Provokation!

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 / Januar 2006

Angesichts der Heerscharen blinzelnder Deutscher; angesichts der...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

ver­ant­wor­tungs­lo­sen poli­ti­schen Füh­rung der letz­ten drei­ßig Jah­re, die ihre Ren­te in dem Bewußt­sein zu ver­pras­sen nun ansetzt, daß es für sie noch rei­chen wird; ange­sichts der sit­zen­den Schimpf­er – selbst die jun­gen Hartz IV-Emp­fän­ger schimp­fen sit­zend, bei Lau­ne gehal­ten durch ein war­mes Wohn­zim­mer, Nach­schub an Fraß und Flüs­si­gem, eine Spiel­kon­so­le, Fern­se­her, DVD-Gerät und der Mög­lich­keit, dank der Pil­le fol­gen­los die Rest­ener­gie über der Freun­din zu ent­la­den; ange­sichts der geschei­ter­ten und der nie gemach­ten Expe­ri­men­te eines zer­split­ter­ten, per­so­nell und mate­ri­ell schwa­chen rech­ten Flü­gels unse­rer poli­ti­schen Land­schaft; wei­ter­hin ange­sichts der Kri­se, die eine grund­le­gen­de Ver­än­de­rung der Ton­la­ge im Land not­wen­dig macht; ange­sichts der ver­rin­nen­den Zeit – stän­dig läuft jeman­des Zeit ab: die der nie gezeug­ten, die der unge­bo­ren gemor­de­ten, die der jäm­mer­lich erzo­ge­nen Kin­der: Es ist jedes­mal die Vor­be­rei­tungs­zeit auf die Zukunft Deutsch­lands, die da ver­streicht, ohne daß etwas Zukunfts­träch­ti­ges geschä­he; ange­sichts die­ser Lage also soll­te vor einer Umwäl­zung der Ver­hält­nis­se kei­ne Angst herr­schen. Das Grau­sen soll­te uns nur dann packen, wenn wir fest­stel­len müs­sen, daß unser Volk – und das sind in die­sem Fall die jun­gen Män­ner und Frau­en – kei­ne Kraft mehr zu einer Umwäl­zung hat.

Karl­heinz Weiß­mann beschreibt in sei­nem Bei­trag über das „Lob der Kri­se“ (S. 8 – 12) mit Jacob Bur­ck­hardt die Kri­se als fieb­ri­gen Zustand. In ihm müs­se sich erwei­sen, ob für eine Gene­sung noch genü­gend Kraft im kran­ken Kör­per steckt. Im kri­ti­schen Zustand wer­den also stets zwei Wege sicht­bar. Der eine führt nach vorn und erprobt das Neue, der ande­re ver­weist zurück in einen Zustand des Sich-Drein­schi­ckens: Zwar ist der Moment der Kri­se über­stan­den, das fieb­ri­ge Gefühl ver­flo­gen; an sei­nen Platz aber ist kein neu­es Leben, son­dern bloß erneu­tes, halb­zu­frie­de­nes Siech­tum getreten.
So ist der kri­ti­sche Zustand der Moment des Mög­li­chen: Mög­lich ist, was vor­her unvor­stell­bar war. Die Kri­se bedrängt, bedroht den Kran­ken und weckt sei­nen Mut, ins Unvor­her­seh­ba­re abzu­sprin­gen: Nur kein Rück­fall ins Siech­tum, ins Laten­te, ins Erdul­den! Und so besei­tigt die Kri­se auch die „ganz unver­hält­nis­mä­ßig ange­wach­se­ne Scheu vor ‚Stö­rung‘ und bringt fri­sche und mäch­ti­ge Indi­vi­du­en her­vor.“ Dann ist kein Hal­ten mehr, dann „pflan­zen sich die auf­rüh­re­ri­schen Ideen wie im Fun­ken­flug fort, fin­den sich über­all Muti­ge, die den Angriff auf die eben noch unein­nehm­ba­ren Bas­tio­nen wagen, bricht sich ein Enthu­si­as­mus des Anfangs Bahn und wird die Besei­ti­gung des gera­de noch all­ge­mein Aner­kann­ten ohne Zögern ins Werk gesetzt“ (Weiß­mann, S. 11).
Was sich wie eine phy­si­ka­li­sche oder bio­lo­gi­sche Gesetz­mä­ßig­keit liest, ist kei­nes­falls ein zwangs­läu­fi­ger Pro­zeß: Was geschieht, wenn der Drang nach Gene­sung, nach einem Sprung ins Offe­ne, nach Erneue­rung, nach Umwäl­zung nicht stark genug ist? Was, wenn die Sicher­heits­den­ker – die dem Durch­wursch­teln, dem klei­nen Leben etwas abge­win­nen kön­nen – den Schritt nach vorn ver­hin­dern? Wenn das Volk, die Mehr­heit, die Gesell­schaft trä­ge und schwer kei­nen Ruck ver­spü­ren, son­dern wei­terblin­zeln möch­te? Auch dann ändert sich die Lage: etwas geschieht. Es fällt da kei­ne Ent­schei­dung, es han­delt da nie­mand und es steht nicht die nach vorn gerich­te­te Fra­ge im Raum: „Was wer­den wir tun, um die Kri­se zu über­win­den?“. Viel­mehr läßt ein Volk, eine Gesell­schaft ein­fach etwas gesche­hen, läßt etwas mit sich machen und dul­det amorph. Dies ist der Moment, in dem uns das Grau­sen packt.

Doch so weit ist es noch nicht. Die Kri­se unse­rer Nati­on und dar­über hin­aus unse­res Kul­tur­krei­ses wird in ihrem gan­zen Aus­maß gera­de erst sicht­bar, die ers­ten Fie­ber­schü­be haben Rufe nach den Tat­kräf­ti­gen laut wer­den las­sen: Selb­stän­di­ge, Kin­der­rei­che, Hoch­be­gab­te, Arbei­ter ohne Kran­ken­ta­ge, sie alle sollen’s rich­ten, sol­len einen Kar­ren, unse­ren Kar­ren aus dem Dreck wuch­ten und als Leit­bil­der ande­re anspor­nen, sich mit vor­zu­span­nen. Plötz­lich ist da ein „Wir“, plötz­lich ist man „Deutsch­land“, jeder ein­zel­ne zwar vor allem für sich, aber doch alle zusam­men auch für die vie­len Ichs, für ein bun­tes Wir, weil’s von uns Nor­mal­bür­gern einer allei­ne nicht packen kann.
Merkt denn kei­ner, wie es die Macher sol­cher Kam­pa­gnen anekelt, daß sie die­ses „Wir“, die­ses halb tot­ge­schla­ge­ne „Wir“, wie­der reani­mie­ren müs­sen? Hört denn kei­ner, daß es die­sel­ben Stim­men sind, die heu­te von Zusam­men­halt, von Soli­dar­ge­mein­schaft, von natio­na­lem Auf­bruch spre­chen, und die doch ges­tern und die letz­ten drei­ßig Jah­re über­haupt an die­sem Land, an Deutsch­land kein gutes Haar las­sen konn­ten? Die sich als gut­be­zahl­te, nar­ren­freie Auf­se­her über die ewig unbe­re­chen­ba­re, ewig bescheu­er­te deut­sche Nati­on sahen und sehen? Die kon­ster­niert über den Aus­bruch kol­lek­ti­ver Macht in den Tagen und Jah­ren der Wider­ver­ei­ni­gung für eine Wei­le nicht wuß­ten, ob ihr Fähn­chen jemals wie­der wür­de im Wind flat­tern dür­fen, und die durch­at­me­ten, als sich die Begeis­te­rung und die Opfer­be­reit­schaft end­lich leg­ten und der Dunst eines rigi­den Mei­nungs­kli­mas west­deut­schen Zuschnitts auch in den neu­en Län­dern in jede Gehirn­fal­te sich zu sen­ken begann? Spürt also kei­ner, daß die Ver­ant­wort­li­chen für die Zer­rüt­tung Deutsch­lands ein­fach noch unge­stört davon­kom­men wol­len, wohl wis­send, daß all die Fül­le, in der sie trotz Nach­krieg und deut­scher Tei­lung groß wer­den durf­ten, auf Jahr­zehn­te ver­schleu­dert, die geis­ti­gen Grund­la­gen für eine Rege­ne­ra­ti­on unter Eimern von Jau­che erstickt und ver­rot­tet sind?
Weil wir aber die­ses ver­ant­wor­tungs­lo­se Intel­lek­tua­li­sie­ren, die­ses expe­ri­men­tel­le Poli­ti­sie­ren, die­ses per­fi­de Denun­zie­ren, die­ses sat­te Spöt­teln über den deut­schen Michel; weil wir die lis­ti­ge Absicht, der Kri­se schein­bar abzu­hel­fen und das Fie­ber künst­lich zu sen­ken, durch­schau­en und die halb gelang­weil­ten, halb beun­ru­hig­ten Akteu­re ken­nen; weil wir also einen Geg­ner haben, ist es an uns, die Kri­se als Chan­ce zu nut­zen, die Begrif­fe zuzu­spit­zen und den Geg­ner zu kenn­zeich­nen. Pro­vo­ka­ti­on ist dafür das geeig­ne­te Mittel.
Natür­lich ist „Pro­vo­ka­ti­on“ ein Mode­be­griff, ein aus­ge­quetsch­tes Wort; vie­le, nicht alle Künst­ler, Quer­den­ker, In-Den­ker, Vor­den­ker pro­vo­zie­ren bewußt und dosiert oder hem­mungs­los, je nach Selbst­ent­wurf und Markt­ni­sche. Die Netz­sei­te www.provocation.ch stellt Fra­gen: „Ist Pro­vo­ka­ti­on ein legi­ti­mes Mit­tel, um in unse­rer Gesell­schaft etwas zu ver­än­dern oder nur eine stra­te­gi­sche und ver­kaufs­för­dern­de Maß­nah­me? Muß man heu­te pro­vo­zie­ren, um noch wahr­ge­nom­men zu wer­den? Was erregt die Men­schen im Zeit­al­ter der Tabu­brü­che noch? Wer läßt sich pro­vo­zie­ren, was sind die Regeln und wel­che Rol­le spie­len dabei die Kunst und die Medien?“

Vie­les läßt sich leicht beant­wor­ten: Ange­sichts des Zustands unse­res Lands ist prak­tisch jedes Mit­tel legi­tim, das zu Ver­än­de­run­gen führt. Pro­vo­ka­ti­on muß, wenn sie der Auf­takt zu Umwäl­zun­gen sein will, als Bau­stein inner­halb einer Stra­te­gie ihren Platz haben. Sie ist oft das ein­zi­ge Mit­tel der Schwa­chen: Wer über Macht­mit­tel ver­fügt, drückt, was er möch­te, ein­fach durch, erzählt, was er möch­te, ein­fach auf allen Kanä­len. Wer kei­ne Macht hat, berei­tet sich lan­ge und gründ­lich vor, stu­diert die Reflex­sche­ma­ta des Medi­en­zeit­al­ters und erzwingt durch einen Coup öffent­li­che Wahr­neh­mung. Denn dar­an muß sich der Pro­vo­ka­teur mes­sen las­sen: Was nicht in den Medi­en war, war nicht. Für die stil­le Bil­dungs­ar­beit mögen ande­re Geset­ze gel­ten: Pro­vo­ka­tio­nen leben von der Wahr­neh­mung, denn ihr Ziel ist, eine Reak­ti­on (und sei es nur die Ver­blüf­fung) hervorzurufen.
Wahr­ge­nom­men wird das Uner­war­te­te, wahr­ge­nom­men wird der geziel­te Regel­ver­stoß, wahr­ge­nom­men, zwin­gend wahr­ge­nom­men wird die bewuß­te oder unbe­wuß­te Ver­let­zung der Tabus, die auch unse­re der­zei­ti­ge, nur schein­bar nach allen Sei­ten offe­ne Herr­schafts­struk­tur absi­chern, beweh­ren. Im kom­mu­ni­ka­ti­ven Bereich, dem „mit­ein­an­der Reden“ (dem Kern­stück demo­kra­ti­scher Ver­faßt­heit also), sind der Kon­sens­dis­kurs und Fol­gen­lo­sig­keit tabu­be­wehrt. Der Kon­sens­dis­kurs ist die flä­chen­de­cken­de talk­show, die Chris­ti­an­se­ni­sie­rung der Gesell­schaft: Über fast alles wird gere­det, nichts wird ent­schie­den, Kon­sens auf einem Mini­mal­nen­ner ist stets und unaus­ge­spro­chen der Ziel­punkt. Die Fol­gen­lo­sig­keit ist die zwei­te Grund­vor­aus­set­zung sol­cher Zusam­men­künf­te. Sie ist der siche­re Aus­weg für jeden, der von zuviel Ernst in die Enge getrie­ben wird. Nie kon­kret wer­den, die Din­ge ein­fach ein­mal unge­schützt daher­sa­gen, so frei von der Leber weg mal ein paar Ideen haben: Wer den Unernst die­ser sanf­ten Den­ker nicht als Spiel­re­gel begrei­fen, nicht ste­hen­las­sen will, fin­det auf den Sofas der Kon­sens­run­den kei­nen Platz.
Und so ist denn auch die Pro­vo­ka­ti­on vie­ler Künst­ler, Quer‑, In- und Vor­den­ker von der, über die wir spre­chen, zu unter­schei­den. Für jene ist Pro­vo­ka­ti­on der Ver­such, eine Ein­la­dung an die Fut­ter­trö­ge zu erhal­ten. Für uns ist Pro­vo­ka­ti­on kein Ich-Pro­jekt, kei­ne Ver­kaufs­stra­te­gie, und die Hoff­nung auf den Ein­bau in den sat­ten Dis­kurs gäbe all unser Tun der Lächer­lich­keit preis. Unser Ziel ist nicht die Betei­li­gung am Dis­kurs, son­dern sein Ende als Kon­sens­form, nicht ein Mit­re­den, son­dern eine ande­re Spra­che, nicht der Steh­platz im Salon, son­dern die Been­di­gung der Par­ty. Pro­vo­ka­ti­on ist das Hin­weis­schild an uner­war­te­ter Stel­le, ist ein Zün­deln am Holz­stoß, der Holz­stoß blei­ben oder Signal­feu­er wer­den kann, ist die Heim­su­chung derer, die nicht gestört wer­den wol­len. Und die­se Furcht vor Stö­rung, Unru­he, kenn­zeich­net die her­auf­zie­hen­de Kri­se. Unge­be­ten wird das sein, was wir tun soll­ten. Unge­be­te­ne Gäs­te mit uner­wünsch­ten Fra­gen erschei­nen am kon­sens­schwan­ge­ren Ort und kon­fron­tie­ren den unan­ge­streng­ten Star inmit­ten sei­ner Heim­spiel-Atmo­sphä­re. Wann zuletzt wur­de, um ein­mal kon­kret zu wer­den, Jür­gen Haber­mas vor Publi­kum und völ­lig uner­war­tet mit dem kon­fron­tiert, was er vor drei­ßig Jah­ren sehen­den Auges zur expe­ri­men­tel­len Umset­zung am leben­den Objekt „Deutsch­land“ emp­fahl? Wann zuletzt schlug ihm nicht nur erwar­tungs­lo­ses Wohl­wol­len ent­ge­gen, son­dern plötz­lich und unge­be­ten so etwas wie Ver­ach­tung oder ech­ter Man­gel an Ver­söh­nung? Wann zuletzt fühl­te die­ser Mann sich wirk­lich gestört, ver­un­si­chert, ange­kratzt? Weiß jemand, wann das war? Weiß jemand, ob dies je so war? Jeden­falls wird es Zeit dafür.

Neben der Wir­kungs­rich­tung unse­rer Pro­vo­ka­ti­on nach außen (mit den Zie­len Zuspit­zung, Kon­fron­ta­ti­on, Auf­merk­sam­keit), gibt es eben­so eine Wir­kungs­rich­tung nach innen. Sie zielt auf Bei­spiel, Mobi­li­sie­rung und Rekru­tie­rung. Eine gelun­ge­ne pro­vo­kan­te Akti­on ist ein Bei­spiel für Krea­ti­vi­tät, Orga­ni­sa­ti­ons­fä­hig­keit und Durch­set­zungs­kraft. Im güns­ti­gen Fall mobi­li­siert sie Nach­ah­mer oder ori­gi­nel­le Kräf­te und weckt ein Milieu, eine Sze­ne aus der Lethar­gie oder aus einem an dan­dy­es­ken Vor­bil­dern geschul­ten Defä­tis­mus. Das wich­tigs­te jedoch ist die Rekru­tie­rung Unent­schlos­se­ner und Suchen­der. Wenn das poli­ti­sche Ange­bot der Bun­des­re­pu­blik eine Mes­se­hal­le ist: die Prä­sen­ta­ti­on natio­na­ler Ware jen­seits des Dis­kurs­kon­sen­ses hat ihren Platz hin­ter einer Klo­tür, anders­wo war – nach Aus­kunft der Betrei­ber – kein Stand mehr frei. Pro­vo­ka­ti­on bedeu­tet in die­sem Fall, den Stand zu ver­las­sen und als leben­de Weg­wei­ser die Hal­le zu durch­käm­men. Dort ste­hen jun­ge Män­ner und Frau­en fremd vor den Pracht­bu­den der Par­tei­en, Mei­nungs­ma­cher, Lob­by­is­ten und Säu­len­hei­li­gen und ver­su­chen ihre Fra­gen mit den unerns­ten Ant­wor­ten des Dis­kurs­kon­sens-Milieus abzu­sät­ti­gen. Aber stets bleibt ein Gefühl von Unter­ernäh­rung. Und damit ist genug gesagt.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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