Es ist auf den ersten Blick einfach und auf den zweiten alles andere als leicht, einen Beitrag über die große deutsche Offensive des Jahres 1918 zu verfassen. Zum einen herrscht an vorausgegangenen Äußerungen zum Thema keinerlei Mangel, was jedoch auch auf viele andere Bereiche der jüngeren Geschichte zutrifft. Zum anderen aber haben sich in den hundert Jahren seitdem die Verlockungen und Todsünden von Geschichtsschreibung reichlich dort versammelt: Besserwisserei, Spekulation, innen- und außenpolitische Propagandaelemente, Anachronismus.
Versuchen wir trotzdem einen kurzen Überblick über den Fall und die unvermeidlich damit zusammenhängende Frage, ob der Entschluß zum deutschen Angriff einer jener recht seltenen Augenblicke gewesen ist, in denen eine Einzelentscheidung unmittelbare Konsequenzen für die Weltgeschichte nach sich gezogen hat.
»Die Deutschen scheinen von ihren Erfolgen in Rußland berauscht zu sein. Man kann unmöglich vorhersagen, was sie nicht alles versuchen werden. Auf alle Fälle müssen wir bereit sein, auf einer etwa 50 Meilen breiten Front eine sehr starke Offensive abzuweisen.« – Diese Worte sollen am 14. Februar 1918 gefallen sein, als sich die politische und militärische Führung der alliierten Streitkräfte in Frankreich über die Aussichten für das kommende Frühjahr austauschte. Sie werden dem britischen Oberbefehlshaber Haig zugeschrieben, und sie bekundeten eine Mutmaßung über die Zustände in Deutschland. Von außen betrachtet schien es gute Gründe für diese Einschätzung zu geben.
Das Deutsche Reich stand auf dem machtpolitischen Höhepunkt seiner Geschichte.
Im Inneren Deutschlands war dagegen zwar manches Phänomen zu beobachten, Erfolgsrausch ließ sich jedoch eher nicht erkennen. Trotz der im Vorjahr 1917 erzielten größten militärischen und politischen Erfolge, wurde die Lage allgemein weiterhin als schwer und wenig aussichtsreich empfunden. Hunger in der gesamten Bevölkerung trübte die Stimmung. Erste Massenstreiks gaben einen Vorgeschmack auf die Revolution. Neue Debatten darüber, ob die »Ideen von 1914« durch »Ideen von 1917« weiterentwickelt werden sollten, verstärkten die Unsicherheit darüber, was denn nun die positiven Ziele des Krieges letztlich sein sollten. Selbst in den engen Kreisen der deutschen Führung gab es keine Einigkeit über die wünschenswerte territorial-politische Ausnutzung der russischen Verhältnisse und den weiteren Fortgang der militärischen Operationen.
Die im Januar 1918 folgenden Streiks in der Munitionsindustrie waren der Ausdruck dieser Situation: Mehr als eine Million Mann waren nach dem Sieg über Rußland aus dem Heer zurück in die Fabriken und zu sonstigen Arbeiten geschickt worden. Vorläufig wurden sie an der Front nicht benötigt. So sollten sie jetzt an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und das Jahr 1918 bestens vorbereiten. Für die Oberste Heeresleitung nachvollziehbar, doch hatte die Berliner Führung der Weltöffentlichkeit nicht überzeugend erklären können, warum deutsche Truppen zur Abwehr dieses Angriffs ausgerechnet durch das neutrale Belgien marschieren mußten.
Politisch gesehen wurde das Reich letztlich zum Opfer der Planungen seines Militärs und stand vornehmlich als Aggressor dar. Nun konnte jedenfalls der russische Teil des Angriffs von 1914 seit der Oktoberrevolution von 1917 als endgültig abgewehrt gelten. Im Osten sicherten deutsche Truppen inzwischen einen Bereich weit nach Rußland hinein, bis in den Kaukasus. Dieser Umstand legte nun den Gedanken nahe, sich unter diesen Bedingungen an die Zusagen von 1914 zu erinnern und im Rahmen eines Friedensangebotes die vollständige Räumung Belgiens mit einzubeziehen, wie sie einst versprochen worden war. Das würde die Argumente von 1914 bestätigen, nach außen wie nach innen, vor allem aber nach innen.
Jedoch: Die Öffentlichkeit in den Staaten der Kriegsgegner war mit politischen Schritten und Angeboten kaum zu beeindrucken, wurde sie doch seit den ersten Kriegstagen hemmungslos über die angebliche deutsche Kriegsschuld, deutsche Verbrechen und Ruchlosigkeit belogen. Gegenpropaganda des Reichs hatte in Rußland Wirkung gezeigt und die dort sowieso schon vorhandene Unruhe angefeuert, im Westen tat sie es nicht. Und dann war da ja noch die deutsche Öffentlichkeit, für die der Krieg als nationaler Verteidigungskrieg gerechtfertigt war, jedoch nicht als deutscher Eroberungsfeldzug. Alle diese Fragen brachen im Vorfeld der Frühjahrsoffensive 1918 wieder auf; sie waren untrennbarer Teil des Kriegsszenarios.
Erich Ludendorff, im Deutschland dieser Tage letztlich der entscheidende Mann, stellte sich diesen Fragen. Er gab in seinen eigenen Erinnerungen im wesentlichen drei Gründe für die Entscheidung zur Westoffensive an: Zum einen war die Feuerkraft der Gegner derart überwältigend und überlegen, daß die Verluste unter den deutschen Truppen im Verteidigungsfall wohl höher ausgefallen wären als bei einem eigenen Angriff.
Es konnte deshalb unter diesem Aspekt besser sein, bei Einsatz neu entwickelter Angriffstaktiken selbst die Initiative zu ergreifen, als zu einer allgemeinen Verteidigungsstrategie überzugehen. Zum anderen hatte die Passivität des Verteidigungskriegs die Moral der Truppe bereits schwer belastet. Das Heer war schon durchzogen von Drückebergern, die sich vor Gefechten in Luft auflösten. Truppen, die man wegen angeblich hoher Verluste aus der Front herausgezogen hatte, füllten sich in der Etappe wie von selbst in kürzester Zeit wieder auf, weil die »Verschollenen« wie- der auftauchten. Im Angriff und dem folgenden Bewegungskrieg würde sich die Moral wieder heben lassen, aber nicht dauerhaft. Es mußte also drittens ein entscheidender Schlag geführt werden, der den Krieg beenden würde. Ein solcher Schlag konnte nur in einer erfolgreichen Westoffensive bestehen.
Andere vorgeschlagene Offensivziele in Italien oder Mazedonien mochten zwar mit weniger Einsatz deutliche Erfolge bringen, aber niemals kriegsentscheidende Wirkung haben.
Naturgemäß ist nach 1918 viel über diese Argumentation gestritten worden. Schließlich hatte die Offensive die deutsche Niederlage offenkundig nicht verhindert. Hätte sie also militärisch anders geführt, politisch besser begleitet werden müssen oder vielleicht gar nicht gestartet werden dürfen? Ludendorffs etwas dünne und sachlich nicht ganz adäquate Argumentation zeugt von den Nöten bei deren Beantwortung. Noch am plausibelsten war Punkt Eins. Was die Verlustunterschiede zwischen Angriff und Abwehr anging, so hatten die großen Schlachten des Jahres 1917 den angreifenden Heeren des Westens zwar stets höhere Ver- luste beschert als den deutschen Verteidigern. Insgesamt lagen die Zahlen jedoch so nah beieinander, daß die Beschränkung auf Verteidigung kein Allheilmittel darstellte.
Fehlende Moral wegen einer vorausgegangenen kämpferischen Passivitätsphase zu behaupten, mutete nicht nur angesichts der gerade vergangenen zwölf Monate merkwürdig an: In ihnen waren die größten militärischen Erfolge der deutschen Geschichte erzielt worden. Es sprangen, davon unabhängig, auch gegenteilige Beispiele aus der deutschen Geschichte geradezu ins Auge. Sollte dem kaiserlichen Heer bei seiner aktuellen Herrschaft über halb Europa eine hinhaltende, ausweichende und mit lokalen Gegenangriffen garnierte friderizianische Strategie unmöglich sein, wie sie im Siebenjährigen Krieg von Sachsen und Brandenburg aus funktioniert hatte?
Schließlich blieb es fragwürdig, ob in Frankreich wirklich eine Entscheidung herbeigeführt werden konnte. Selbst eine erfolgreiche deutsche Offensive konnte vielleicht das britische Expeditionskorps ins Meer werfen oder bis auf Paris vorrücken. Mit stärkeren militärischen Erfolgen und Gebietsgewinnen rechnete niemand. Ob daraus politische Konsequenzen wie ein Friedensschluß folgen konnten, blieb Spekulation. Das beste Beispiel aus der damals noch neueren Geschichte sprach eher dagegen.
1870/71 hatten vernichtende Niederlagen des französischen Heeres bei Sedan und die Belagerung von Paris die Französische Republik keineswegs zum Frieden gezwungen. Man führte damals weiterhin monatelang Krieg und setzte darauf, die britische Regierung für das französische Schicksal zu interessieren. 1871 gelang das nicht, so daß man sich gegenüber Deutschland letztlich doch für besiegt erklären mußte. Aber 1918 stand Großbritannien nicht nur interessiert, sondern als Kriegspartner seit Jahren mit in der Schlacht. Dazu hatten sich nun 1917 noch die Vereinigten Staaten als weiterer Partner im Krieg eingefunden. Kein deutscher Sieg konnte diese Konstellation im Frühjahr 1918 aufbrechen.
Ludendorff scheint dies mitbedacht zu haben, manche Entscheidungen sind sonst nicht verständlich. Wenn das kaiserliche Heer nun mit der Aussicht auf den entscheidenden Schlagangriff, dann mußte wirklich alles auf diese eine Karte gesetzt werden, so die logische Überlegung. Das aber tat Ludendorff gleich in zweierlei Hinsicht nicht. Zum einen blieben in Rußland und auf dem Balkan immer noch beachtliche Truppen- kontingente zurück. Zum anderen gab Ludendorff bald nach Beginn der Offensive den ursprünglichen Plan auf, das britische Heer im Norden an die Küste zu drängen und in die Flucht zu schlagen. Er zielte statt dessen auf Geländegewinn in Richtung Paris und begnügte sich damit, die französischen und britischen Truppen nur noch voneinander zu trennen. An einem bestimmten Punkt fehlte für den weiteren Vormarsch dann die Kraft.
Zu den politischen Alternativen gegenüber einer militärischen Offensive äußerte sich Ludendorff in seinen Erinnerungen nur äußerst knapp. Es hätten sich ohne sein Zutun sowohl Oberst v. Haeften, der Reichstagsabgeordnete Konrad Haußmann und der Bankier Max Warburg im Jahr 1918 im Ausland nach möglichen Friedensbedingungen erkundigt. Was sie zu berichten hatten, sei nur für einen endgültig geschlagenen Staat annehmbar gewesen. Immerhin sei er einer Verhandlungslösung nicht grundsätzlich abgeneigt und nicht auf eine militärische Lösung versessen gewesen. Jedoch sei er zu keinem Zeitpunkt von der Regierung über diese Vorgänge unterrichtet worden und wisse auch nicht, ob sie die Vorschläge überhaupt gekannt habe. Nur Oberst v. Haeften habe ihm mündlich berichtet.
Über die Details der im Ausland ermittelten Bedingungen schwieg sich Ludendorff in seinen Memoiren aus. Das mochte vielleicht daran gelegen haben, daß sie sich ein Jahr später und unter dem Eindruck des Versailler Diktatfriedens weitaus annehmbarer anhörten. Aber das sind Fragen, die in die kontrafaktische Geschichtsschreibung führen. Was am Ende aber sicher bleibt, ist die Erkenntnis, daß die Jahre 1917 und 1918 eine entscheidende Phase der deutschen Geschichte bilden. Ob es neben der kulturellen und wirtschaftlichen Kraftentfaltung auch eine politische Machtstellung auf Augenhöhe mit den anderen Großstaaten der Welt als Friedenslösung hätte geben können, wurde im wesentlichen damals entschieden. Nie waren die Voraussetzungen günstiger, die deutsche Lage ins Positive zu drehen.
Ob die Entscheidung für die Offensive unter diesen Bedingungen nun eine einzelne Fehlentscheidung gewesen ist, die Weltgeschichte geschrieben hat, oder ob der Erfolg der Westmächte über Deutschland alles in allem letztlich unvermeidlich war, gleichgültig, ob man 1918 nun Angriff oder zur Verteidigung überging, wird Spekulation bleiben müssen.