Vergangenheitsbewältigung – ein Qualitätssprung?

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 / Januar 2006

sez_nr_12von Franz Uhle-Wettler

Höchstwahrscheinlich ist ein Qualitätssprung bei derjenigen Art von Vergangenheitsbewältigung zu vermelden, die zwar wissenschaftlich fragwürdig, aber weit verbreitet und deshalb wichtig ist. Zur Erinnerung: Zu den Grundpfeilern des Marxismus gehört die Lehre, daß in allen Bereichen des Universums, vom Innersten der Atome bis zu den fernsten Galaxien, allmähliche Änderungen der „Quantität“ zu einer plötzlichen und in menschlichen Gesellschaften revolutionären Änderung der „Qualität“ führen. So bewirkt eine quantitative Änderung, Zuführung von Wärme, unabänderlich bei null sowie hundert Grad eine sprungweise Änderung der Qualität: Eis wird zu Wasser und dann zu Dampf.


Das quan­ti­ta­ti­ve Wach­sen des Bür­ger­tums bewirk­te in den abso­lu­tis­ti­schen Staa­ten den Qua­li­täts­sprung zur bür­ger­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft. Die Gren­zen der Dok­trin sind aller­dings offen­sicht­lich: In den demo­kra­tisch-kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten soll die quan­ti­ta­ti­ve Ver­meh­rung des ver­elen­den­den Pro­le­ta­ri­ats mit natur­ge­setz­li­cher Sicher­heit zu einem revo­lu­tio­nä­ren Qua­li­täts­sprung, also über die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats zur sozia­lis­ti­schen und schließ­lich kom­mu­nis­ti­schen Gesell­schaft führen.
Bis­her waren dort, wo die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung mit über­gro­ßem Eifer und frag­wür­di­gen Metho­den betrie­ben wur­de, nur quan­ti­ta­ti­ve Ände­run­gen fest­zu­stel­len. Noch vor vier­zig oder drei­ßig Jah­ren wäre es kaum denk­bar gewe­sen, Sol­da­ten pau­schal als Mör­der und die Wehr­macht pau­schal als „mar­schie­ren­des Schlacht­haus“ zu bezeich­nen. Doch seit­dem haben Ein­äu­gig­keit, Ver­schwei­gen der dem gewünsch­ten Urteil ent­ge­gen­ste­hen­den Tat­sa­chen und Doku­men­te sowie manch ande­res quan­ti­ta­tiv wei­ter zuge­nom­men, wie die (anfäng­li­che) Begeis­te­rung über die Wehr­macht­aus­stel­lun­gen zeigt. Aber in einem Chor­ge­sang fal­len nur die lau­tes­ten Stim­men auf. Wer Bei­fall begehrt, muß also noch lau­ter sin­gen. So wird der Chor­ge­sang immer lau­ter (eine quan­ti­ta­ti­ve Ände­rung) und kann in eine neue Qua­li­tät umschla­gen. Die­ser Qua­li­täts­sprung scheint nun zu gesche­hen. Das läßt sich an den letz­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen des Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­am­tes (MGFA) der Bun­des­wehr aufzeigen.
Das Amt ver­öf­fent­licht unter ande­rem Mili­tär­ge­schich­te – Zeit­schrift für his­to­ri­sche Bil­dung; war­um die Zeit­schrift wich­tig ist, sei spä­ter dar­ge­legt. Sogar in einem ein­zi­gen der neue­ren Hef­te fin­den sich gleich zwei Auf­sät­ze, die die Ver­mu­tung nahe­le­gen, der Qua­li­täts­sprung der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung sei voll­bracht. Der ers­te Auf­satz hat­te den „Mythos“ Tan­nen­berg und damit eine deut­sche „Legen­de“ als Titel.
Schon das weckt Inter­es­se. Immer­hin ist sogar genia­len Heer­füh­rern die Ein­schlie­ßung und damit Ver­nich­tung eines feind­li­chen Hee­res nur sel­ten gelun­gen: Han­ni­bal bei Can­nae, Cäsar bei Iler­da, Napo­le­on bei Ulm und Molt­ke bei Metz sowie bei Sedan. Hin­den­burg und Luden­dorff konn­ten 1914 bei Tan­nen­berg die sogar etwas stär­ke­re rus­si­sche Zwei­te Armee in einer mehr­tä­gi­gen Schlacht ein­schlie­ßen – und das, obwohl die nur ein bis andert­halb Tages­mär­sche ent­fern­te rus­si­sche Ers­te Armee prak­tisch kei­ne deut­schen Trup­pen mehr vor sich hat­te und dau­ernd ein­zu­grei­fen droh­te. War­um ein sol­cher Sieg so sehr „Mythos“ und „Legen­de“ sein soll, ist schwer erkenn­bar. Doch das ist hier nicht The­ma. Also nur der Hin­weis, daß Niveau und Aus­sa­ge des Auf­sat­zes dem Titel entsprechen.

Gegen Ende des Auf­sat­zes wird sicht­bar, was man wohl als Qua­li­täts­sprung der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung bezeich­nen kann. Der Auf­satz berich­te­te eine Schand­tat: bei der Ein­wei­hung des Tan­nen­berg­denk­mals am 18. Sep­tem­ber 1927 wur­den „bezeich­nen­der­wei­se“ die repu­bli­ka­ni­schen und jüdi­schen Vete­ra­nen­ver­bän­de „aus­ge­schlos­sen“. Also: Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus, Ver­nei­nung der lega­len sowie demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten repu­bli­ka­ni­schen Staats­ord­nung und Ver­nei­nung der ver­bal beschwo­re­nen Front­kämp­fer­ge­mein­schaft in einem ein­zi­gen Buben­stück! Wahr­lich eine Schandtat.
Zwei­fel kön­nen aller­dings auf­kom­men, wenn man beach­tet, daß die Ein­wei­hung des Denk­mals in Gegen­wart des Reichs­prä­si­den­ten von Hin­den­burg, des Reichs­kanz­lers und zwei­er Reichs­mi­nis­ter stattfand.
Die­se sol­len gemein­schaft­lich die Schand­tat zuge­las­sen und gedeckt haben? Zudem hat aus­ge­rech­net Hin­den­burg noch 1932, also mit Hit­ler vor den Toren, sich für das ihm vom Reichs­bund Jüdi­scher Front­sol­da­ten über­sand­te „Gedenk­buch“ mit den Namen der 12.000 jüdi­schen Gefal­le­nen in „ehr­furchts­vol­ler“ Erin­ne­rung an die „für das Vater­land“ gefal­le­nen „Kame­ra­den“ mit „kame­rad­schaft­li­chem“ Gruß bedankt. Das Schrei­ben ist in dem wohl ganz unver­däch­ti­gen Band Hit­ler und sei­ne Die­ner von Simon Poli­a­kov faksimiliert.
Ange­sichts der Zwei­fel bat der Ver­fas­ser die­ses Auf­sat­zes am 11. Juli 2004 den Amts­chef des Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­am­tes (MGFA) um Mit­tei­lung, wor­auf sich der Bericht über die Schand­tat stützt. Nach fünf Wochen dank­te der Amts­chef am 19. August für das Inter­es­se an den Ver­öf­fent­li­chun­gen des MGFA. Aber der erbe­te­ne Hin­weis auf die Quel­le für jene Schand­tat fehl­te. Neu­er Brief am 16. Okto­ber 2004. Ant­wort am 4. Novem­ber: Die Quel­le sei dem Amts­chef nicht bekannt und er kön­ne die Ver­fas­ser des Auf­sat­zes nicht anwei­sen, die Quel­le zu nen­nen (war­um?). „Mit freund­li­chen Grü­ßen.“ Da bleibt nur die Annah­me, daß es die Quel­le nicht gibt. Das wür­de dann frei­lich bedeu­ten, daß die Schand­tat erfun­den wur­de. Die­se Ver­mu­tung wird durch die noch heu­te ver­füg­ba­ren Unter­la­gen gestützt.
Zur „Aus­schlie­ßung“ der repu­bli­ka­ni­schen Front­kämp­fer­ver­bän­de: Die als libe­ral zu wer­ten­de Vos­si­sche Zei­tung berich­te­te am 20. Sep­tem­ber 1927, das der SPD nahe­ste­hen­de Reichs­ban­ner Schwarz-Rot-Gold habe die Betei­li­gung von sich aus „abge­lehnt“, weil es eine natio­na­lis­ti­sche Demons­tra­ti­on erwar­te­te. Bei die­ser Beur­tei­lung dürf­ten par­tei­po­li­ti­sche Gesichts­punk­te eine Rol­le gespielt haben. Dafür ist bezeich­nend, daß die SPD-Regie­rung Preu­ßens sich bei der Ein­wei­hungs­fei­er trotz Teil­nah­me des Reichs­prä­si­den­ten und der Reichs­re­gie­rung durch nach­ge­ord­ne­te Orga­ne ver­tre­ten ließ. Der Vor­wärts – Zen­tral­or­gan der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei Deutsch­lands sprach von einer „aus­ge­prägt natio­na­lis­ti­schen“ Kund­ge­bung, obwohl die im Mit­tel­punkt der Ver­an­stal­tung ste­hen­de Anspra­che des Reichs­prä­si­den­ten vor­her dem Reichs­kanz­ler Marx und dem Außen­mi­nis­ter Stre­se­mann vor­ge­legt und gebil­ligt wor­den war. Jeden­falls von „Aus­schlie­ßung“ der repu­bli­ka­ni­schen Front­kämp­fer­ver­bän­de kei­ne Spur; sie haben nicht teil­neh­men wollen.

Bei der Beur­tei­lung die­ser Hal­tung kann man auf das Urteil von Arthur Rosen­berg, also eines His­to­ri­kers und kom­mu­nis­ti­schen Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten und mit­hin eines unver­däch­ti­gen Zeu­gen ver­wei­sen. In sei­ner zwei­bän­di­gen Geschich­te der Wei­ma­rer Repu­blik urteilt er mehr­fach, die Miß­ach­tung eines maß­vol­len Natio­nal­ge­fühls durch die Lin­ke habe wesent­lich dazu bei­getra­gen, daß die Repu­blik wenig Anklang fand. Man wird also die Hal­tung der poli­ti­schen Lin­ken nicht auto­ma­tisch bil­li­gen müssen.
Die „Aus­schlie­ßung“ der jüdi­schen Front­kämp­fer­ver­bän­de? Der Fest­aus­schuß hat­te den ehe­ma­li­gen Feld­rab­bi­ner Dr. Lewin, einen evan­ge­li­schen und einen katho­li­schen Geist­li­chen um eine Anspra­che beim ein­lei­ten­den Got­tes­dienst gebe­ten. Doch nach­dem das Pro­gramm gedruckt und ver­öf­fent­licht wor­den war, ent­stan­den Schwie­rig­kei­ten. Folg­lich schrieb nach einer erfolg­lo­sen Bespre­chung, aber vor der Ein­wei­hung, der Fest­aus­schuß am 13. Sep­tem­ber 1927 dem Reichs­bund jüdi­scher Front­sol­da­ten, er hal­te „eine Anspra­che des Herrn Rab­bi­ners bei Beginn der Wei­hef­ei­er“ nicht mehr für mög­lich. Der Grund: weil „der glei­che Anspruch von Ver­tre­tern ande­rer, nicht zur evan­ge­li­schen und katho­li­schen Kir­che gehö­ren­den Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten mit dem glei­chen Recht erho­ben wur­de. Da eine län­ge­re Fol­ge von Fest­an­spra­chen sich selbst­ver­ständ­lich ver­bot, muß­ten die­se auf die Ver­tre­ter der bei­den Kir­chen beschränkt wer­den, wel­che die weit über­wie­gen­de Mehr­heit der Tan­nen­berg­kämp­fer umfaßt. Die Ver­tre­ter der übri­gen klei­ne­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten sind bereit­wil­lig auf den Vor­schlag ein­ge­gan­gen, eine kur­ze Anspra­che bei der Kranz­nie­der­le­gung zu hal­ten. Auch Herr Rab­bi­ner Lewin hat­te sich damit ein­ver­stan­den erklärt. Wir bedau­ern, daß er durch die Ber­li­ner Instan­zen des deut­schen Juden­tums zur Ände­rung sei­nes Stand­punk­tes ver­an­laßt wor­den ist … Mit der Ver­si­che­rung der vor­züg­lichs­ten Hoch­ach­tung zeich­ne ich erge­benst – Kahns, Gene­ral­ma­jor, Vorsitzender“.
Mit den „übri­gen klei­ne­ren Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten“ waren ver­mut­lich Frei­re­li­giö­se, Bap­tis­ten, Metho­dis­ten, Alt­ka­tho­li­ken, Pie­tis­ten, Zeu­gen Jeho­vas und ande­re gemeint. Zur Beur­tei­lung, der Par­al­le­li­sie­rung der jüdi­schen mit ande­ren, klei­ne­ren Glau­bens­ge­mein­schaf­ten durch den Fest­aus­schuß: 1927 gab es in Deutsch­land etwa ein Pro­zent Juden. Dabei ist unge­wiß, nach wel­chen Kri­te­ri­en gezählt wur­de. Falls die Zäh­lung nach der Her­kunft, nicht aber nach der Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit erfolg­te, dürf­te die Zahl der­je­ni­gen jüdi­schen Tan­nen­berg­kämp­fer, für die Dr. Lewin spre­chen soll­te, wegen der getauf­ten Juden, der Frei­den­ker und ähn­li­chen noch erheb­lich unter einem Pro­zent gele­gen haben.
Bei der Beur­tei­lung der oben aus­führ­lich zitier­ten Dar­stel­lung des Fest­aus­schus­ses ist zu beach­ten, daß die­ser eben­so Par­tei war wie der Reichs­bund jüdi­scher Front­sol­da­ten, der dem Fest­aus­schuß „klein­li­chen Geist“ vor­warf (die­se For­mu­lie­rung fin­det sich in einer Stel­lung­nah­me der Redak­ti­on der Ver­bands­zeit­schrift Der Schild in deren Aus­ga­be vom 26. Sep­tem­ber 1927).

Den­noch darf man heu­ti­ge Gebräu­che zur Bewer­tung her­an­zie­hen. Der Ver­fas­ser hat mehr­fach auf dem bri­ti­schen Sol­da­ten­fried­hof in Rom am Memo­ri­al Day, dem bri­ti­schen Volks­trau­er­tag teil­ge­nom­men. Gera­de in Ita­li­en dürf­ten in den indi­schen und afri­ka­ni­schen Trup­pen der bri­ti­schen Streit­kräf­te zahl­rei­che Hin­dus, Mos­lems, Sikhs, Lamais­ten sowie auch Juden gefal­len sein, wie auch die Grab­stei­ne auf dem Fried­hof zei­gen. Doch stets spra­chen – eben­so wie 1927 am Tan­nen­berg­denk­mal – nur ein evan­ge­li­scher und ein katho­li­scher Geist­li­cher. Anschei­nend hat kei­ner der Bot­schaf­ter der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Kolo­nien sowie Domi­ni­en Anstoß dar­an genom­men, daß kein Imam, kein Rab­bi, kein Hin­du­pries­ter spra­chen, denn sie nah­men alle an der Fei­er teil. Man wird also die Reak­ti­on Dr. Lewins nicht auto­ma­tisch als berech­tigt aner­ken­nen müs­sen. Unbe­streit­bar ist, daß er ein­ge­la­den war und sich aus eige­nem Ent­schluß zurück­zog, weil ihm nur bei der Kranz­nie­der­le­gung Rede­recht und Rede­zeit ein­ge­räumt wurden.
Der jüdi­sche Front­sol­da­ten­ver­band? Der „Lan­des­ver­band Ost –und West­preu­ßen“ des Reichs­bun­des gab eine Pres­se­er­klä­rung her­aus (Der Schild vom 19. Sep­tem­ber 1927), in der es ein­lei­tend heißt, er habe sich „zu sei­nem gro­ßen Bedau­ern und schwe­ren Her­zens ent­schlie­ßen müs­sen, der Fei­er auf dem Schlacht­fel­de von Tan­nen­berg fern­zu­blei­ben“. Im ursprüng­li­chen Fest­pro­gramm sei eine Anspra­che des Feld­rab­bi­ners Dr. Lewin beim ein­lei­ten­den Got­tes­dienst vor­ge­se­hen gewe­sen, doch dann sei an die­sen das Ansin­nen gestellt wor­den, „an ande­rer Stel­le im spä­te­ren Ver­lauf der Fei­er die Anspra­che zu hal­ten“. Des­halb sei­en sie, die jüdi­schen Front­kämp­fer, der Fei­er „fern­ge­blie­ben“. Das bestä­tigt die zitier­te Dar­stel­lung des Fest­aus­schus­ses. Also wie­der­um von „Aus­schlie­ßung“ kei­ne Spur.
Doch damit nicht genug der Frag­wür­dig­kei­ten in einem ein­zi­gen Heft der Mili­tär­ge­schich­te. Das Mili­tär­ge­schicht­li­che For­schungs­amt hat einen Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rat, dem ein Pro­fes­sor der Uni­ver­si­tät Pots­dam vor­sitzt. Die­ser ver­öf­fent­lich­te im glei­chen Heft einen Auf­satz über „Deut­sche Kriegs­zie­le im Ers­ten Welt­krieg“. Inhalt und Ten­denz des Auf­sat­zes ent­spre­chen dem Niveau der Zeit­schrift. Der Auf­satz gip­felt in der Dar­stel­lung von Zie­len, die in vol­lem Sinn des har­ten Wor­tes idio­tisch und zudem schand­bar waren: Die deut­schen ter­ri­to­ria­len Kriegs­zie­le soll­ten sich „auf Drän­gen Luden­dorffs im Osten bis zum Ural erstrecken.“
Die Nutz­an­wen­dung folgt sofort: Mit dem „Gewalt­frie­den von Brest-Litowsk am 3. März 1918“ berei­te­ten „die Deut­schen selbst den Boden für Ver­sailles“, wo dann ein Ver­stän­di­gungs­frie­den „kei­ne Chan­ce mehr“ hat­te. Schon hier­zu ist anzu­mer­ken, daß das Auf­rech­nen zu Recht ver­pönt ist. Doch das gilt anschei­nend nicht, wenn das Auf­rech­nen, hier von Brest-Litowsk gegen Ver­sailles, die Deut­schen belas­tet. Dabei kann unbe­rück­sich­tigt blei­ben, ob Brest-Litowsk in die­sem Auf­satz kor­rekt oder poli­tisch kor­rekt beur­teilt wurde.

Der Ver­fas­ser die­ses Auf­sat­zes hat sich mit Luden­dorff inten­siv beschäf­tigt und des­sen ter­ri­to­ria­le Kriegs­zie­le wahr­lich kri­ti­siert. Aber von Anne­xio­nen „bis zum Ural“, hat­te er in den amt­li­chen Doku­men­ten und in den Berich­ten der Zeit­zeu­gen nie etwas gefun­den. Also bat er den Ver­fas­ser des Auf­sat­zes am 28. Dezem­ber 2004 um Mit­tei­lung der Quel­le für die Anne­xi­ons­ge­lüs­te „bis zum Ural“. Die Bit­te wäre leicht zu erfül­len gewe­sen – wenn es die Quel­le gäbe. Doch die Bit­te blieb unbe­ant­wor­tet. Da bleibt wie­der­um nur der Schluß, daß in einem Auf­satz sogar des Vor­sit­zen­den des Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats des MGFA die Dar­stel­lung der deut­schen Geschich­te eine neue Qua­li­tät erreicht: man stellt angeb­li­che deut­sche Idio­ti­en und Schand­ta­ten auf frag­wür­digs­ter Basis dar, als reich­ten die tat­säch­li­chen nicht aus.
Bleibt die Fra­ge nach dem Ursprung der Frag­wür­dig­kei­ten. Fahr­läs­sig­keit wäre anzu­neh­men, wenn die Autoren sich auf frag­wür­di­ge, nur unzu­rei­chend geprüf­te Quel­len gestützt hät­ten. Aber das ist wohl aus­zu­schlie­ßen. Es gibt kei­ne halb­wegs glaub­wür­di­gen Dar­stel­lun­gen, auf die sich die Autoren der bei­den Arti­kel irr­tüm­lich stüt­zen konn­ten. Mit­hin bleibt nur, daß die Autoren deut­sche Schand­ta­ten schöp­fe­risch erfun­den haben und dabei wuß­ten, daß der Amts­chef des MGFA sie not­falls decken wür­de. Also: ein Qualitätssprung.
Natür­lich sind die bei­den genann­ten Auf­sät­ze bei iso­lier­ter Betrach­tung unwich­tig. Sie sind so unwich­tig wie die Bewe­gung des Zei­gers in einem Instru­ment, die jedoch oft wich­ti­ges anzeigt. Das MGFA ist das größ­te deut­sche Geschichts­for­schungs­in­sti­tut; neu­ar­ti­ge Ten­den­zen dort kön­nen also wich­ti­ges anzeigen.
Der Ein­fluß des MGFA läßt sich, neben sei­ner Grö­ße, auch aus der Ver­brei­tung sei­ner Ver­öf­fent­li­chun­gen abschät­zen: die Zeit­schrift Mili­tär­ge­schich­te wird ande­ren Zeit­schrif­ten bei­gelegt und wird bis zur Ebe­ne Kom­pa­nie, Schiff bezie­hungs­wei­se Staf­fel ver­teilt. Sie unter­rich­tet also unter ande­rem die gesam­te Bun­des­wehr. Des­halb muß der Leser anneh­men, daß nicht die Mei­nung eines unmaß­geb­li­chen His­to­ri­kers – „Frei­heit der Wis­sen­schaft“ –, son­dern gesi­cher­te Ergeb­nis­se der Geschichts­wis­sen­schaft mit­ge­teilt wer­den, die ver­nünf­ti­ger­wei­se nicht ange­zwei­felt wer­den können.
Noch wich­ti­ger ist, daß der­ar­ti­ge Auf­sät­ze weit­hin sicht­ba­re Signa­le set­zen. Die His­to­ri­ker des MGFA sowie die Mili­tär­ge­schichts­leh­rer an den Uni­ver­si­tä­ten sowie Offi­zier­schu­len der Bun­des­wehr kön­nen deut­lich erken­nen, was sie zu leh­ren und wel­che Auf­fas­sun­gen sie zu ver­tre­ten haben, um vor­wärts­zu­kom­men. Die­se indi­rek­te Wir­kung der­ar­ti­ger Auf­sät­ze dürf­te nicht gering sein und dürf­te sich noch bei den Offi­zie­ren der kom­men­den Gene­ra­ti­on auswirken.
Eine wei­te­re Wir­kung könn­te sich auf Dau­er als die nega­tivs­te erwei­sen. Noch ein­mal sei an die weit ver­brei­te­te Begeis­te­rung über die Wehr­macht­aus­stel­lun­gen erin­nert. Nur weni­ge tra­ten einer Aus­stel­lung ent­ge­gen, die sich schließ­lich nach hef­ti­gem Zögern das Urteil selbst spre­chen muß­te. Der­ar­ti­ges hat Fol­gen. „Wer ein­mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahr­heit spricht.“ Wer Schand­ta­ten erfin­det, kann sich nicht wun­dern, wenn das hier­aus erwach­sen­de Miß­trau­en auch sei­ne zutref­fen­den Dar­stel­lun­gen deut­scher Schand­ta­ten trifft.

Zum Schluß eine Ara­bes­ke: Der Chef­re­dak­teur der Mili­tär­ge­schich­te, unter dem die bei­den hier dar­ge­leg­ten und ähn­li­che Auf­sät­ze erschie­nen, wur­de im Dezem­ber 2004 beför­dert. Er wur­de Amts­chef des MGFA. Was darf man nun vom MGFA erwarten?
In die­sem Zusam­men­hang kann inter­es­sie­ren, wie die deut­sche Art der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung im Aus­land gese­hen wird. Kein Zwei­fel: Kennt­nis auch der dunk­len Sei­ten der deut­schen Geschich­te ist not­wen­dig. Der Ver­fas­ser hat in sei­nen Buch­ver­öf­fent­li­chun­gen unter ande­rem ver­wie­sen auf den Kom­mis­sar­be­fehl, den Bar­ba­ross­a­be­fehl, das Mas­sen­ster­ben der sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen, den Geno­zid an den Juden, Himm­lers Pose­ner Rede und ande­res. Aller­dings hat er auch von Poli­ti­kern oder Trup­pen der west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft began­ge­ne Unta­ten nicht verschwiegen.
Frag­lich ist also nur, wie die­se Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung heu­te betrie­ben wird. Schon Goe­the und Schil­ler haben in den Zah­men Xeni­en beklagt: „Daß der Deut­sche doch alles zu sei­nem Äußers­ten trei­bet.“ Das berech­tigt zu der Fra­ge, ob die Deut­schen auch die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung „zum Äußers­ten“, also not­falls bis zur Erfin­dung neu­er Schand­ta­ten trei­ben. Dabei wird die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung im Aus­land oft posi­tiv beur­teilt. Die­se Zeug­nis­se wer­den gern zitiert. Aber es gibt auch ande­re Stim­men, die frei­lich sel­ten zitiert wer­den. Ein Beispiel:
Unter dem Titel Die rus­si­schen Kriegs­ro­ma­ne der 1990er Jah­re – Eine Fra­ge der natio­na­len Iden­ti­tät unter­sucht Prof. Frank Ellis von der Uni­ver­si­tät Leeds in der Salis­bu­ry Review (Aus­ga­be Herbst 2003), also in einem Blatt des Deutsch­land und den Deut­schen meist abge­neig­ten bri­ti­schen kon­ser­va­ti­ven estab­lish­ments, die neue rus­si­sche Kriegs­li­te­ra­tur. Nicht umsonst ist die Zeit­schrift nach Robert Cecil, 3. Mar­quess of Salis­bu­ry benannt, der von den spä­te­ren Bis­marck-Jah­ren bis ins zwan­zigs­te Jahr­hun­dert hin­ein die eng­li­sche Außen­po­li­tik als Außen­mi­nis­ter oder Pre­mier bestimm­te. Ein Ame­ri­ka­ner, Robert Lan­ger, schreibt ihm eine „strong anti­pa­thy towards the Ger­man peo­p­le as a who­le“, eine star­ke Abnei­gung gegen das gesam­te deut­sche Volk zu.
Die­ser Hin­ter­grund läßt erwar­ten, daß die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und das, was die heu­ti­ge deut­sche poli­ti­sche Klas­se gern als „neue deut­sche Beschei­den­heit“ rühmt, auch in der Salis­bu­ry Review posi­tiv beur­teilt wird. Doch die Erwar­tung täuscht.

Prof. Ellis ver­weist ein­lei­tend dar­auf, daß vie­le Völ­ker Schwie­rig­kei­ten mit dunk­len Sei­ten ihrer Geschich­te haben (aller­dings nicht die Bri­ten, denn die foch­ten im Zwei­ten Welt­krieg einen „good war“): „Die gaul­lis­ti­sche Pro­pa­gan­da war auf den Mythos gegrün­det, die Fran­zo­sen hät­ten sich selbst befreit und all­ge­mein der deut­schen Besat­zung wider­stand geleis­tet; so ver­such­te sie die Fran­zo­sen, Vichy ver­schwei­gend, in einen der Sie­ger zu ver­wan­deln (…) In Deutsch­land schu­fen die edel­mü­ti­gen und ent­schlos­se­nen Bemü­hun­gen von Poli­ti­kern der Rech­ten und der Lin­ken, die Nazi-Ver­gan­gen­heit zu bewäl­ti­gen, unglück­li­cher­wei­se einen psy­cho­lo­gi­schen Ter­ror, der eben­so wider­lich ist wie alles, was Goeb­bels auf­er­leg­te. Auf allen Ebe­nen des Erzie­hungs­sys­tems und der deut­schen Medi­en wird den Deut­schen unauf­hör­lich das Gehirn gewa­schen (…) Daß Gün­ther Grass’ neue Novel­le Im Krebs­gang, die Deut­sche als Opfer schil­dert, ein Tabu-Bre­cher wur­de, bezeugt die Macht der Deutsch­land seit 1945 beherr­schen­den poli­tisch kor­rek­ten Ortho­do­xie. Die Bereit­schaft so vie­ler Deut­scher, sich an end­lo­ser Selbst­gei­ße­lung zu betei­li­gen, und so zu den­ken, wie das Estab­lish­ment bestimmt, ist geis­tes­ge­schicht­lich eben­so unnor­mal wie der fran­zö­si­sche Bom­bast über Wider­stand gegen Nazi-Besat­zung und Selbstbefreiung.“
Bemer­kens­wert ist an die­sem Urteil, daß es in einer Zeit­schrift und dort in einem Zusam­men­hang (rus­si­sche Kriegs­ro­ma­ne) erscheint, wo man es wahr­lich nicht erwar­tet. Der Auf­satz in der Salis­bu­ry Review könn­te viel­leicht zu dem sonst so belieb­ten „kri­ti­schen Hin­ter­fra­gen“ sogar bei der heu­ti­gen deut­schen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung und zu einem Urteil über den Qua­li­täts­sprung in den Ver­öf­fent­li­chun­gen des Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­am­tes veranlassen.
Das wür­de erfor­dern, allen Ver­öf­fent­li­chun­gen des MGFA mit aus­ge­präg­ter Skep­sis ent­ge­gen­zu­tre­ten. Die­se haben sich die Spit­zen des Amtes durch Ver­öf­fent­li­chun­gen zuge­zo­gen, für deren Män­gel die hier ange­führ­ten Frag­wür­dig­kei­ten Bei­spiel sind.

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