Das quantitative Wachsen des Bürgertums bewirkte in den absolutistischen Staaten den Qualitätssprung zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die Grenzen der Doktrin sind allerdings offensichtlich: In den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften soll die quantitative Vermehrung des verelendenden Proletariats mit naturgesetzlicher Sicherheit zu einem revolutionären Qualitätssprung, also über die Diktatur des Proletariats zur sozialistischen und schließlich kommunistischen Gesellschaft führen.
Bisher waren dort, wo die Vergangenheitsbewältigung mit übergroßem Eifer und fragwürdigen Methoden betrieben wurde, nur quantitative Änderungen festzustellen. Noch vor vierzig oder dreißig Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, Soldaten pauschal als Mörder und die Wehrmacht pauschal als „marschierendes Schlachthaus“ zu bezeichnen. Doch seitdem haben Einäugigkeit, Verschweigen der dem gewünschten Urteil entgegenstehenden Tatsachen und Dokumente sowie manch anderes quantitativ weiter zugenommen, wie die (anfängliche) Begeisterung über die Wehrmachtausstellungen zeigt. Aber in einem Chorgesang fallen nur die lautesten Stimmen auf. Wer Beifall begehrt, muß also noch lauter singen. So wird der Chorgesang immer lauter (eine quantitative Änderung) und kann in eine neue Qualität umschlagen. Dieser Qualitätssprung scheint nun zu geschehen. Das läßt sich an den letzten Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) der Bundeswehr aufzeigen.
Das Amt veröffentlicht unter anderem Militärgeschichte – Zeitschrift für historische Bildung; warum die Zeitschrift wichtig ist, sei später dargelegt. Sogar in einem einzigen der neueren Hefte finden sich gleich zwei Aufsätze, die die Vermutung nahelegen, der Qualitätssprung der Vergangenheitsbewältigung sei vollbracht. Der erste Aufsatz hatte den „Mythos“ Tannenberg und damit eine deutsche „Legende“ als Titel.
Schon das weckt Interesse. Immerhin ist sogar genialen Heerführern die Einschließung und damit Vernichtung eines feindlichen Heeres nur selten gelungen: Hannibal bei Cannae, Cäsar bei Ilerda, Napoleon bei Ulm und Moltke bei Metz sowie bei Sedan. Hindenburg und Ludendorff konnten 1914 bei Tannenberg die sogar etwas stärkere russische Zweite Armee in einer mehrtägigen Schlacht einschließen – und das, obwohl die nur ein bis anderthalb Tagesmärsche entfernte russische Erste Armee praktisch keine deutschen Truppen mehr vor sich hatte und dauernd einzugreifen drohte. Warum ein solcher Sieg so sehr „Mythos“ und „Legende“ sein soll, ist schwer erkennbar. Doch das ist hier nicht Thema. Also nur der Hinweis, daß Niveau und Aussage des Aufsatzes dem Titel entsprechen.
Gegen Ende des Aufsatzes wird sichtbar, was man wohl als Qualitätssprung der Vergangenheitsbewältigung bezeichnen kann. Der Aufsatz berichtete eine Schandtat: bei der Einweihung des Tannenbergdenkmals am 18. September 1927 wurden „bezeichnenderweise“ die republikanischen und jüdischen Veteranenverbände „ausgeschlossen“. Also: Rassismus, Antisemitismus, Verneinung der legalen sowie demokratisch legitimierten republikanischen Staatsordnung und Verneinung der verbal beschworenen Frontkämpfergemeinschaft in einem einzigen Bubenstück! Wahrlich eine Schandtat.
Zweifel können allerdings aufkommen, wenn man beachtet, daß die Einweihung des Denkmals in Gegenwart des Reichspräsidenten von Hindenburg, des Reichskanzlers und zweier Reichsminister stattfand.
Diese sollen gemeinschaftlich die Schandtat zugelassen und gedeckt haben? Zudem hat ausgerechnet Hindenburg noch 1932, also mit Hitler vor den Toren, sich für das ihm vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten übersandte „Gedenkbuch“ mit den Namen der 12.000 jüdischen Gefallenen in „ehrfurchtsvoller“ Erinnerung an die „für das Vaterland“ gefallenen „Kameraden“ mit „kameradschaftlichem“ Gruß bedankt. Das Schreiben ist in dem wohl ganz unverdächtigen Band Hitler und seine Diener von Simon Poliakov faksimiliert.
Angesichts der Zweifel bat der Verfasser dieses Aufsatzes am 11. Juli 2004 den Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) um Mitteilung, worauf sich der Bericht über die Schandtat stützt. Nach fünf Wochen dankte der Amtschef am 19. August für das Interesse an den Veröffentlichungen des MGFA. Aber der erbetene Hinweis auf die Quelle für jene Schandtat fehlte. Neuer Brief am 16. Oktober 2004. Antwort am 4. November: Die Quelle sei dem Amtschef nicht bekannt und er könne die Verfasser des Aufsatzes nicht anweisen, die Quelle zu nennen (warum?). „Mit freundlichen Grüßen.“ Da bleibt nur die Annahme, daß es die Quelle nicht gibt. Das würde dann freilich bedeuten, daß die Schandtat erfunden wurde. Diese Vermutung wird durch die noch heute verfügbaren Unterlagen gestützt.
Zur „Ausschließung“ der republikanischen Frontkämpferverbände: Die als liberal zu wertende Vossische Zeitung berichtete am 20. September 1927, das der SPD nahestehende Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold habe die Beteiligung von sich aus „abgelehnt“, weil es eine nationalistische Demonstration erwartete. Bei dieser Beurteilung dürften parteipolitische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben. Dafür ist bezeichnend, daß die SPD-Regierung Preußens sich bei der Einweihungsfeier trotz Teilnahme des Reichspräsidenten und der Reichsregierung durch nachgeordnete Organe vertreten ließ. Der Vorwärts – Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sprach von einer „ausgeprägt nationalistischen“ Kundgebung, obwohl die im Mittelpunkt der Veranstaltung stehende Ansprache des Reichspräsidenten vorher dem Reichskanzler Marx und dem Außenminister Stresemann vorgelegt und gebilligt worden war. Jedenfalls von „Ausschließung“ der republikanischen Frontkämpferverbände keine Spur; sie haben nicht teilnehmen wollen.
Bei der Beurteilung dieser Haltung kann man auf das Urteil von Arthur Rosenberg, also eines Historikers und kommunistischen Reichstagsabgeordneten und mithin eines unverdächtigen Zeugen verweisen. In seiner zweibändigen Geschichte der Weimarer Republik urteilt er mehrfach, die Mißachtung eines maßvollen Nationalgefühls durch die Linke habe wesentlich dazu beigetragen, daß die Republik wenig Anklang fand. Man wird also die Haltung der politischen Linken nicht automatisch billigen müssen.
Die „Ausschließung“ der jüdischen Frontkämpferverbände? Der Festausschuß hatte den ehemaligen Feldrabbiner Dr. Lewin, einen evangelischen und einen katholischen Geistlichen um eine Ansprache beim einleitenden Gottesdienst gebeten. Doch nachdem das Programm gedruckt und veröffentlicht worden war, entstanden Schwierigkeiten. Folglich schrieb nach einer erfolglosen Besprechung, aber vor der Einweihung, der Festausschuß am 13. September 1927 dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, er halte „eine Ansprache des Herrn Rabbiners bei Beginn der Weihefeier“ nicht mehr für möglich. Der Grund: weil „der gleiche Anspruch von Vertretern anderer, nicht zur evangelischen und katholischen Kirche gehörenden Religionsgemeinschaften mit dem gleichen Recht erhoben wurde. Da eine längere Folge von Festansprachen sich selbstverständlich verbot, mußten diese auf die Vertreter der beiden Kirchen beschränkt werden, welche die weit überwiegende Mehrheit der Tannenbergkämpfer umfaßt. Die Vertreter der übrigen kleineren Religionsgemeinschaften sind bereitwillig auf den Vorschlag eingegangen, eine kurze Ansprache bei der Kranzniederlegung zu halten. Auch Herr Rabbiner Lewin hatte sich damit einverstanden erklärt. Wir bedauern, daß er durch die Berliner Instanzen des deutschen Judentums zur Änderung seines Standpunktes veranlaßt worden ist … Mit der Versicherung der vorzüglichsten Hochachtung zeichne ich ergebenst – Kahns, Generalmajor, Vorsitzender“.
Mit den „übrigen kleineren Religionsgemeinschaften“ waren vermutlich Freireligiöse, Baptisten, Methodisten, Altkatholiken, Pietisten, Zeugen Jehovas und andere gemeint. Zur Beurteilung, der Parallelisierung der jüdischen mit anderen, kleineren Glaubensgemeinschaften durch den Festausschuß: 1927 gab es in Deutschland etwa ein Prozent Juden. Dabei ist ungewiß, nach welchen Kriterien gezählt wurde. Falls die Zählung nach der Herkunft, nicht aber nach der Religionszugehörigkeit erfolgte, dürfte die Zahl derjenigen jüdischen Tannenbergkämpfer, für die Dr. Lewin sprechen sollte, wegen der getauften Juden, der Freidenker und ähnlichen noch erheblich unter einem Prozent gelegen haben.
Bei der Beurteilung der oben ausführlich zitierten Darstellung des Festausschusses ist zu beachten, daß dieser ebenso Partei war wie der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der dem Festausschuß „kleinlichen Geist“ vorwarf (diese Formulierung findet sich in einer Stellungnahme der Redaktion der Verbandszeitschrift Der Schild in deren Ausgabe vom 26. September 1927).
Dennoch darf man heutige Gebräuche zur Bewertung heranziehen. Der Verfasser hat mehrfach auf dem britischen Soldatenfriedhof in Rom am Memorial Day, dem britischen Volkstrauertag teilgenommen. Gerade in Italien dürften in den indischen und afrikanischen Truppen der britischen Streitkräfte zahlreiche Hindus, Moslems, Sikhs, Lamaisten sowie auch Juden gefallen sein, wie auch die Grabsteine auf dem Friedhof zeigen. Doch stets sprachen – ebenso wie 1927 am Tannenbergdenkmal – nur ein evangelischer und ein katholischer Geistlicher. Anscheinend hat keiner der Botschafter der ehemaligen britischen Kolonien sowie Dominien Anstoß daran genommen, daß kein Imam, kein Rabbi, kein Hindupriester sprachen, denn sie nahmen alle an der Feier teil. Man wird also die Reaktion Dr. Lewins nicht automatisch als berechtigt anerkennen müssen. Unbestreitbar ist, daß er eingeladen war und sich aus eigenem Entschluß zurückzog, weil ihm nur bei der Kranzniederlegung Rederecht und Redezeit eingeräumt wurden.
Der jüdische Frontsoldatenverband? Der „Landesverband Ost –und Westpreußen“ des Reichsbundes gab eine Presseerklärung heraus (Der Schild vom 19. September 1927), in der es einleitend heißt, er habe sich „zu seinem großen Bedauern und schweren Herzens entschließen müssen, der Feier auf dem Schlachtfelde von Tannenberg fernzubleiben“. Im ursprünglichen Festprogramm sei eine Ansprache des Feldrabbiners Dr. Lewin beim einleitenden Gottesdienst vorgesehen gewesen, doch dann sei an diesen das Ansinnen gestellt worden, „an anderer Stelle im späteren Verlauf der Feier die Ansprache zu halten“. Deshalb seien sie, die jüdischen Frontkämpfer, der Feier „ferngeblieben“. Das bestätigt die zitierte Darstellung des Festausschusses. Also wiederum von „Ausschließung“ keine Spur.
Doch damit nicht genug der Fragwürdigkeiten in einem einzigen Heft der Militärgeschichte. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt hat einen Wissenschaftlichen Beirat, dem ein Professor der Universität Potsdam vorsitzt. Dieser veröffentlichte im gleichen Heft einen Aufsatz über „Deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg“. Inhalt und Tendenz des Aufsatzes entsprechen dem Niveau der Zeitschrift. Der Aufsatz gipfelt in der Darstellung von Zielen, die in vollem Sinn des harten Wortes idiotisch und zudem schandbar waren: Die deutschen territorialen Kriegsziele sollten sich „auf Drängen Ludendorffs im Osten bis zum Ural erstrecken.“
Die Nutzanwendung folgt sofort: Mit dem „Gewaltfrieden von Brest-Litowsk am 3. März 1918“ bereiteten „die Deutschen selbst den Boden für Versailles“, wo dann ein Verständigungsfrieden „keine Chance mehr“ hatte. Schon hierzu ist anzumerken, daß das Aufrechnen zu Recht verpönt ist. Doch das gilt anscheinend nicht, wenn das Aufrechnen, hier von Brest-Litowsk gegen Versailles, die Deutschen belastet. Dabei kann unberücksichtigt bleiben, ob Brest-Litowsk in diesem Aufsatz korrekt oder politisch korrekt beurteilt wurde.
Der Verfasser dieses Aufsatzes hat sich mit Ludendorff intensiv beschäftigt und dessen territoriale Kriegsziele wahrlich kritisiert. Aber von Annexionen „bis zum Ural“, hatte er in den amtlichen Dokumenten und in den Berichten der Zeitzeugen nie etwas gefunden. Also bat er den Verfasser des Aufsatzes am 28. Dezember 2004 um Mitteilung der Quelle für die Annexionsgelüste „bis zum Ural“. Die Bitte wäre leicht zu erfüllen gewesen – wenn es die Quelle gäbe. Doch die Bitte blieb unbeantwortet. Da bleibt wiederum nur der Schluß, daß in einem Aufsatz sogar des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats des MGFA die Darstellung der deutschen Geschichte eine neue Qualität erreicht: man stellt angebliche deutsche Idiotien und Schandtaten auf fragwürdigster Basis dar, als reichten die tatsächlichen nicht aus.
Bleibt die Frage nach dem Ursprung der Fragwürdigkeiten. Fahrlässigkeit wäre anzunehmen, wenn die Autoren sich auf fragwürdige, nur unzureichend geprüfte Quellen gestützt hätten. Aber das ist wohl auszuschließen. Es gibt keine halbwegs glaubwürdigen Darstellungen, auf die sich die Autoren der beiden Artikel irrtümlich stützen konnten. Mithin bleibt nur, daß die Autoren deutsche Schandtaten schöpferisch erfunden haben und dabei wußten, daß der Amtschef des MGFA sie notfalls decken würde. Also: ein Qualitätssprung.
Natürlich sind die beiden genannten Aufsätze bei isolierter Betrachtung unwichtig. Sie sind so unwichtig wie die Bewegung des Zeigers in einem Instrument, die jedoch oft wichtiges anzeigt. Das MGFA ist das größte deutsche Geschichtsforschungsinstitut; neuartige Tendenzen dort können also wichtiges anzeigen.
Der Einfluß des MGFA läßt sich, neben seiner Größe, auch aus der Verbreitung seiner Veröffentlichungen abschätzen: die Zeitschrift Militärgeschichte wird anderen Zeitschriften beigelegt und wird bis zur Ebene Kompanie, Schiff beziehungsweise Staffel verteilt. Sie unterrichtet also unter anderem die gesamte Bundeswehr. Deshalb muß der Leser annehmen, daß nicht die Meinung eines unmaßgeblichen Historikers – „Freiheit der Wissenschaft“ –, sondern gesicherte Ergebnisse der Geschichtswissenschaft mitgeteilt werden, die vernünftigerweise nicht angezweifelt werden können.
Noch wichtiger ist, daß derartige Aufsätze weithin sichtbare Signale setzen. Die Historiker des MGFA sowie die Militärgeschichtslehrer an den Universitäten sowie Offizierschulen der Bundeswehr können deutlich erkennen, was sie zu lehren und welche Auffassungen sie zu vertreten haben, um vorwärtszukommen. Diese indirekte Wirkung derartiger Aufsätze dürfte nicht gering sein und dürfte sich noch bei den Offizieren der kommenden Generation auswirken.
Eine weitere Wirkung könnte sich auf Dauer als die negativste erweisen. Noch einmal sei an die weit verbreitete Begeisterung über die Wehrmachtausstellungen erinnert. Nur wenige traten einer Ausstellung entgegen, die sich schließlich nach heftigem Zögern das Urteil selbst sprechen mußte. Derartiges hat Folgen. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“ Wer Schandtaten erfindet, kann sich nicht wundern, wenn das hieraus erwachsende Mißtrauen auch seine zutreffenden Darstellungen deutscher Schandtaten trifft.
Zum Schluß eine Arabeske: Der Chefredakteur der Militärgeschichte, unter dem die beiden hier dargelegten und ähnliche Aufsätze erschienen, wurde im Dezember 2004 befördert. Er wurde Amtschef des MGFA. Was darf man nun vom MGFA erwarten?
In diesem Zusammenhang kann interessieren, wie die deutsche Art der Vergangenheitsbewältigung im Ausland gesehen wird. Kein Zweifel: Kenntnis auch der dunklen Seiten der deutschen Geschichte ist notwendig. Der Verfasser hat in seinen Buchveröffentlichungen unter anderem verwiesen auf den Kommissarbefehl, den Barbarossabefehl, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Genozid an den Juden, Himmlers Posener Rede und anderes. Allerdings hat er auch von Politikern oder Truppen der westlichen Wertegemeinschaft begangene Untaten nicht verschwiegen.
Fraglich ist also nur, wie diese Vergangenheitsbewältigung heute betrieben wird. Schon Goethe und Schiller haben in den Zahmen Xenien beklagt: „Daß der Deutsche doch alles zu seinem Äußersten treibet.“ Das berechtigt zu der Frage, ob die Deutschen auch die Vergangenheitsbewältigung „zum Äußersten“, also notfalls bis zur Erfindung neuer Schandtaten treiben. Dabei wird die deutsche Vergangenheitsbewältigung im Ausland oft positiv beurteilt. Diese Zeugnisse werden gern zitiert. Aber es gibt auch andere Stimmen, die freilich selten zitiert werden. Ein Beispiel:
Unter dem Titel Die russischen Kriegsromane der 1990er Jahre – Eine Frage der nationalen Identität untersucht Prof. Frank Ellis von der Universität Leeds in der Salisbury Review (Ausgabe Herbst 2003), also in einem Blatt des Deutschland und den Deutschen meist abgeneigten britischen konservativen establishments, die neue russische Kriegsliteratur. Nicht umsonst ist die Zeitschrift nach Robert Cecil, 3. Marquess of Salisbury benannt, der von den späteren Bismarck-Jahren bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein die englische Außenpolitik als Außenminister oder Premier bestimmte. Ein Amerikaner, Robert Langer, schreibt ihm eine „strong antipathy towards the German people as a whole“, eine starke Abneigung gegen das gesamte deutsche Volk zu.
Dieser Hintergrund läßt erwarten, daß die deutsche Vergangenheitsbewältigung und das, was die heutige deutsche politische Klasse gern als „neue deutsche Bescheidenheit“ rühmt, auch in der Salisbury Review positiv beurteilt wird. Doch die Erwartung täuscht.
Prof. Ellis verweist einleitend darauf, daß viele Völker Schwierigkeiten mit dunklen Seiten ihrer Geschichte haben (allerdings nicht die Briten, denn die fochten im Zweiten Weltkrieg einen „good war“): „Die gaullistische Propaganda war auf den Mythos gegründet, die Franzosen hätten sich selbst befreit und allgemein der deutschen Besatzung widerstand geleistet; so versuchte sie die Franzosen, Vichy verschweigend, in einen der Sieger zu verwandeln (…) In Deutschland schufen die edelmütigen und entschlossenen Bemühungen von Politikern der Rechten und der Linken, die Nazi-Vergangenheit zu bewältigen, unglücklicherweise einen psychologischen Terror, der ebenso widerlich ist wie alles, was Goebbels auferlegte. Auf allen Ebenen des Erziehungssystems und der deutschen Medien wird den Deutschen unaufhörlich das Gehirn gewaschen (…) Daß Günther Grass’ neue Novelle Im Krebsgang, die Deutsche als Opfer schildert, ein Tabu-Brecher wurde, bezeugt die Macht der Deutschland seit 1945 beherrschenden politisch korrekten Orthodoxie. Die Bereitschaft so vieler Deutscher, sich an endloser Selbstgeißelung zu beteiligen, und so zu denken, wie das Establishment bestimmt, ist geistesgeschichtlich ebenso unnormal wie der französische Bombast über Widerstand gegen Nazi-Besatzung und Selbstbefreiung.“
Bemerkenswert ist an diesem Urteil, daß es in einer Zeitschrift und dort in einem Zusammenhang (russische Kriegsromane) erscheint, wo man es wahrlich nicht erwartet. Der Aufsatz in der Salisbury Review könnte vielleicht zu dem sonst so beliebten „kritischen Hinterfragen“ sogar bei der heutigen deutschen Vergangenheitsbewältigung und zu einem Urteil über den Qualitätssprung in den Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes veranlassen.
Das würde erfordern, allen Veröffentlichungen des MGFA mit ausgeprägter Skepsis entgegenzutreten. Diese haben sich die Spitzen des Amtes durch Veröffentlichungen zugezogen, für deren Mängel die hier angeführten Fragwürdigkeiten Beispiel sind.