Sein politischer Dauergebrauch griff ihn ab und unterwarf ihn agitatorischen Zwecken. Diese grundsätzliche Schwierigkeit wird noch vergrößert durch das Regierungsbedürfnis, eine hart durchrationalisierte und leistungsfähige Basis möge ausgeglichen werden von einem weichen gerechtigkeitsrhetorischen Überbau, der einen Erziehungs‑, ja Volksbildungssozialismus suggeriert, während es anderseits eher um Parameter von Reproduktionsprozessen bei der „gewinnorientierten Verwaltung der Welt“ (Rainer Bucher) geht.
Bildungspolitik verspricht, was nicht mehr zu halten ist, weil die substantielle Wissensvermittlung und bereits das Erlernen basaler Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen durch die vermeintlichen Reformen der letzten dreißig Jahre behindert, ja teilweise verhindert worden sind. In der Republik können über sechs Millionen Erwachsene, meist Muttersprachler, nicht mehr richtig lesen und schreiben. Und dies nicht trotz, sondern wegen der Schule.
Wichtiger als die Ausbildung qualifizierter Urteilskraft auf der Basis umfassender geschichtlicher, literarischer und soziologischer Kenntnisse ist der Regierung gegenwärtig die „Erziehung zur Demokratie“. Zur Demokratie aber gehört Opposition, die derzeit von der Exekutive und den ihr angepaßten Medien nicht nur gefürchtet, sondern denunziert und bekämpft wird. Schüler und Abiturienten werden besser für das Nachsprechen ideologischer Bekenntnisse benotet als für kritisches Argumentieren. Das erinnert an die DDR-„Volksbildung“.
Noch unheilvoller mutet an, daß direkt zur Denunziation aufgerufen wird, geht es doch nie allein um die Abwendung rechtsextremistischer Gefahr, sondern unweigerlich um die Zuschreibung, wer oder was rechtsextrem sei.
Während die Politik als öffentliche Angelegenheit der Nation lange an Lebendigkeit eingebüßt hatte und auf ein Management pragmatischer Verbraucherentscheidungen geschrumpft schien, revitalisierte sie sich spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015. Zur enormen Beunruhigung der Funktionäre, Verwalter und Leitlinienbestimmer, die im unerwarteten Gegenwind die Sprechblasen „Demokratie“, „Toleranz“, „Pluralismus“ und „Weltoffenheit“ aufbliesen und unterm Popbegriff der „bunten Republik“ versammelten, so als wolle sich die verunsicherte „politische Klasse“ ihrer selbst in eifrigen Bekenntnisübungen versichern.
Das Feindbild AfD ließ das Establishment zusammenrücken und Linke und liberales Neubürgertum einen spezifischen Interessenkompromiß „gegen Rechts“ herausbilden. Gegen die Kritik durch konservative Vernunft und noch mehr gegen Versuche identitärer Selbstbestimmung unter der Jugend wurde insbesondere die Schule verpflichtet.
Wenn, wie Heike Schmoll in der F.A.Z. problematisiert, ein Drittel bis die Hälfte der „Studierenden“ sich entschieden dagegen aussprechen, „daß Menschen mit kontroversen Standpunkten überhaupt an der Universität reden dürfen“ und sogar dafür eintreten, „die Bücher unbequemer Andersdenkender aus der Universität zu verbannen“, so sind dies jene Absolventen, die sich die Schule als „bekennende Demokraten“ genau so wünscht. Sie wollen und können nicht produktiv streiten und debattieren, sondern wissen sich nur zu bekennen. Diese intellektuelle Armseligkeit gilt neuerdings als „Courage“.
Die als historische Errungenschaft immens wertvollen bürgerlichen Grundrechte, für deren Wahrnehmung es eines Fundaments sprachlicher und kultureller Fähigkeiten bedarf, fanden sich vor den Erfolgen der AfD von immer weniger Bürgern genutzt und gepflegt, sondern allenfalls von leichtgewichtigen Talkshows und Bloggerei ersetzt – einerseits unterhaltsam und gewitzt, dabei aber unpositioniert und als Gequassel des bloßen Meinens im Ungefähren verbleibend.
Neuerdings werden diese Shows propagandistisch geschärft und so inszeniert, daß die vermeintlich Korrekten die vermeintlich Inkorrekten vorzuführen versuchen, mit dem Ziel, sie als nazistisch infiziert zu verunglimpfen.
Die junge und jüngere Generation, die einerseits durch den Gebrauch der digitalen Medien mehr als jede andere vor ihr auf das Wort angewiesen ist, beherrscht dieses schulbedingt weniger als ihre Vorgänger und hat sich unkompliziert auf den Konsens geeinigt, dass schon richtig ist, was irgendwie verstanden wird.
Man setze dazu nicht gleich das klassische Bildungsbürgertum in Kontrast, sondern erinnere sich beispielsweise an die Arbeiterbildungsvereine und damit an die Unterprivilegierten des vorvorigen Jahrhunderts, denen bewußt war, daß echte Teilhabe mit dem Vermögen zur kulturellen Partizipation beginnt, die man sich erringen muß, weil sie einem eben nicht zugereicht wird.
Historisch wäre interessant danach zu fragen, wann hinsichtlich „Bildung“ eine politisch vorgeschriebene Anthropologie Raum griff, die per se allen alles zutraut, jeden zum Talent erklärt, aber die Bringeschuld des schulischen Erfolgs auf die Lehrer verlegt, das Schwergewicht des Schulischen von Inhalt und Substanz weg auf Methode und „Kernkompetenzen“ verschob, von der Inklusion aller Limitierten per Dekret Gerechtigkeit erwartet und über die Reduzierung von Anforderungen und eine damit einhergehende Entwertung von Abitur und Hochschulabschlüssen so gut wie jedem sehr gute Zeugnisse auszudrucken bereit ist – im Wunschdenken, damit schaffe man endlich sehr vereinfacht „Chancengleichheit“. Die jedoch liegt bereits in rechtlich längst garantierten gleichen Voraussetzungen und eben nicht in versprochenen Garantie von Abschlüssen, die immer weniger aussagen, weil immer mehr ein Anrecht darauf haben.
Weshalb fällt niemandem auf, daß es einerseits so viele Abiturienten und Hochschulabsolventen mit Bestnoten wie noch nie gibt, andererseits aber Fachkräftemangel sowie elementares Unvermögen von Lehrlingen und Studenten zu beklagen sind? Der Zusammenhang ist genau darin zu suchen, daß zwar immer mehr Schüler und Studenten als abiturabel und studierfähig gelten und durchgereicht werden, aber immer weniger davon tatsächlich etwas können, am wenigsten im MINT-Bereich und im Sprachlichen.
Mag ja sein, es werden längst viel weniger „Spezialisten“ gebraucht, und eine immer kleinere Gruppe an Wissenschaftlern, Ingenieuren und Informatikern erscheint technisch und arbeitsteilig in der Lage, eine wachsende Masse einfacher Konsumenten zu verwalten, die passabel über den florierenden und ressourcenverschleißenden Super-Markt lebt, sich von der Medien-Industrie unterhalten findet und längst kein Bedürfnis mehr nach dem Politischem oder ihre Existenz bestimmenden Ideen hat.
Das Bürgertum der beginnenden Moderne wünschte sich einst den kompetenten Leistungs- und Entscheidungsträger, der in der Lage ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Arbeiterschaft wollte damit ehrgeizig gleichziehen und setzte auf echten Bildungserfolg. Das ist, scheint es, endgültig vorbei.
Eine gerade in ihrem gesamten Reichtum sozial ungerechte Gesellschaft erwartet allerdings weitgehende Übereinstimmung mit drei maßgeblichen „Grundvereinbarungen“, die in sich ebenso unklar sind wie sakrosankt: „Mehr Europa!“ – „Gegen Rechts!“ – „Mehr Bildung!“ So als legte sich die neoliberale Umgestaltung werbewirksame Legitimationslegenden zu, denen selbst ihre Gegner zuzustimmen bereit sind.
Vor diesem Hintergrund werden immer neue Begriffe generiert, von denen sich die Herrschaftspolitik Rettung erwartet. „Ganztagsschule“ ist ein solches Wort. Es steht für eine Schule, die den Heranwachsenden weitestgehend aus der offenbar als böse empfundenen „Welt da draußen“ heraushält, die „Projekte“ inszeniert, anstatt am Leben selbst zu schulen, und die mit all ihrer Betreuung abschirmt von den produktiven Widersprüchen der Gesellschaft. Ganz abgesehen davon, daß sie Heranwachsende bis mindestens 16.00 Uhr interniert und in Veranstaltungen zwingt, die nachvollziehbar meist als Pflicht und Nötigung erlebt werden. Vermutlich gilt sich die gesamte Berliner Republik als eine politische Ganztagsschule im Sinne eines hoffnungsvollen Als-ob jenseits der als unerquicklich empfundenen Realität.
Besonders der ethische Zentralbegriff der Menschenwürde erfährt neuerdings eine Umdeutung: Er fungiert nicht mehr als Grundlegung eines individuellen Persönlichkeitsrechts aller, sondern als Anrecht auf „maximale Teilhabe“. Der Staat garantiert als freundlicher Dienstleister allen etwas, was nicht zu garantieren ist und letztlich zur Ausstellung ungedeckter Schecks führt. Insofern agiert staatliche Bildung wie eine Pleitebank.
Hohe Bildungsabschlüsse, für die einst Wissen und Fähigkeiten nachzuweisen waren, sollen nicht länger nur rechtlich gleiche Möglichkeit, sondern sogleich schon Wirklichkeit sein. Begriffe wie Anstrengungsbereitschaft und Selbstüberwindung kennt die „Bildungsforschung“ überhaupt nicht mehr; sie ist bereit, jeden dort abzuholen, wo er steht. Selbst bewegen muß er sich nicht mehr, denn Forderungen gelten schnell als Überforderungen und somit als diskriminierend.
Nach der Herleitung Immanuel Kants kommt dem Menschen Würde zu, weil er in der Lage ist, frei und vernünftig über seine Geschicke zu entscheiden. Dafür ist aber zweierlei nötig – der Staat, der dafür Willkürfreiheit gewährt und anderseits seine Verantwortung darin sieht, Menschen ausbildend zu befähigen, sich würdig zu verhalten. Um das zu erreichen, bedarf es aber eingangs einer Bildung, die noch ausbildet und zu Haltungen erzieht. Beides in einem durchaus mühevollen Prozess, der Kulturformen etabliert.
Insofern neben weitgehendem Erziehungsversagen ein ebenso weitgehender Verzicht darauf erfolgt, elementaren kulturellen Fähigkeiten wie richtigem Schreiben, Lesen und Rechnen sowie einem umfassenden naturwissenschaftlichen Weltbild ganz entscheidenden Wert zuzumessen, vernachlässigt die Gesellschaft die Ausbildung mündiger Bürger, deren vorzügliche Befähigung letztlich die Urteilskraft wäre. Mit diesem Defizit aber wird die Demokratie von innen gefährdet.
Franz Bettinger
Die sog. Ganztagsschule ist weniger eine Schule als eine Verwahranstalt für Sprösslinge. Ihr einziger Zweck ist, die Eltern der jetzt ganztags Kasernierten, insbesondere die Mütter, für die Erwerbsarbeit freizustellen. Vorbild: DDR. Das Wort Schule ist angesichts der dort (heute zusätzlich) stattfindenden Indoktrination und Regime-Propaganda ein klassischer Orwellismus!