PDF der Druckfassung aus Sezession 82/Februar 2018
Das Prinzip des Verdrängungswettbewerbs, das die kapitalistische Gesellschaft antreibt, wird immer wieder mit der darwinistischen Selektioslehre begründet und als »naturgesetzlich« hingestellt. Doch wie belastbar ist die These von der aufbauenden Gestaltungskraft eines permanenten Daseinskampfes eigentlich? Bis heute behauptet die auf Charles Darwin (1809 –1882) zurückgehende Selektionslehre, daß die Evolutionsprozesse im Wesentlichen von einer »natürlichen Zuchtwahl« gelenkt würden, die nach denselben Prinzipien wirke wie die künstliche Zuchtwahl von Zuchtformen in Gefangenschaft.
Gesetze der Variation
Darwin rechnete jedoch damit, daß diese Fragen erst dann klar beantwortet werden könnten, wenn die Natur der innerartlichen Variation näher erforscht sei. Am Schluß seines Hauptwerkes prophezeite er: »Ein großes und fast noch unbetretenes Feld wird sich öffnen für Untersuchungen über die Ursachen und Gesetze der Variation.« Der Ornithologe Otto Kleinschmidt (1870 –1954) war wohl der erste, der diese »Gesetze der Variation« systematisch untersucht hat – und dabei zu gänzlich anderen Ergebnissen kam als Darwin.
Kleinschmidt zeigte die verschiedenen Eigenschaften der genetischen Varietäten auf: Bei den meisten Arten gibt es eine »geographische Variation«, wobei die nördlicheren Formen meist größer und heller sind als die südlicheren. Auch am selben Ort ist keine Population absolut gleichförmig. Diese »individuelle Variation« innerhalb der lokalen Populationen verläuft in einer jeweils begrenzten Variationsbreite. Regelloses Variieren komme nur bei Haustieren vor. Im Zustand der freilebenden Wildform habe jede Art ihre eigenen Variationsbereiche; also eine spezifische Bandbreite, innerhalb derer auch die geographische Variation ablaufe. Das Zusammenspiel von individueller und geographischer Variation bezeichnete Kleinschmidt als einen »Strom in festen Grenzen«.
Innerhalb dieser Bandbreite sei alles gleichermaßen normal; da gebe es kein Optimum in der Mitte und auch keine schlechter angepaßten oder»minderwertigeren« Varietäten zu den Rändern hin. Diejenigen Individuen jedoch, deren Merkmale jenseits der Grenzen der natürlichen Variationsbereiche liegen, wie es bei spontanen Mutationen oder »Aberrationen« der Fall ist, seien nicht mehr Bestandteil der jeweiligen Wildformen und in freier Natur stets unbeständig. Die Domestikations- und Zucht- formen der Haustiere und Kulturpflanzen seien immer mit Merkmalen jenseits der natürlichen Variationsbereiche ausgestattet, also biologisch gesehen mit Mutationen gleichzusetzen.
Weil Varietäten mit abweichenden Merkmalen in der Natur genetisch und ökologisch unbeständig seien, könnten Einzelindividuen mit abweichenden Merkmalen nie zum Ausgangspunkt neuer evolutiver Entwicklungslinien werden. Insoweit sei es unzulässig, aus der künstlichen Zuchtwahl von Zuchtformen in Gefangenschaft auf eine »natürliche Zuchtwahl« von Wildformen in freier Natur zu schließen.
Das Züchtungsparadigma der Selektionslehre geht davon aus, daß die Anfänge neuer Arten in abweichenden Einzelindividuen (Mutationen) zu sehen seien. Somit läßt sich die wissenschaftliche Haltbarkeit der Selektionslehre unter anderem an der Frage entscheiden, ob von den natürlichen Variationsbereichen ihrer Art abweichende Individuen, wie es Domestikations- und Zuchtformen sind, in natürlichen ökologischen Milieus dauerhafte und ausbreitungsfähige Populationen aufbauen können oder nicht.
Aus der Gefangenschaft entwichene Nutztiere können nur dann in freier Natur ausbreitungsfähige Populationen entwickeln, wenn es sich dabei um Wildformen ihrer Art handelt, wie es beispielsweise bei den Pelztieren Waschbär, Marderhund und Bisamratte der Fall ist.
Das Ganze als Resultat sich bekämpfender Teile? Zum Irrtum der reduktionistischen Biologie
Darwin sah sogar die Gestalt eines Baumes als Resultat eines Verdrängungswettbewerbs der Organe: »In jeder Wachsthumsperiode haben alle wachsenden Zweige nach allen Seiten hinaus zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwachsen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Artengruppen andere Arten in dem großen Kampfe um’s Dasein überwältigt haben.« Daß sich Organe desselben Organismus im großen Kampfe ums Dasein gegenseitig überwältigen – das ist das Prinzip der Krebszelle, das zur Grundlage des kapitalistischen Wettbewerbssystems wie auch der kommunistischen Klassenkampf-Ideologie gemacht wurde. Wenn selbst die Organe desselben Organismus gegenein- ander kämpfen, wenn die Zweige desselben Baumes nicht zur Bildung ei- ner gemeinsamen Form tendieren, sondern sich gegenseitig zu überwälti- gen trachten, dann muß man sich nicht wundern über Darwins These von der »Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein« – wie der Untertitel seines Hauptwerkes lautet.
Eine solche Interpretation der Natur hat nicht nur der Irrlehre eines innerartlichen Rassenkampfes den Anstrich eines »Naturgesetzes« verliehen und somit rassistischen Ideologien den Boden bereitet; sie hat auch den Grundstock für die reduktionistische Biologie gelegt: Zunächst schnitt Darwin die Beziehung der Art zu einer schöpferischen Intelligenz ab, weil er diese als Eigentum religiöser Institutionen mißverstanden hatte. Sodann hat er auch die Arten und Rassen aus ihrer Organstellung im ökologischen Gefüge herausgelöst, um sie als autonome Gebilde in ei- nen gegenseitigen Überlebenskampf zu schicken. Die solcherart aus ihrem organismischen Kontext herausgeschälten Arten konnten dann in Gefangenschaft und im Labor untersucht werden. In Gefangenschaft und Labor sind die Arten aber nur noch in einer solchen Weise Arten, wie Blätter in der Salatschüssel Blätter sind.
Genetische Kohäsion
Wenn eine Population in Gefangenschaft oder in ein unnatürliches Milieu gerät, sich die Individuen aber weiterhin frei verpaaren können, wie es etwa bei den Stadttauben der Fall ist, kommt es zu einer »Ausuferung« der Variation über die Grenzen der natürlichen Variationsbreite hinaus: Die Wildform löst sich auf und wird zur Domestikationsform. Wenn sich der Züchter aus den abweichenden Varietäten der Domestikationsform bestimmte Individuen auswählt und diese von der übrigen Population isoliert (künstliche Zuchtwahl), entstehen die einzelnen Zuchtformen oder Zuchtrassen. Deren Erhalt ist davon abhängig, daß sie beständig von an- deren Varietäten ihrer Art künstlich isoliert werden.
Die jeweiligen Wildformen zeichnen sich durch relativ enge Variationsbereiche aus. Die heute übliche Erklärung hierfür ist die, daß die Variationsbereiche der freilebenden Populationen durch eine fortwährend »natürliche Selektion« in den engen Bahnen der Wildformen gehalten würden und die wichtigsten Faktoren der Selektion (Freßfeinde, Winterkälte) in Gefangenschaft und in den urbanen Räumen nur eingeschränkt wirkten. Diesem Erklärungsmuster der Selektionslehre steht die Tatsache entgegen, daß die meisten »Artmerkmale«, in denen sich nahestehende Arten unterscheiden, völlig selektionsneutral sind: Es gibt keinen vorstellbaren Grund, warum ein »Kampf um’s Dasein« den Blaumeisen einen blauen und den Kohlmeisen einen schwarzen Scheitel züchten sollte.
Da die Variationsbereiche von in natürlichen Milieus lebenden Wildformen unabhängig von irgendeiner Zuchtwahl eng bleiben, muß man davon ausgehen, daß es gewissermaßen einen »inneren Zusammenhalt« der Variation gibt, der auf Systemeigenschaften der Populationen zurück- geführt werden muß. Diesen hat der Biologe Ernst Mayr (1904 –2005 »genetische Kohäsion« genannt. Die Stärke dieser genetischen Kohäsion korrespondiert mit der Gesundheit und »Natürlichkeit« der genetischen Verfassung einer Population. Zwischen dieser und der »Natürlichkeit« des jeweiligen ökologischen Milieus besteht ein Zusammenhang – den ich als »Umweltresonanz« bezeichne.
In der Natur gibt es nicht die in ihrer genetischen Variation von sich aus auseinanderfließenden Populationen, deren Variationsbereiche allein über das beständige selektive »Ausmerzen« aller suboptimal angepaßten Individuen durch irgendwelche widrigen Umweltbedingungen von außen zurechtgestutzt werden. Wenn sowohl der Zusammenhalt, als auch die Veränderung der Merkmalsbereiche freilebender Wildformen unabhängig von Selektion sind, darf die Zuchtwahl-These der Selektionslehre nicht länger als zentraler Faktor bei der Evolution freilebender Arten gelten.
Dynamische Erblichkeit
Wie aber sollte die natürliche Evolution dann ablaufen? Wenn man – wie die heutige Epigenetik – davon ausgeht, daß es die lange verworfene Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften tatsächlich gibt, dann rücken andere Prinzipen in den Blick: Die von Jean-Baptiste de Lamarck (1744 –1829) begründete Evolutionslehre hatte eine Vererbung erworbener Eigenschaften so erklärt, daß die vielgebrauchten (überbeanspruchten) Organe allmählich stärker angelegt werden. Aus meiner Sicht ist eine Vererbung erworbener Eigenschaften dann für die Evolutionsfrage relevant, wenn (veränderte) Umweltbedingungen a) nicht nur auf Einzelindividuen, sondern auf ganze Populationen gleichsinnig einwirken und b) diese Umweltverhältnisse nicht nur eine, sondern eine größere Zahl von Generationen über einen längeren Zeitraum betreffen. Infolge der bereits von Darwin erkannten direkten erblichen Wirkungen des »Gebrauchs und Nichtgebrauchs« der Organe können veränderte Verhaltensweisen auch ohne Selektion zu genetischen Veränderungen ganzer Populationen führen.
Als dynamische Erblichkeit bezeichne ich die Erkenntnis, daß sich die Eigenschaften »erblich« und »nicht erblich« nicht trennscharf unterteilen lassen, sondern es allmähliche Übergänge gibt; sowohl bezüglich des Grades der Erblichkeit, der in dominant und rezessiv unterteilt wird; als auch in Bezug auf die Reichweite der Erblichkeit eines Merkmals in der Generationenfolge. Hieraus sind drei Schlußfolgerungen zu ziehen:
- Die genetische Konstitution von Populationen muß durch eine artgemäße Aktivität in einer artgemäßen Umwelt fortwährend stabilisiert werden.
- Eine durch anhaltend gleichbleibende Veränderung der Umweltverhältnisse bedingte Verhaltensänderung bewirkt eine allmähliche erbliche Festigung der neuen Umwelteinpassung.
- Die Isolation einer Population von ihrem angestammten natürlichen Milieu (etwa die Gefangenschaft) führt auf dem Wege des »Nichtgebrauchs« von Organfunktionen und Verhaltensmustern zu genetischen Auflösungserscheinungen im Sinne von Domestikation und Degeneration.
Auflösung und Verfall heißen in der Physik Entropie. In der Biologie heißt es Degeneration. Hier wie dort kommt es eigentlich auf das umgekehrte Prinzip an: Nicht die abbauenden, sondern die aufbauenden Prozesse sind das Wesentliche. Hier wie dort tut man sich schwer, dafür einen geeigneten Begriff zu finden. Von der Betrachtung dieser aufbauenden Prozesse her erschließt sich die Frage nach dem ökologisch-genetischen Zusammenhang: Bei den in Gefangenschaft und im urbanen Raum festzustellenden »gestörten« ökologischen Milieus handelt es sich überall um Abschirmungen oder Überlagerungen (bzw. Desynchronisierun- gen) von natürlichen Umweltinformationen, also um Resonanzstörungen. Wenn, wie von dem rumänischen Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Georgescu-Roegen beschrieben, auch der heutige Wirtschaftsprozeß einen entropischen Charakter hat, liegt es nahe, daß es in den von ihm bestimmten Milieus auch zu degenerativen Entwicklungen bei Pflanzen, Tieren und Menschen kommt.
Rennen bis zum Umfallen: Das Wettbewerbs-Prinzip
Im Blick auf die soziale Ebene lassen sich vor allem zwei Schlußfolgerungen ziehen: Wir brauchen eine Überwindung des naturwidrigen Wettbewerbsprinzips und die Anbahnung eines organismischen Gesellschaftsmodells.
An dieser Stelle kommt meistens die Biologismus – Warnung: Man dürfe biologische Erkenntnisse nicht auf das menschliche Zusammenleben übertragen. Die Natur könne in keinem Fall als normativ für gesellschaftliche Regeln oder politische Systeme angesehen werden. Dieses Argument kommt derzeit nicht nur von denen, die die Menschheit als außerhalb und über der Natur stehend betrachten.
Es kommt heute vor allem aus der Richtung derer, die das sozialdarwinistische Prinzip des Verdrängungswettbewerbs als unantastbar betrachten und sich vor einer postdarwinistischen Biologie fürchten. Solange man das »Fressen-oder-gefressen-Wer- den« als das Grundgesetz des Lebens ansieht, ist es zweifellos richtig, das soziale Leben vor den Irrtümern der Naturwissenschaft zu schützen. Aber könnte es nicht auch sein, daß, solange Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft unvereinbar sind, auf einer Seite – oder auf beiden Seiten – etwas nicht stimmt? Sollten wir nicht ein Weltbild anstreben, in dem das Natürliche und das Menschliche widerspruchsfrei verknüpft werden können? Wettbewerb war und ist der Motor eines von den realen Bedürfnissen entkoppelten wirtschaftlichen Wachstums. Was aber, wenn nun die Grenzen des Wachstums erreicht sind – und der Motor weiterläuft? Was, wenn keiner weiß, wie man ihn abstellen kann? Dann kommt es unweigerlich zum Crash.
Für zukunftsfähige Konzepte ist der Wettbewerb ein falsches Leitbild. Wettbewerb hebelt soziale und ökologische Beziehungen aus. Wettbewerb desintegriert. Wettbewerb nötigt die Menschen dazu, jedes menschliche Maß auszublenden und das natürliche Maß unserer Umweltverhältnisse zu ignorieren. Der Wettbewerb bewirkt und rechtfertigt Maßlosigkeit.
Weil Wettbewerb immer darauf aus ist, die anderen zu besiegen, werden die Akteure immer dazu tendieren, die Spielregeln des Wettbewerbssystems zu unterlaufen. Ein »fairer Wettbewerb« ist vielleicht im Sport denkbar; im vielschichtigen Wirtschafts- und Alltagsleben bleibt er eine Illusion. Der Wettbewerb als solcher ist mit Kooperation und Resonanz unvereinbar. Auch auf der psychischen Ebene führt die vom Wettbewerbssystem getriebene Beschleunigung zum Kollaps, wie es beispielsweise der Soziologe Hartmut Rosa anschaulich beschreibt.
Fazit
Es muß also um Auswege gehen, die – im Sinne der von Ulrich Klinkenberg entworfenen Wertewirtschaft – nur mit einer radikalen Mäßigung der wirtschaftlichen Akteure auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite einhergehen können. Mäßigung ist auf dem Wege von Subsistenzwirtschaft, also individueller Selbstversorgungsfähigkeit und regionaler Versorgungssouveränität, zu erreichen. Vor dem Hintergrund eines organismischen Gesellschaftsmodells, das die notwendigen Verschiedenheiten nicht als Ungleichwertigkeiten übersetzt, muß allerdings auch der übergeordnete Weltzusammenhang beachtet werden: Selbstversorgungsfähigkeit ist nicht Autarkie; nicht Abkapselung, sondern Übernahme einer Organfunktion; also eine Voraussetzung für eine organismische Integration in ein seinerseits integratives Ganzes.
Um diese Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen, müssen wir uns nicht nur von den parasitären Strukturen einer Finanzwirtschaft befreien, die mit ihrer leistungsungerechten Geldverteilung jedes Bewußtsein für die organismische Zusammengehörigkeit der Gesamtgesellschaft untergräbt; wir müssen auch der Steigerungslogik entsagen, uns allen Beschleunigungszwängen entziehen und den Wachstumstreibern entkommen. Und da liegt nichts näher, als das Wettbewerbssystem zu analysieren – und zu überwinden. Ein gesundes Wachstum kommt nicht aus dem Konkurrenzkampf der Organe, sondern aus ihrer kooperativen Integration in ein übergeordnetes Ganzes – und diese ist nur unter Wahrung ihrer Verschiedenheiten möglich.