Im Grunde ein Zufall: Da wurde ein altes VHS-Gerät vom Dachboden heruntergetragen und abgestaubt, dann ein Karton mit Kassetten, zuletzt ein Fernseher, ein richtiges Möbel mit Röhren. Den ganzen langen Regensamstag über dann die Kinder: Immer dieser Michel und Kli-Kla-Klawitterbus und Unsere kleine Farm.
Mit meinem Sohn abends in der Bibliothek. Eine Kassette ohne Beschriftung, dann grelle Erinnerung: ein exerimenteller Film über Ernst Jünger, “Das abenteuerliche Herz”, aus den frühen Neunzigern, in der Anfangsszene eine Sanduhr, koloriert, panisch gefilmt.
Der Film endete, ich griff am Regal nach Jüngers Sanduhrbuch – keine Lektüre für einen Fünfzehnjährigen, aber unter dem Eindruck des Films bot sich eine Möglichkeit, über den Unterschied zwischen dem mechanisch getakteten Kreisen einer Zeigeruhr und dem plastischen Abnehmen und Aufhäufen der Sanduhr-Zeit ein Gespräch zu führen …
Aber da lief auf dem Fernseher ein Film an, den jemand auf den freien Platz der VHS-Kassette aufgespielt hatte – ein Filmchen nur, eine Szene eher, keine zehn Minuten. Titel: “Ein leeres Blatt”, zu sehen ein Podium, das von einem Moderator und vier Teilnehmern besetzt war: einem Linkem, einem Libertären, einem Rassisten (so stand das wirklich auf den Tischkärtchen) und einem vierter, auf dessen Kärtchen nichts stand.
Der Moderator stellte Frage nach den jeweils zentralen ideologischen Punkten und wandte sich zunächst an den Linken.
Der begann über den Abbau von Hierarchien zu sprechen, über die Unterschiedslosigkeit von Mann und Frau, das Konstrukt von Unterschieden überhaupt, die Emanzipation aus allen Bindungen, die Zufälligkeit der Nation – und ja, es gebe einen Ziel‑, einen Endpunkt der historischen Entwicklung, nur habe die Bahn dorthin eine Ablenkung erfahren durch den Zusammenbruch der alternativen Entwürfe des Ostens. Er endete mit den Worten, daß er die Umrisse dieses Umbauplans demnächst in einem vierhundertseitigen Skript veröffentlichen werde.
Auf die Frage des Moderators, ob es ein solches Staats- oder Gesellschaftswesen irgendwo gäbe oder je gegeben habe, antwortete der Linke: »Noch nicht.«
Dann war der Libertäre an der Reihe: Für ihn seien alle »Ordnungsgebilde« jenseits der vertraglichen Vereinbarungen zwischen freien Individuen repressive, gewaltauslösende, gängelnde, räuberische, korrupte Konstruktionen schwacher Personen, gerichtet ausschließlich gegen diejenigen, die stark und frei genug seien, einander zu geben und zu nehmen, was jeder benötige und herstelle, und zwar im Rahmen des einzig gerechten Austauschs: des ewig ausgleichenden, also harmonischen Spiels freier Marktkräfte.
Der Weg zu dieser Choreographie aus Angebot und Nachfrage verlaufe fraglos über eine Zerstörung der Staatsgebilde jedweder Ausformung. Und bevor der Moderator seine naive Frage stelle, wolle er gleich sagen: Nein, noch gebe es kein libertäres Gebilde von staatsähnlicher Bedeutung, aber es werde in Planstädten und auf ölplattformähnlichen Kunstinseln experimentiert. Darüber habe er soeben ein zweibändiges Manuskript eingereicht.
Anders als seine Vorredner sprach der Rassist voller Ressentiment und Abwehr. Ja, er wisse, daß er vermeintlich historisch widerlegt sei, ja, er müsse natürlich eine Antwort geben auf den eliminatorischen Charakter, den die Umsetzungsversuche rassisch eindeutiger und dominierender Großgebilde angenommen hätten, aber dennoch:
Mit irgendwelchen halbgaren Berichten von relativer Homogenität, Kulturnation, historischer Entwicklung und Einverleibung müsse man ihm nicht kommen. All das: Verwischungen, Verzärtelungen, mangelhafte Deutlichkeit. Die Neuordnung der Welt sei hier – er klopfte auf einen dicken Packen Papiers – von ihm niedergeschrieben worden und werde im Selbstverlag erscheinen. Von Moderatorenseite: keine Fragen mehr.
Dann erhielt der vierte das Wort, der mit dem unbeschrifteten Tischkärtchen. Er sei, sagte er, fünftausend Jahre alt oder noch älter, er wisse es nicht. Er habe jedenfalls seit jeher mit dem zu leben und das auszubaden, was auf ihn käme: harte Arbeit, Mißerfolg, Krankheit, Unwetter, Schicksalsschläge, Tod, die Epoche, die Zeit, die paar Jahrzehnte, die ihm geschenkt, gegeben, auferlegt seien, und das sei mehr als genug.
Gottlob habe es immer wieder Zeiten gegeben, in denen (aus Erfahrung klug, durch Erschöpfung gezwungen) sich Menschen wie er hätten durchsetzen können, um Ordnung zu schaffen und jeden zum Teufel zu jagen, der, zum Verderb unzähliger, an die Umsetzung irgendwelcher Experimente und Verrücktheiten und größenwahnsinnigen Entwürfe hatte gehen können.
Ob er das irgendwo theoretisch niedergelegt habe, wollte der Moderator wissen. Nein, sagt der ohne Tischkärtchen, er halte das Normale nicht für erklärungsbedürftig. Aber er könne gern ein paar Eckpunkte notieren, er brauche dazu bloß ein leeres Blatt. Er griff nach dem Kärtchen, das vor ihm stand, glättete den Knick.
Die Kamera schwenkte über seine Schulter, während er schrieb: Familie, Kinder, Arbeit, Fleiß, Dankbarkeit, Garten, Hegung, Achtsamkeit, Grenze, Eigentum, Ehrfurcht, Zuneigung, Gott, Horchen, …
Die anderen drei schauten ihm eine Weile zu, dann gerieten sie über irgendetwas in Streit, und während der Namenlose weiterschrieb (Erziehung, Wachsamkeit, Dienst, Lage, Verteidigungsbereitschaft, Thymos, Revolte, Staat …), riß das Filmchen ab.
Irgendetwas Entscheidendes fehlte noch, irgendetwas von außen. Und wer das wann gedreht hat? Keine Ahnung.
– – –
(Die Teilnehmer am gestrigen Podium, Albrecht Glaser, Dr. Marc Jongen, Dr. Maximilian Krah und der Moderator Matthias Moosdorf, hatten – wie ich selbst – keine Tischkärtchen.)
Homeland
Im Nichtwissen um Inhalt und Verlauf des Podiums um Moosdorf herum, erlaube ich mir insoweit in Vorlage zu gehen und zu behaupten: Wenn des Namenlosen Attribute eine Norm entfalten sollen, dann müssen sie aus der Diskussion in formale Normen, will heißen Verordnungen und Gesetze, überführt werden, also Stuhlkreise, Foren und Studienformate verlassen, ins Konkrete gehen. An dieser Stelle, an der das für die einen Vernünftige Fuß faßt wird schon die Freiheit der anderen berührt.
Ohne konkret werden zu müssen taugen wohlfeile und erhabene Lebensformeln nur im politischen Vorfeld. Wenn die Wahrheit in Worte gefaßt werden muß, sind die liberalen Fenster in der rechten Sicht - denn so verorte ich den Namenlosen - zwingend. Das Zeitlose zu fassen sollte also unser Anliegen sein. Die Fenster zu liefern, ohne das Konservative zu offenbaren, ist die Brücke, der Handschlag "nach drüben", ein Entwurf der Politik zum Geleit.