Dieses Bild zeigt nur einen Ausschnitt. Ausschnitt wovon? Sollen wir es »Überflußgesellschaft« nennen? »Wohlstandverwahrlosung«? Oder – wo bleibt denn das Positive? – »Beutezug, erfolgreich« und »den Besten die Reste«?
Wir sehen beispielsweise neun Mandarinen, ein Stück Speck, »mild geräucherter Rohschinken, mindestens 22 Wochen gereift«, viermal Kräuterquark von der teureren Sorte (Milram), zwölf Eier (zu kühlen ab 23. Januar 2018) , Kuchen, flüssige Margarine mit leichtem Kokosaroma, acht Packungen Klöße, Eierspätzle, Dickmilch, Fertigteig, Schlagsahne und Joghurt in ungezählten Geschmacksrichtungen.
Was nicht auf das Bild paßte, ist folgendes: sechs Pfund Kaffee (die Packungen waren nicht mehr vollendet vakuumiert), zweimal Vollwasch- und einmal Wollwaschmittel in großen Flaschen (da hatten die Deckel einen Schlag), drei Packungen Wattestäbchen, zwei De-Luxe-Seifen, viermal Antifaltencreme und zwei »Megapacks« mit Spülmaschinentabs (Fehler: der Barcode war jeweils angeritzt und dadurch vermutlich un- lesbar), zehn Packungen Mehl mit Riß in der empfindlichen Papierverpackung. Des weiteren: nochmals acht Packungen Kloßteig.
Wer sich im »Geschäft«, um das es hier geht, schon länger auskennt, weiß: Ab Mitte Januar bis in den späten Februar gibt es jedes Jahr massenweise Kloßteig. (Nichts geht über echt selbstgemachte Klöße, aber dieses Zeug hier kommt immerhin ohne Zusatzstoffe aus und mundet vortrefflich. Man kann diese Klöße klassisch zum Braten reichen, man kann auch kreativ werden: unkonventionelle Klöße mit Kräuterquark, Bratklöße; man kann eine Pak- kung dem Brotteig untermischen undsoweiter.)
Als Highlight: Ein Fünf-Kilo-Stück Jamon Serrano, inklusive »Geschenkbox« mit scharfem Messer und Schneidbrett, Originalpreis (»Aktionsware! Bestpreis!«) 59,90 Euro. Mindesthaltbarkeitsdatum war der 23. Januar 2018. Von fleißigen Händen aufgegriffen wurde das edle tote Tier exakt an jenem Tag.
Was heißt hier »aufgegriffen«? Nun: Das Bild zeigt einen Teil eines donnerstäglichen Containerfeldzugs. Donnerstags stellt tegut seinen Ausschuß vor die Tür, freitags Norma und jeden Samstag der Bioladen. Es gibt eine kleine Gemeinde, die abendlich parat steht. Wofür parat? Um »in den Müll zu tauchen«, wie das amerikanische Wort für »Dumpster diving« ins Deutsche übersetzt wurde. Der Terminus »Containern« hat sich durchgesetzt. Es geht um das Abgreifen von Lebensmitteln und anderen Din- gen des täglichen Bedarfs, die von Supermarkt- ketten und anderen Läden in die Mülltonne ausgesondert wurden.
Warum wurden diese Sachen entsorgt? Erstens, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde, das nicht mit dem Verbrauchsdatum (das etwa Fisch und rohes Fleisch betrifft) verwechselt werden sollte. Oder zweitens, weil die Verpackung in irgendeiner Weise beschädigt ist. Oder drittens, weil es sich um »Aktionsware« handelt, die nur für einen begrenzten Zeitraum angeboten wurde und nun Platz machen muß für die nächste … »Aktion«. Im Kleinen zählen dazu Oblaten, die üblicherweise für die Weihnachtsbäckerei gekauft werden. Sie sind lange haltbar, aber ein Störfaktor im Lager: Weg mit den 2400 Oblaten! Im Großen sind es Wochenschnäppchen wie Bügeleisen, Pflanzschau- feln oder elektrische Kaffeemühlen. Wer sich zum Containern hergibt, wird reich beschenkt!
Es ist eine heterogene Schar, die sich zum Mülltauchen einfindet. Sie läßt sich grob in drei Gruppen teilen: Arme, Verrückte und Überzeugte. Die Verrückten sind anstrengend für die anderen. Unsere Gewährsfrau berichtet ein Beispiel: In jüngster Zeit gibt es im Container oft eine Art Buttermilch, die sich werbetechnisch an werdende Mütter richtet. Das Gesöff beinhaltet Vitamine, Mineralien, Spurenelemente und so weiter, die einer properen Mama in spe in der Ersten Welt dienlich sind. Die »verrückten« Containergenossen stürzen sich auf den Kram, packen die Flaschen im Dutzend und entleeren sie an Ort und Stelle. Denn es gibt Pfand dafür, pro Verpackungseinheit 25 Cent. Die Verrückten klauben auch zehn Nachtsichtlampen auf, aber nicht zum Verhökern. Sie wollen sie besitzen.
Die Armen greifen auch bei Hackfleisch zu oder bei gammeligen Trauben, über die sich der Saft einer verdorbenen Tomate ergossen hat. Die Überzeugten kommen aus Überzeugung. Meist sind es Studenten, die ein Problem mit der Wegwerfgesellschaft haben. Sie tragen gelegentlich schlafende Säuglinge bei sich, die auf wunderliche Namen wie »Nofretete« oder »Aeneas« hören.
»Wir haben es satt« ist eine Parole, die das Phänomen ganz gut trifft. Die Zahlen über den bedenkenlos eßbaren Müll schwanken naturgemäß. Wer fragt die Leute, wer antwortet wie, wenn es darum geht, wieviel Reste vom Mittagessen dem individualistischen »Mir langt’s« zum Opfer fallen? Diverse Erhebungen behaupten, knapp sieben Millionen Tonnen Essensreste wanderten Jahr für Jahr allein aus Privathaushalten in den Müll. Man sagt, 18 Millionen Tonnen genießbarer Nahrung würden in Deutschland jährlich ausgesondert. Laut Valentin Thurn, der sich in seinem Dokumentarfilm Taste the Waste (2011) der Lebensmittelverschwendung angenommen hat, gelangt in Deutschland die Hälfte aller produzierten Lebensmittel in den Container. Und wenn es ein Bruchteil davon wäre! Die Non-foods ganz außer acht gelassen!
Ob das Containern hygienisch bedenklich ist? Oder gar – illegal? Zu letzterem gibt es eine eindeutige Uneindeutigkeit. In Deutschland wird »Abfall« dem Eigentum des Wegwerfers respektive des Grundstückeigentümers zugerechnet. Viele Supermärkte sorgen dafür, daß ihre Müllkübel hinter Schloß und Riegel zu stehen kommen. Wer sie knackt, begeht mindestens Hausfriedensbruch, Diebstahl zudem. In Österreich ist die Sache unproblematisch, dort gilt »Müll« als herrenloses Gut. Und was gesundheitliche Bedenken angeht: Ja, es gibt gelegentlich faule Tomaten oder eine aufgeplatzte Milchtüte. Aber es gibt auch einen Wasserhahn. Da wahre Mülltaucher meist keine Hinterweltler, sondern modern-mobile Leute sind, verfügen sie oft über eine deutschland- (wenn nicht europa-)weite Topologie der tollsten Container: Bilbao ist gigantisch, Lyon mau, in Nürnberg gibt es folgende Schatzkästchen, in Kiel oder Bad Nauheim jene. Die Beute auf dem Bild stammt aus dem Burgenlandkreis und ist auf unserem Küchentisch ausgebreitet, ein Mitbringsel der Töchter: Wir haben nichts dagegen.
Es gibt sowieso von allem viel zu viel.