Die Angriffe auf das Selbstbewußtsein, das Geschichtsverständnis, die Lebensweise, das Kunstverständnis und die zentralen Erzählungen europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften nehmen zur Zeit mit rasanter Geschwindigkeit zu. Man kann buchstäblich zusehen, wie sie an Zahl und an Wucht gewinnen.
In Tote weiße Männer lieben habe ich beschrieben, wie sich antitraditionalistische, rassistische antiweiße und männerfeindliche Elemente zu einem Diskurs verfilzen, der, wenn überhaupt jemals einer, die Bezeichnung »hatespeech« verdient hat.
Lord Nelson von seiner Säule stürzen zu wollen, Akte aus dem Museum oder Shakespeare aus den Leselisten zu verbannen, ist eine Taktik, keltische Krieger, den Achilles der Ilias oder Prinzen aus dem romantischen Märchen durch Farbige zu ersetzen (wie soeben der MDR), eine andere. Wer allerdings behauptet, eine westliche Kultur existiere überhaupt nicht, der versucht nun wirklich, das Übel an der Wurzel zu packen.
»There is no such thing as Western civilisation«, so schrieb es kurz und bündig der an der New York University lehrende ghanaisch-amerikanische Sprach- und Kulturphilosoph Kwame Anthony Appiah im britischen Guardian vom 9. November 2016. Der weit ausgreifende Essay erweist sich im Rückblick als Teil der mittlerweile auf Hochtouren laufenden Kampagne zur Diskreditierung und Auflösung europäischer und, quasi nebenbei, amerikanischer Identität. (Nicht zufällig trug die erste Version des Artikels den Titel »Mistaken Identities«). Appiahs zentrale Behauptung: Den antik-jüdisch-christlichen »goldenen Kern« westlicher Kultur gibt es nicht, eine die abendländische Kultur fundierende Trias Jerusalem–Athen–Rom ist nicht mehr als Fiktion. Kulturen lassen sich nicht gegeneinander abgrenzen, insbesondere die Unterscheidung einer »westlichen« von einer islamischen Kultur ist für den Vorkämpfer eines aufgeklärten Kosmopolitismus hinfällig.
Wie geht Appiah zu Werke, um dem Leser diese (vorsichtig gesprochen) kontraintuitive Auffassung schmackhaft zu machen?
Die Angriffslinie ist mehrfach gestaffelt. Und um eine solche handelt es sich, denn wie ein Pferdefuß schaut aus der akademischen Rhetorik das Ressentiment gegen den »Westen« hervor und produziert Aussagen wie diese: »Jemand fragte Mahatma Gandhi, was er von der westlichen Zivilisation hielte, und er antwortete: ›Ich glaube, sie wäre eine sehr gute Idee.‹ Wie viele der besten Geschichten ist auch diese wohl leider anekdo- tisch; aber, ebenso wie viele der besten Geschichten, hat sie überlebt, weil ihr der Geschmack der Wahrheit anhaftet. Meine eigene Antwort wäre allerdings sehr anders ausgefallen: Ich denke, man sollte die Vorstellung einer westlichen Zivilisation fallen lassen. Sie ist im besten Fall die Quelle großer Verwirrung, im schlechtesten hindert sie uns daran, uns einigen der großen politischen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Ich zögere, selbst dem Gandhi der Legende zu widersprechen, aber ich glaube, daß westliche Zivilisation überhaupt keine gute Idee ist und daß westliche Kultur keine Verbesserung darstellt.«
Appiahs erster Kritikpunkt betrifft die Unschärfe des Begriffs »Westen«. Seine Beschwerde, die Begriffsverwendung werfe ganz unterschiedliche Gesellschaften unter dem Etikett »nichtwestlich« auf einen Haufen, ist gegenstandlos. Bestimmungen wie »Reich der Mitte« oder »Dar-al-Islam« verfahren nicht anders. Man grenzt das Eigene vom anderen (also von allem übrigen) ab: eine nicht nur legitime, sondern letztlich unvermeidbare Operation, weil Beobachtung standortbezogen ist. Wahrnehmungen dieser Art lassen sich demnach nicht aberziehen und unterdrükken – universalistische Nebelkerzenwerfer dürften hier ihr Ziel verfehlen.
Es ist richtig, daß der Begriff des Westens sich auf komplizierte Weise mit dem der Christenheit und Europas überschneidet und daß er im Lauf der Geschichte auf unterschiedliche Gebilde bezogen wurde. Der Westen gegen einen geheimnisvollen »(fernen) Osten« (Kipling), als Staaten diesseits des Eisernen Vorhangs, als Einheit von Europa und den USA gegen den Rest der Welt – sicher, ein gleitender Begriff. Daraus zu folgern, er wäre gegenstandslos, ist freilich absurd. Wer die zivilisatorischen Errungenschaften des Westens vermissen muß, weiß genau, was ihm abgeht. Wer andererseits in Dubai oder Saudi-Arabien mit »westlichem« Komfort verwöhnt wird, wird sich aufs schärfste bewußt sein, daß diese das Wesen des Westens nicht ausmachen, vor allem aber nicht erschöpfen. Ebensowenig trägt Appiahs Argument, die translatio studii (oder imperii), also die Vorstellung der Weitergabe von Wissen (oder Herrschaft) von Athen über Rom auf das Heilige Römische Reich nach Art eines Staffellaufs, beweise eine mangelnde Einheit und wäre mit dem Christentum nicht kompatibel. Als Selbstbeschreibungsformel führt dieses Motiv eindrucksvoll das Gegenteil vor: nämlich, daß es das Wesen des Abendlandes (der Vorgängerfigur des Westens) ist, antikes und christliches Erbe integriert zu haben.
Wie kommt Appiah aber zu der Annahme, daß sich europäisch – westliche und islamische Kultur nicht voneinander abgrenzen lassen? »Der erste Beleg für den Gebrauch des Wortes ›Europäer‹ entspringt dieser Konfliktgeschichte. In einer lateinischen, 754 in Tours verfaßten Chronik, bezeichnet der Autor die Sieger der Schlacht von Tours als ›Europenses‹. Einfach gesagt, die Idee des Europäers findet ihre erste Verwendung, um Christen und Moslems zu unterscheiden.« (Hervorhebung S.L.) Sofern das zutrifft, ist das Zitat gerade nicht geeignet, Appiahs These zu stützen.
Die (ziemlich wacklige) pièce de résistance bildet wie immer das Argument, daß die Araber Aristoteles übersetzt und im Mittelalter dem Okzident medizinisches Wissen vermittelt hätten. Allerdings machen Übernahmen dieser Art noch lange keine gemeinsame Kultur, ebenso wenig, wie es eine gemeinsame Kultur macht, daß Muslime heute westliche Technik einkaufen und in ihren Alltag integrieren. Die Grenzen dieser Argumentation werden deutlich, sobald man nachfragt, was denn nach dieser so gern bemühten historischen Phase los war. Säkulare Philosophie, Weiterentwicklung der Medizin und Naturwissenschaften scheinen sich dann auf die »westliche Zivilisation«, die es eigentlich gar nicht gibt, zu konzentrieren. Am Rande bemerkt, grenzt es angesichts der haßerfüllten Zerstörung antiken Kulturguts an Zynismus zu erklären, daß der Islam und der »Westen« ein gemeinsames antikes Erbe teilen. Als Erbe kann man wohl nur sinnvoll bezeichnen, was sich eine Kultur dauerhaft aneignet und inkorporiert.
Die heftigen Emotionen, die die Debatte gerade über die Aristoteles- Übersetzungen begleiteten, haben sichtlich viel mit Ideologie und wenig mit Wissenschaft zu tun. Die Ergebnisse des Mediävisten Sylvain Gouguenheim, der darlegte, daß es ein von der arabischen Überlieferung unabhängiges Überleben des Griechischen gegeben habe, erregten jedoch Muslimen, die eine Politisierung ermöglicht hätte), reicht aber kulturhistorisch viel weiter zurück. Sie gehört meines Erachtens in die Reihe jener phantasierten Gegenbilder, welche sich Intellektuelle formten, die es mit der Präsenz übermächtiger kirchlicher Institutionen zu tun hatten und daher stets auf der Suche nach imaginären Gegenreichen waren. Neben der anhaltend idealisierten griechischen Antike gehört als bekanntestes Motiv die paradiesische Welt der »Wilden« in diese Galerie. Die islamische Welt empfahl sich durch den Vorzug, im Gegenzug zu den »Primitiven« eine Hochkultur zu bieten, im Gegenzug zur Antike gegenwärtig und gegebenenfalls bereisbar zu sein. Im Gegensatz zu den beiden anderen bot sie das Modell einer abrahamitischen Religion, die gleichzeitig weit genug vom europäischen Christentum entfernt war, um Konflikte wie die mit dem Judentum nicht aufkommen zu lassen.
Drittens führt Appiah als Gegenargument die »Uneinheitlichkeit« einer Kultur an, die nicht überall und zu jeder Zeit von »westlichen« Werten im Sinne der Aufklärung gekennzeichnet ist. Primitive Praktiken wie Zauberei und Aberglauben lassen sich auch im Europa des neunzehnten Jahrhunderts finden. Dies trifft zu, stellt aber kein Argument dar: Der Unterschied besteht doch wohl darin, daß dies in Europa eine randständige und fast schon exotische Praxis darstellt, die gerade nicht charakteristisch für die Besonderheit westlicher Kultur(en) ist. Das Argument steht in Zusammenhang mit einer wesentlichen begriffsgeschichtlichen Fehlkonzeption: Für Appiah ist der »Westen« ein Konzept, das erst Ende des 19. Jahrhunderts(!) auf den Plan tritt.
Die Geschichte der Begriffe »Abendland« und »Okzident«, die nichts anderes bedeuten, geht in seine Überlegungen offenbar nicht ein. Daher identifiziert er »westliche« mit »moderner« Kultur, eine Verkürzung, die dann ermöglicht, vormoderne Praktiken als Argument gegen die Existenz einer derart verkürzt definierten westlichen Kultur zu behandeln.
Es scheint ausgeschlossen, daß Appiah sich dieser Verkürzung nicht bewußt ist. Aber es geht ja, wie bei allen revisionistischen Versuchen auch nicht wirklich um Kulturgeschichte, sondern um Definitionsmacht. Diese Besessenheit, eine Kultur zu negieren, für die Appiah in seiner Erscheinung als Intellektueller selbst höchst charakteristisch ist, verstrickt ihn unweigerlich in Widersprüche.
Sein Leitbegriff des Kosmopolitismus steht in einer Tradition, die nahtlos in die Globalisierungsdelirien der Gegenwart übergeht: »Aufklärung und Weltbürgertum sind eng miteinander verbunden. […] Voraussetzung des bürgerlichen Kosmopolitismus war der (naturrechtliche) Universalismus, demzufolge die Menschen überall und zu allen Zeiten gleich sind. […] So betrachtete mancher Frühaufklärer die ganze Welt als sein Vaterland und alle Menschen als seine Brüder. […] Ungeachtet des ›zu- fälligen Unterschieds‹ von Klima, Sprache, Sitten und Verfassung sollte er jedem Menschen in Not beistehen. Frei von Vorurteilen verwirklichte er die wahre Bestimmung des Menschen…« (Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, Artikel Kosmopolitismus).
Das hört sich nicht zufällig an wie Juncker, Merkel und Habermas in einer Person. Bei Appiah klingt das dann, umweltbewußt etwas angepaßt, so: »Wir leben mit sieben Milliarden Menschen auf einem kleinen sich erwärmenden Planeten. Der kosmopolitische Impuls, der sich auf unsere gemeinsame Menschlichkeit stützt, ist kein Luxus mehr, er ist zur Notwendigkeit geworden. Ich kann es nicht besser sagen als der Dramatiker Terenz, ein Ex-Sklave aus dem römischen Afrika, der sich Terentius Afer (Terenz der Afrikaner) nannte. Er schrieb einst: ›Mensch bin ich, nichts Menschliches, denke ich, ist mir fremd.‹ Nun, das ist eine Identität, an der es sich festzuhalten lohnt.«
Das ist die passende Begleitmusik zur Globalisierung, rhetorische rosa Pompons auf dem grauen Prozeß finaler Identitätszerstörung. Erstens, ist Mensch-Sein keine Identität, weil diese sich in der Unterscheidung bildet. Was ich mit allen Menschen teile (oder zu teilen meine), ist all das, was bei einer Identitätsbildung keine Berücksichtigung findet. Zweitens ist Terenz kein glückliches Beispiel, wenn er hier für ein irgendwie kulturunabhängiges Allgemeinmenschliches stehen soll: Er stammte aus einer römischen Provinz, in der römische Spielregeln und Gesetze galten und es war offenbar eine klassische Ausbildung (und kein multikulturelles Crossover), die ihn befähigte, Sätze wie den obigen hervorzubringen.
Nun läßt sich vermuten, daß kein Denken (auch kein identitäres Denken übrigens) ohne eine Art universalistisches Minimum auskommen kann. Das sattsam bekannte »moralische Gespräch zwischen Menschen aus verschiedenen Gesellschaften« bewegt sich allerdings im reinen Raum der Geister, der fatal an einen schlecht gelüfteten Seminarraum erinnert. Man fühlt sich an den berüchtigten Wunsch Margot Käßmanns erinnert, einmal ganz herrschaftsfrei mit den Taliban diskutieren zu können.
Passend zu diesem universalistischen Rokoko, das stark an die Welt erinnert, in der Marie – Antoinette im Park von Versailles Schäferin spielte, geht Appiahs im August erscheinendes Buch auf eine mit »Mistaken Identities. Creeds, Country, Color, Class, Culture« überschriebene Vortragsreihe zurück. Das Buch selbst trägt den Titel The Lies that Bind – damit charakterisiert er seinen Identitätsbegriff. Hinderliche Lügen, im besten Fall irrtümliche Zuschreibungen sind die genannten Kategorien Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse und Kultur. Dieser Versuch, Identität zu domestizieren, wird nicht funktionieren. Der kosmopolitische, humanitäre Impuls selbst, von dem Appiah ausgeht, ist durch und durch »westlich«, europäisch geprägt. Er ist eben nicht universell, außer dem Anspruch nach.
Der Artikel, eine Art humanistischer Taschenspielertrick, entfaltet ein Paradox: Er führt vor, wie man die charakteristisch »westliche« Wert- (oder Wahn) vorstellung unbegrenzter Gesprächsbereitschaft einfordern und gleichzeitig behaupten kann, daß es etwas wie unterscheidbare westliche Werte nicht gibt. Irritierend ist nicht dieser Zirkelschluß, der sich im politisch korrekten Lager allenthalben findet, sondern das beharrliche Ressentiment gegen die eigene Kultur, das diese Überlegungen grundiert. Appiah identifiziert sich in seinen Forderungen mit einem globalen Süden (den es im Gegensatz zum Westen offensichtlich gibt), eine Identifikation, die schon deshalb höchst widersprüchlich ist, weil der Philosoph, der vor kurzem seinen Partner ›geheiratet‹ hat, in seinem Privatleben von den Möglichkeiten jenes nicht-existenten Westens in einer Weise profitiert, die ihm in keinem islamischen oder überhaupt nicht-westlichen Staat möglich wäre. Diese Haltung findet man in sozialen Netzwerken in allen möglichen Varianten wieder. Appiah hat dem existentiellen und logischen Dauer-Widerspruch lediglich einen akademisierten Ausdruck verliehen. Offenbar sind unsere universalistisch verwässerten Gesellschaften trotz oder wegen ihrer Großzügigkeit außerstande, sogar bei denen, die davon am meisten profitieren, Loyalität zu mobilisieren. Übernommen werden die Identitäten, ganz unbekümmert um die professorale Erklärung ihrer Nichtigkeit.