Wahres
Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut, Gütersloher Verlagshaus 2019, 221 S., 20 €.
Dummer Titel, also wirklich! Aber vielleicht ist dem Volke nicht mehr anders nahe zu kommen als mit reißerischen Aufmachungen. Zwischen den Buchdeckeln steckt allerdings wirklich Zündstoff. Der bekannteste deutsche Kinderpsychiater hat sich in diesem Buch das Bildungssystem vorgeknöpft. Der Grund dafür: das Elternhaus hat seines Erachtens versagt, an die Familien oder was von ihnen übrig ist, kommt man mit Expertenappellen nicht mehr heran. Das Bildungssystem, insonderheit also die Schulen und Kindergärten, haben auf Befreiungspädagogik gesetzt. Offener Unterricht, digitales Klassenzimmer, Kuschelecke, Morgenkreis, Lernstationen. Ich sah einmal einen Kindergarten von innen, in welchem ein „Snoezelen“-Raum zur Verfügung stand: die Kinder sollten darin bequem liegend oder sitzend, umgeben von leisen Klängen und Melodien, sanfte Lichteffekte betrachten. Wenn das das Denkmodell der Bildungsanstalten sein soll – Pathologisierung plus Virtualisierung – dann: gute Nacht!
Winterhoffs Buch ist zum Bestseller geworden, weil diese „antiautoritäre“ Tendenz, die Eltern, Lehrer, Freizeitpädagogen und Therapeuten überdeutlich wahrnehmen, zwar nicht flächendeckend das System lahmlegt, jedoch zunehmend ist. Wir haben es nicht mehr mit 68er-Revolutionspädagogik zu tun, sondern mit ihrer sanft totalitären Weiterentwicklung. Es ist diese Mischung aus Leistungsschule und Rundumbetreuung, die Kinder zwischen Hypertonie und Hypotonie einspannt, ohne ihnen zu vermitteln, worauf es ankommt: Du mußt dein Leben führen!
Wenn Winterhoff nun sowohl für den klassischen Frontalunterricht als auch fürs Herumstrolchen im Wald plädiert, ist das vor allem: altmodisch. Der Verkauf von Deutschland verdummt läuft gut (der „Sarrazin der Erziehung“ wird Michael Winterhoff genannt), weil er den gesunden Menschen- und Volksverstand einfängt, der sich bei seinen Lesern aus ihrer eigenen Kindheit speist. Hier liegt natürlich, ganz natürlich, das was Psychologen einen bias nennen: die Absolutsetzung der eigenen Erfahrungen.
Doch man könnte, und ich denke: man muß, um zu retten, was zu retten ist, doch froh sein über solche Volksverstandsreste, über noch fortwirkende Strukturen aus früheren Generationen. Aber kann ein Experte, der täglich nur pathologische Fälle sieht, daraus gültig auf den Zustand unseres Bildungssystems schließen? Auch der Autor, nicht nur seine Leser, leidet womöglich unter einem bias. Ich empfehle dieses voreingenommene Buch trotzdem der Sezession-Leserschaft, um sie zu immunisieren gegen die Versprechungen des weltoffenen, kompetenzorientierten, digitalen Psy-Op-Ganztagsklassenzimmers. So paradox es ist: Voreingenommenheit kann mitunter vor Verdummung schützen.
Winterhoffs Deutschland verdummt hier bestellen.
– – –
Gutes
Josef Pieper: Über den Begriff der Sünde. Tyrolia Verlag Innsbruck 2019, 112 S., 11,00€.
Josef Pieper (1904–1997) war ein deutscher christlicher Philosoph, einer der ganz großen des 20. Jahrhunderts, möchte man hinzufügen. Solcherart Größe liegt nicht in akademischen Würden (die ihm keineswegs verwehrt blieben), sondern in der Faßlichkeit und gleichzeitigen Denktiefe seines Schreibens. Existenzphilosophen und Mystikern gelingt dies, Theologen eher selten.
Pieper stürzt sich mit einer solchen Ergriffenheit auf den Begriff der Sünde, daß es eine Lust ist, ihn zu lesen. Das heuer neu herausgegebene Bändchen Über den Begriff der Sünde, das 1977 im Kösel-Verlag erschienen war, enthält eine Kompilation aus drei Aufsätzen Piepers aus den 60er/70er Jahren. Der alberne kleine grüne Kaktus auf dem Titel muß als läßliche Sünde in Kauf genommen werden.
Schon 1968, als er seine „Vorüberlegungen zum Thema ‘Sünde’“ verfaßte, war dieses Wort „hinter einer Wolke von Mißdeutung und auch Gelächter“ verborgen. Der Alltagsmensch sprach und spricht nur mehr süffisant grinsend davon. Genau wenn so etwas passiert – ein Existenzial wird der Verarschung ausgeliefert, ist das ein Indiz dafür, daß ein Schmerzpunkt betäubt wird, man ihn aber wieder zu voller Schmerzhaftigkeit erwecken kann. Dazu bedarf es gar keiner theologischen Reflexion. Es kann nämlich geschehen, daß „eine starke existentielle Erschütterung diese verborgene Tiefe des mit einem Wort Gemeinten plötzlich vor den Blick bringt und wenn sich dann dies gleiche, bisher nur in seinem vordergründigen Sinn gebrauchte Wort spontan in einer anscheinend ganz neuen Bedeutung einstellt und auf die Lippen drängt“ – ich habe gesündigt.
Josef Piepers Texte bohren in den neuralgischen Punkt: wir sind jederzeit imstande, etwas zu tun, das schlechthin unentschuldbar ist, und worüber man nicht durch Juristerei und Psychotherapie hinwegkommt und durch Emanzipation schon gar nicht.
„Hier drängt sich die bestürzende Einsicht auf, wie nah solche dämonische Unbekehrbarkeit einer autonomistischen Selbstmißdeutung des Menschen benachbart ist. Friedrich Nietzsche hat sie als Fröhliche Wissenschaft verkündet: »Lieber schuldig bleiben, als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt; so will es unsere Souveränität!« Hierzu wäre mancherlei zu sagen, vor allem aber, daß Reue nichts anderes bedeutet als genau dies: daß wir mit einer Münze zahlen, die unser Bild trägt!“
Diese luziden knappen Gedanken zur Sünde lege ich Ihnen bereits für den Advent nahe, denn das Warten auf Erlösung gehört in diese Zeit.
Piepers Über den Begriff der Sünde hier bestellen.
– – –
Schönes
Anke Klaaßen / Daniela Drescher: Das Nebelmännle vom Bodensee. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2019, 35 S., 18,50€.
Warst du schon mal am Bodensee? Und alles hing voller grauer Schwaden? Das war das Nebelmännle. Anke Klaaßen hat zu den Deutschen Volksmärchen aus Schwaben und Ludwig Uhlands Schwäbischer Sagenkunde gegriffen und nacherzählt, wie der Ritter vom Bodman eines Tages beschließt, den Nebel aus seinen Weinbergen zu vertreiben mithilfe einer Nebelglocke. Doch diese Glocke schlägt das Nebelmännle in die Flucht, zu arg dröhnt sie ihm um Kopf und empfindliche Ohren.
Fort sind Kühle und Nässe, der Ritter frohlockt. Doch nicht lange dauert es, bis sich Schwermut auf ihn legt, die er durch Reisen in weite Fernen loswerden will – irgendwo in der Wüste dann, verzweifelt, nach sieben rastlosen Jahren, trifft er: das Nebelmännle, das hierhin geflohen war. Er muß ihm versprechen, die Glocke auf den Grund des Bodensees zu versenken, und dann rasch nach Haus auf seine Burg zu eilen, denn eben ist seine Frau im Begriff, einen anderen zum Manne zu nehmen.
Gerade noch geht alles gut, er hat seine Heimat wieder. „Und der Ritter, der sonst immer nur nach seinen Reben gesehen hatte, blickte auf den See, und zum ersten Mal hatte er ein Auge für die Schönheit des Nebels“.
Die Bilder von Daniela Drescher sind wahrlich zauberhaft, versponnen und naturgetreu zugleich. Sprachlich hat dieses Bilderbuch Adjektivschätze zu bieten: „seit schlangenlangen Zeiten“ oder „krallwütige Tiger, großmäulige Krokodile und giftbezahnte Schlangen“, und bald waren die Diener des Wüstenflüchtlings „so staubig, dass nur noch das Weiße ihrer Augen aus dem Sandmeer aufblitzte“.
Für Erwachsene ist das wohl mitunter zu viel Schnörkelei, ein, zwei schmucke Beiwörter weniger wären mehr, aber Vier- bis Siebenjährige merken sich genau diese. Klaaßen läßt den Ritter „genervt“ vom Nebel sein, da er oft „zu spät zu seinen Geschäftsterminen“ kam, das lag nämlich daran, daß ein paar Sätze später „Wassernymphen und Wellenkugler, Moosfeen und Baumtrolle“ ihr großes Nebelfest feierten. So muß man Volksmärchen nacherzählen! Und wenn dann auch noch solche Bilder hinzukommen, taugt Das Nebelmännlein vom Bodensee als feines Weihnachtsgeschenk, nicht nur für Enkel, Neffen und Nichten, die dort leben.
Klaaßen/Dreschers Nebelmännle hier bestellen.
Franz Bettinger
@Caroline Sommerfeld: schreibt: „Der gesunde Menschen-Verstand speist sich aus der Kindheit. Psychologen nennen das bias: die Absolut-Setzung der eigenen Erfahrungen.“
Streng genommen bedeutet bias nur das Vorurteil oder die Voreingenommenheit. Man weiß normalerweise, dass man Vorurteile stets neu auf ihre Richtigkeit überprüfen muss. Nebenbei: Viele Vorurteil bewähren sich. Ohne sie könnte man gar nicht leben, nicht einen Tag lang.