geradezu den Umfang anspruchsvoller Essays oder längerer Erzählungen und Novellen.
Abgesehen davon, daß es für ausdauerndes, gar genießendes oder nachdenkliches Lesen in den durchgetakten Verläufen an Zeit fehlt, warnen die Methodiker, daß das Interesse erlahme, wenn nicht permanent „Methodenwechsel“ erfolgten, die neue Impulse setzten. Man folgt so der die Generation kennzeichnende Nervosität durch Reizüberflutung. Kinder und Jugendliche können nurmehr über kurze Sequenzen hinweg fokussiert lesen und schreiben. Wenn überhaupt.
Insbesondere digitale Geräte und Internetmedien reißen sie mindestens außerhalb der Schule sofort aus einer begonnenen Arbeitsphase. Schon das bloße Vorhandensein des Smartphones verhindert jede Vertiefung in einen Arbeitsgegenstand, aber ebenso die Kontemplation.
Tatsächlich erschiene das Bild eines sich in seine Lektüre vertiefende Schülers geradezu als romantisch, so am Schreibtisch mit Gartenblick oder einfach auf der Lesecouch. Gut, früher konnte man das Radio anschalten, den Kassettenrekorder oder gar das Fernsehgerät, aber selbst diese Medien boten in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern im Vergleich zum heutigen Programm noch Hochkultur. Irgendwann war Sendeschluß.
Den gibt es nirgendwo mehr! Man folgte damals meist einer Sendung oder einem Programm; das „Zappen“ begann erst mit dem durch Privatsender erweiterten Spektrum und mit den Werbepausen mitten in Beiträgen oder Filmen. Heute sind die meisten Beiträge zur „Prime-Time“ aus Quotengründen der landläufigen Verblödung im Sinne eines simplen Utilitarismus abgepaßt, hinzu kommt der Streß der Screens, der Apps und der leerdrehenden Dauerkommunikation über „soziale Medien“, in denen meist Trash ventiliert wird.
Wer also wollte sich neben Instagram und WhatsApp tatsächlich noch eine „Lesebuch“ vorstellen und seinem auf Bildschirme stierenden Enkel mit völlig Antiquiertem kommen: Schau mal, das ist ein Lesebuch. Zu jedem Schuljahr gab es ein neues, und ich war so gespannt drauf, daß ich es mir schon den Sommerferien durchgelesen habe.
Selbst wenn der „digital native“ einmal hineinblickte, würde er bedrückt feststellen: Oje, Erzählungen von einem Dutzend Seiten! Was für eine Bleiwüste! Nur ab und an eine Illustration, eine Graphik und die verkleinerte Reproduktion eines Gemäldes, ansonsten Text, Text, Text! Nichts zu klicken, nichts „Interaktives“, nichts zu wischen, nichts zu spielen, nicht mal was zu „teilen“. Wie trist! Geht ja gar nicht! – Und das hat sich der Alte in den Sommerferien durchgelesen? Seltsam. Ebenso seltsam wie der spricht.
Wer über Jahrzehnte Deutsch zu unterrichten hatte und reaktionär an kulturellen Restbeständen festzuhalten versuchte, dürfte verwundert darüber sein, daß es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Süddeutsche Zeitung“, auch „Die Welt“ überhaupt noch gibt. Wer eigentlich liest diese Blätter?
Klar, die Auflagen sind eingebrochen, aber für das, was die Schule noch leistet, erscheinen sie immer noch enorm hoch, dürften sie doch an sich längst nicht mehr auf gründliche Leser hoffen. Mag aber sein, es existiert eine beinahe subversive bildungsbürgerliche Konstante, die am Unerläßlichen festhält, wiederum nicht wegen, sondern trotz der Schule. Indem sie sich selbst bildet.
limes
Der im ersten Satz formulierten These Heino Bosselmanns stimme ich aus ganzem Herzen zu und möchte dazu einige Aspekte ergänzen.
Staatsbürgerliche Mündigkeit beruht auf Anstrengungsbereitschaft, Alphabetisierung und der Befähigung zur Abstraktion. Das Erlernen der Schreibschrift im ersten Schuljahr mittels Schiefertafel, Kreidestift und Schwamm ist dafür eine tragfähige Grundlage.
Wahlprogramme in leichter Sprache sind eine Farce. Jeder, der wählen darf, sollte in der Lage sein, die Grundsätze eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats im Allgemeinen und unser Grundgesetz im Besonderen zu verstehen. Selbst in der Hauptschule sollten Grundlagen der Logik und des sachlichen Argumentierens vermittelt werden sowie grundlegende Möglichkeiten, Manipulationsversuche zu erkennen. Auch die wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung müssten von jedem Staatsbürger verstanden werden. Doch politisch, gesellschaftlich und kulturell geht es in die entgegengesetzte Richtung: Hauptsache, Ihr habt Spaß!
Während die Altparteien einerseits mit nichtssagenden Schönwetterfloskeln in »leichter Sprache« auf Stimmenfang gehen, basteln ihre Mandatsträger mit an Manifesten supranationaler Strukturen wie EU und UN, in denen weitreichende politische Absichten hinter endlosen Lippenbekenntnissen zu einer friedlichen und gerechten Welt verborgen werden. Diese Manifeste, denen unser Recht zusehends unterworfen wird, können nur noch hochgezüchtete Fachjuristen nachvollziehen.
Einzig die AfD setzt offensichtlich auf den mündigen Bürger: In einer Aufzählung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württembergs zur EU-Wahl 2019 fehlt die Alternative bei den sprachlichen und intellektuellen Billigangeboten von Wahlprogrammen in »leichter Sprache«.
https://www.europawahl-bw.de/eu-wahlprogramme_leichte_sprache.html
Postskriptum zum letzten Satz Heino Bosselmanns: In politisch korrekten Medien ist nur politisch korrekte Bildung zu vermuten. »Ein ganz dünnes Süppchen«, hätte mein Deutsch- und Geschichtslehrer in den 1970-er Jahren wohl dazu gesagt.