Frühjahrsoffensive 1918

PDF der Druckfassung aus Sezession 83/April 2018

Es ist auf den ers­ten Blick ein­fach und auf den zwei­ten alles ande­re als leicht, einen Bei­trag über die gro­ße deut­sche Offen­si­ve des Jah­res 1918 zu ver­fas­sen. Zum einen herrscht an vor­aus­ge­gan­ge­nen Äuße­run­gen zum The­ma kei­ner­lei Man­gel, was jedoch auch auf vie­le ande­re Berei­che der jün­ge­ren Geschich­te zutrifft. Zum ande­ren aber haben sich in den hun­dert Jah­ren seit­dem die Ver­lo­ckun­gen und Tod­sün­den von Geschichts­schrei­bung reich­lich dort ver­sam­melt: Bes­ser­wis­se­rei, Spe­ku­la­ti­on, innen- und außen­po­li­ti­sche Pro­pa­gan­da­ele­men­te, Anachronismus.

Ver­su­chen wir trotz­dem einen kur­zen Über­blick über den Fall und die unver­meid­lich damit zusam­men­hän­gen­de Fra­ge, ob der Ent­schluß zum deut­schen Angriff einer jener recht sel­te­nen Augen­bli­cke gewe­sen ist, in denen eine Ein­zel­ent­schei­dung unmit­tel­ba­re Kon­se­quen­zen für die Welt­ge­schich­te nach sich gezo­gen hat.
»Die Deut­schen schei­nen von ihren Erfol­gen in Ruß­land berauscht zu sein. Man kann unmög­lich vor­her­sa­gen, was sie nicht alles ver­su­chen wer­den. Auf alle Fäl­le müs­sen wir bereit sein, auf einer etwa 50 Mei­len brei­ten Front eine sehr star­ke Offen­si­ve abzu­wei­sen.« – Die­se Wor­te sol­len am 14. Febru­ar 1918 gefal­len sein, als sich die poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Füh­rung der alli­ier­ten Streit­kräf­te in Frank­reich über die Aus­sich­ten für das kom­men­de Früh­jahr aus­tausch­te. Sie wer­den dem bri­ti­schen Ober­be­fehls­ha­ber Haig zuge­schrie­ben, und sie bekun­de­ten eine Mut­ma­ßung über die Zustän­de in Deutsch­land. Von außen betrach­tet schien es gute Grün­de für die­se Ein­schät­zung zu geben.
Das Deut­sche Reich stand auf dem macht­po­li­ti­schen Höhe­punkt sei­ner Geschichte.
Im Inne­ren Deutsch­lands war dage­gen zwar man­ches Phä­no­men zu beob­ach­ten, Erfolgs­rausch ließ sich jedoch eher nicht erken­nen. Trotz der im Vor­jahr 1917 erziel­ten größ­ten mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Erfol­ge, wur­de die Lage all­ge­mein wei­ter­hin als schwer und wenig aus­sichts­reich emp­fun­den. Hun­ger in der gesam­ten Bevöl­ke­rung trüb­te die Stim­mung. Ers­te Mas­sen­streiks gaben einen Vor­ge­schmack auf die Revo­lu­ti­on. Neue Debat­ten dar­über, ob die »Ideen von 1914« durch »Ideen von 1917« wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den soll­ten, ver­stärk­ten die Unsi­cher­heit dar­über, was denn nun die posi­ti­ven Zie­le des Krie­ges letzt­lich sein soll­ten. Selbst in den engen Krei­sen der deut­schen Füh­rung gab es kei­ne Einig­keit über die wün­schens­wer­te ter­ri­to­ri­al-poli­ti­sche Aus­nut­zung der rus­si­schen Ver­hält­nis­se und den wei­te­ren Fort­gang der mili­tä­ri­schen Operationen.

Die im Janu­ar 1918 fol­gen­den Streiks in der Muni­ti­ons­in­dus­trie waren der Aus­druck die­ser Situa­ti­on: Mehr als eine Mil­li­on Mann waren nach dem Sieg über Ruß­land aus dem Heer zurück in die Fabri­ken und zu sons­ti­gen Arbei­ten geschickt wor­den. Vor­läu­fig wur­den sie an der Front nicht benö­tigt. So soll­ten sie jetzt an ihre Arbeits­plät­ze zurück­keh­ren und das Jahr 1918 bes­tens vor­be­rei­ten. Für die Obers­te Hee­res­lei­tung nach­voll­zieh­bar, doch hat­te die Ber­li­ner Füh­rung der Welt­öf­fent­lich­keit nicht über­zeu­gend erklä­ren kön­nen, war­um deut­sche Trup­pen zur Abwehr die­ses Angriffs aus­ge­rech­net durch das neu­tra­le Bel­gi­en mar­schie­ren mußten.
Poli­tisch gese­hen wur­de das Reich letzt­lich zum Opfer der Pla­nun­gen sei­nes Mili­tärs und stand vor­nehm­lich als Aggres­sor dar. Nun konn­te jeden­falls der rus­si­sche Teil des Angriffs von 1914 seit der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on von 1917 als end­gül­tig abge­wehrt gel­ten. Im Osten sicher­ten deut­sche Trup­pen inzwi­schen einen Bereich weit nach Ruß­land hin­ein, bis in den Kau­ka­sus. Die­ser Umstand leg­te nun den Gedan­ken nahe, sich unter die­sen Bedin­gun­gen an die Zusa­gen von 1914 zu erin­nern und im Rah­men eines Frie­dens­an­ge­bo­tes die voll­stän­di­ge Räu­mung Bel­gi­ens mit ein­zu­be­zie­hen, wie sie einst ver­spro­chen wor­den war. Das wür­de die Argu­men­te von 1914 bestä­ti­gen, nach außen wie nach innen, vor allem aber nach innen.
Jedoch: Die Öffent­lich­keit in den Staa­ten der Kriegs­geg­ner war mit poli­ti­schen Schrit­ten und Ange­bo­ten kaum zu beein­dru­cken, wur­de sie doch seit den ers­ten Kriegs­ta­gen hem­mungs­los über die angeb­li­che deut­sche Kriegs­schuld, deut­sche Ver­bre­chen und Ruch­lo­sig­keit belo­gen. Gegen­pro­pa­gan­da des Reichs hat­te in Ruß­land Wir­kung gezeigt und die dort sowie­so schon vor­han­de­ne Unru­he ange­feu­ert, im Wes­ten tat sie es nicht. Und dann war da ja noch die deut­sche Öffent­lich­keit, für die der Krieg als natio­na­ler Ver­tei­di­gungs­krieg gerecht­fer­tigt war, jedoch nicht als deut­scher Erobe­rungs­feld­zug. Alle die­se Fra­gen bra­chen im Vor­feld der Früh­jahrs­of­fen­si­ve 1918 wie­der auf; sie waren untrenn­ba­rer Teil des Kriegsszenarios.
Erich Luden­dorff, im Deutsch­land die­ser Tage letzt­lich der ent­schei­den­de Mann, stell­te sich die­sen Fra­gen. Er gab in sei­nen eige­nen Erin­ne­run­gen im wesent­li­chen drei Grün­de für die Ent­schei­dung zur West­of­fen­si­ve an: Zum einen war die Feu­er­kraft der Geg­ner der­art über­wäl­ti­gend und über­le­gen, daß die Ver­lus­te unter den deut­schen Trup­pen im Ver­tei­di­gungs­fall wohl höher aus­ge­fal­len wären als bei einem eige­nen Angriff.

Es konn­te des­halb unter die­sem Aspekt bes­ser sein, bei Ein­satz neu ent­wi­ckel­ter Angriffs­tak­ti­ken selbst die Initia­ti­ve zu ergrei­fen, als zu einer all­ge­mei­nen Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie über­zu­ge­hen. Zum ande­ren hat­te die Pas­si­vi­tät des Ver­tei­di­gungs­kriegs die Moral der Trup­pe bereits schwer belas­tet. Das Heer war schon durch­zo­gen von Drü­cke­ber­gern, die sich vor Gefech­ten in Luft auf­lös­ten. Trup­pen, die man wegen angeb­lich hoher Ver­lus­te aus der Front her­aus­ge­zo­gen hat­te, füll­ten sich in der Etap­pe wie von selbst in kür­zes­ter Zeit wie­der auf, weil die »Ver­schol­le­nen« wie- der auf­tauch­ten. Im Angriff und dem fol­gen­den Bewe­gungs­krieg wür­de sich die Moral wie­der heben las­sen, aber nicht dau­er­haft. Es muß­te also drit­tens ein ent­schei­den­der Schlag geführt wer­den, der den Krieg been­den wür­de. Ein sol­cher Schlag konn­te nur in einer erfolg­rei­chen West­of­fen­si­ve bestehen.
Ande­re vor­ge­schla­ge­ne Offen­siv­zie­le in Ita­li­en oder Maze­do­ni­en moch­ten zwar mit weni­ger Ein­satz deut­li­che Erfol­ge brin­gen, aber nie­mals kriegs­ent­schei­den­de Wir­kung haben.
Natur­ge­mäß ist nach 1918 viel über die­se Argu­men­ta­ti­on gestrit­ten wor­den. Schließ­lich hat­te die Offen­si­ve die deut­sche Nie­der­la­ge offen­kun­dig nicht ver­hin­dert. Hät­te sie also mili­tä­risch anders geführt, poli­tisch bes­ser beglei­tet wer­den müs­sen oder viel­leicht gar nicht gestar­tet wer­den dür­fen? Luden­dorffs etwas dün­ne und sach­lich nicht ganz adäqua­te Argu­men­ta­ti­on zeugt von den Nöten bei deren Beant­wor­tung. Noch am plau­si­bels­ten war Punkt Eins. Was die Ver­lust­un­ter­schie­de zwi­schen Angriff und Abwehr anging, so hat­ten die gro­ßen Schlach­ten des Jah­res 1917 den angrei­fen­den Hee­ren des Wes­tens zwar stets höhe­re Ver- luste beschert als den deut­schen Ver­tei­di­gern. Ins­ge­samt lagen die Zah­len jedoch so nah bei­ein­an­der, daß die Beschrän­kung auf Ver­tei­di­gung kein All­heil­mit­tel darstellte.
Feh­len­de Moral wegen einer vor­aus­ge­gan­ge­nen kämp­fe­ri­schen Pas­si­vi­täts­pha­se zu behaup­ten, mute­te nicht nur ange­sichts der gera­de ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te merk­wür­dig an: In ihnen waren die größ­ten mili­tä­ri­schen Erfol­ge der deut­schen Geschich­te erzielt wor­den. Es spran­gen, davon unab­hän­gig, auch gegen­tei­li­ge Bei­spie­le aus der deut­schen Geschich­te gera­de­zu ins Auge. Soll­te dem kai­ser­li­chen Heer bei sei­ner aktu­el­len Herr­schaft über halb Euro­pa eine hin­hal­ten­de, aus­wei­chen­de und mit loka­len Gegen­an­grif­fen gar­nier­te fri­de­ri­zia­ni­sche Stra­te­gie unmög­lich sein, wie sie im Sie­ben­jäh­ri­gen Krieg von Sach­sen und Bran­den­burg aus funk­tio­niert hatte?
Schließ­lich blieb es frag­wür­dig, ob in Frank­reich wirk­lich eine Ent­schei­dung her­bei­ge­führt wer­den konn­te. Selbst eine erfolg­rei­che deut­sche Offen­si­ve konn­te viel­leicht das bri­ti­sche Expe­di­ti­ons­korps ins Meer wer­fen oder bis auf Paris vor­rü­cken. Mit stär­ke­ren mili­tä­ri­schen Erfol­gen und Gebiets­ge­win­nen rech­ne­te nie­mand. Ob dar­aus poli­ti­sche Kon­se­quen­zen wie ein Frie­dens­schluß fol­gen konn­ten, blieb Spe­ku­la­ti­on. Das bes­te Bei­spiel aus der damals noch neue­ren Geschich­te sprach eher dagegen.
1870/71 hat­ten ver­nich­ten­de Nie­der­la­gen des fran­zö­si­schen Hee­res bei Sedan und die Bela­ge­rung von Paris die Fran­zö­si­sche Repu­blik kei­nes­wegs zum Frie­den gezwun­gen. Man führ­te damals wei­ter­hin mona­te­lang Krieg und setz­te dar­auf, die bri­ti­sche Regie­rung für das fran­zö­si­sche Schick­sal zu inter­es­sie­ren. 1871 gelang das nicht, so daß man sich gegen­über Deutsch­land letzt­lich doch für besiegt erklä­ren muß­te. Aber 1918 stand Groß­bri­tan­ni­en nicht nur inter­es­siert, son­dern als Kriegs­part­ner seit Jah­ren mit in der Schlacht. Dazu hat­ten sich nun 1917 noch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten als wei­te­rer Part­ner im Krieg ein­ge­fun­den. Kein deut­scher Sieg konn­te die­se Kon­stel­la­ti­on im Früh­jahr 1918 aufbrechen.
Luden­dorff scheint dies mit­be­dacht zu haben, man­che Ent­schei­dun­gen sind sonst nicht ver­ständ­lich. Wenn das kai­ser­li­che Heer nun mit der Aus­sicht auf den ent­schei­den­den Schlag­an­griff, dann muß­te wirk­lich alles auf die­se eine Kar­te gesetzt wer­den, so die logi­sche Über­le­gung. Das aber tat Luden­dorff gleich in zwei­er­lei Hin­sicht nicht. Zum einen blie­ben in Ruß­land und auf dem Bal­kan immer noch beacht­li­che Trup­pen- kon­tin­gen­te zurück. Zum ande­ren gab Luden­dorff bald nach Beginn der Offen­si­ve den ursprüng­li­chen Plan auf, das bri­ti­sche Heer im Nor­den an die Küs­te zu drän­gen und in die Flucht zu schla­gen. Er ziel­te statt des­sen auf Gelän­de­ge­winn in Rich­tung Paris und begnüg­te sich damit, die fran­zö­si­schen und bri­ti­schen Trup­pen nur noch von­ein­an­der zu tren­nen. An einem bestimm­ten Punkt fehl­te für den wei­te­ren Vor­marsch dann die Kraft.
Zu den poli­ti­schen Alter­na­ti­ven gegen­über einer mili­tä­ri­schen Offen­si­ve äußer­te sich Luden­dorff in sei­nen Erin­ne­run­gen nur äußerst knapp. Es hät­ten sich ohne sein Zutun sowohl Oberst v. Haef­ten, der Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te Kon­rad Hauß­mann und der Ban­kier Max War­burg im Jahr 1918 im Aus­land nach mög­li­chen Frie­dens­be­din­gun­gen erkun­digt. Was sie zu berich­ten hat­ten, sei nur für einen end­gül­tig geschla­ge­nen Staat annehm­bar gewe­sen. Immer­hin sei er einer Ver­hand­lungs­lö­sung nicht grund­sätz­lich abge­neigt und nicht auf eine mili­tä­ri­sche Lösung ver­ses­sen gewe­sen. Jedoch sei er zu kei­nem Zeit­punkt von der Regie­rung über die­se Vor­gän­ge unter­rich­tet wor­den und wis­se auch nicht, ob sie die Vor­schlä­ge über­haupt gekannt habe. Nur Oberst v. Haef­ten habe ihm münd­lich berichtet.
Über die Details der im Aus­land ermit­tel­ten Bedin­gun­gen schwieg sich Luden­dorff in sei­nen Memoi­ren aus. Das moch­te viel­leicht dar­an gele­gen haben, daß sie sich ein Jahr spä­ter und unter dem Ein­druck des Ver­sailler Dik­tat­frie­dens weit­aus annehm­ba­rer anhör­ten. Aber das sind Fra­gen, die in die kon­tra­fak­ti­sche Geschichts­schrei­bung füh­ren. Was am Ende aber sicher bleibt, ist die Erkennt­nis, daß die Jah­re 1917 und 1918 eine ent­schei­den­de Pha­se der deut­schen Geschich­te bil­den. Ob es neben der kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Kraft­ent­fal­tung auch eine poli­ti­sche Macht­stel­lung auf Augen­hö­he mit den ande­ren Groß­staa­ten der Welt als Frie­dens­lö­sung hät­te geben kön­nen, wur­de im wesent­li­chen damals ent­schie­den. Nie waren die Vor­aus­set­zun­gen güns­ti­ger, die deut­sche Lage ins Posi­ti­ve zu drehen.
Ob die Ent­schei­dung für die Offen­si­ve unter die­sen Bedin­gun­gen nun eine ein­zel­ne Fehl­ent­schei­dung gewe­sen ist, die Welt­ge­schich­te geschrie­ben hat, oder ob der Erfolg der West­mäch­te über Deutsch­land alles in allem letzt­lich unver­meid­lich war, gleich­gül­tig, ob man 1918 nun Angriff oder zur Ver­tei­di­gung über­ging, wird Spe­ku­la­ti­on blei­ben müssen.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)