Was bedeutet diese Wahl für die Partei und die Große Koalition, aber auch für die AfD und das weitere parlamentarische Feld? Wie kam diese Situation mit kaum prominenten Sozialdemokraten an der Spitze überhaupt zustande?
Susanne Gaschke, ehemalige SPD-Oberbürgermeisterkandidatin von Kiel, schrieb am 20. November in der NZZ, sie beschleiche manchmal das Gefühl, der Sozialdemokratie »wäre nur noch zu helfen, indem man ihre Partei auflöste und neu gründete«. Nun, dagegen hat sich die Basis vorerst entschieden, aber eine Zäsur stellt das Votum für Esken und »NoWaBo« dennoch dar.
53 Prozent der SPD-Mitglieder stimmten für die neuen Parteivorsitzenden, die blasse Klara Geywitz und der amtierende Vizekanzler Olaf Scholz lagen mit acht Prozentpunkten hinter ihnen. In Stein gemeißelt wurde diese Entscheidung heute: Am Wochenende findet der Parteitag statt, und die Delegierten mußten am heutigen Freitag über das basisdemokratische Ergebnis final abstimmen: Esken erhielt 75,9, Walter-Borjans 89,2 Prozent der Stimmen.
Damit wäre dann ein Prozeß abgeschlossen, der in der deutschen Sozialdemokratie seit Frühling 2018 waberte. Damals wie heute hielt die SPD unter Scholz und Andrea Nahles an der »GroKo« fest, stürzte aber weiter in den Umfragen ab (aktuell: 13–15 Prozent, Frühjahr 2018: 18–19 Prozent – und vor 20 Jahren: ca. 40 Prozent).
Nahles scheiterte kolossal an ihrer ostentativen Inkompetenz, aber auch an internen Störmanövern, die nicht zuletzt mit dem Namen des Juso-Chefs Kevin Kühnert verbunden sind. Dieser strebte mit den – seit Jahrzehnten links der Mutterpartei verorteten Jungsozialisten – einen rigiden Richtungswechsel an, der ein Ende der GroKo zumindest diskutabel werden lassen sollte.
Scholz und Geywitz hielten dagegen. Daß sich die Basis nun – relativ knapp – für die GroKo-Kritiker entschied, kann als Linksruck (und als Beleg für eine manifeste Lagerbildung) gewertet werden. NoWaBo nannte, ganz im Sinne der jünger und linker positionierten Parteiströmungen, umgehend Klimapolitik und Investitionen als nahende Koalitionsprüfsteine. Scholz, der Merkel-vertraute Pragmatiker, ist demgegenüber geschwächt, auch in seiner Position als Vizekanzler.
Geschwächt durch den Erfolg von einem Duo, das man jenseits sozialdemokratischer Milieus bundesweit kaum kannte: Esken, 58, ist Mitglied des Bundestags und kommt aus Baden-Württemberg. Sie spielt in der Fraktion keine große Rolle, aber poltert auf Twitter recht rustikal und holzschnittartig zu linkssozialistischen Thesen, was ihr immerhin Fans in der Kühnert-Fraktion und links davon verschafft.
Walter-Borjans, 67, ist etwas bekannter. Als ehemaliger Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, mittlerweile im Ruhestand, zeichnete er 2010 verantwortlich für die Datenträger aus der Schweiz, die deutsche Steuersünder überführte – 7 Milliarden Euro konnten dem Gemeinwesen zugeführt werden, die durch findige Geschäftsleute vermeintlich sicher zwischen Genf und Basel verstaut worden waren.
Über sein Buch Steuern – Der große Bluff (Köln 2018) wurde er überdies einem breiten Publikum populär, weil er steuerpolitische Streitfragen auf den Punkt brachte und – aus seiner linkssozialdemokratischen Sicht – erläuterte. Was mir persönlich bei der Lektüre auffiel, war tatsächlich der kluge analytische Blick; immerhin ist dies eine Stärke, die man in den letzten Jahrzehnten nicht unbedingt mit Sozialdemokraten verbinden sollte.
»NoWaBo« konstatiert u. a. die wachsende Entfremdung gesellschaftlicher Schichten. Dies führe dazu, daß die Bereitschaft sinke, seinen »finanziellen Beitrag für das Gemeinwesen als Ganzes zu leisten«. Der Verlust des »Wir-Gefühls« wird von ihm korrekt konstatiert, und ebenso zutreffend ist seine Ableitung, wonach ein Aufbruch in Krisenzeiten am besten dann gelingen mag, »wenn die Menschen wissen, dass die Gemeinschaft sie hält, dass sie eine kalkulierbare Zukunft haben und dass es gerecht zugeht«.
Walter-Borjans gewichtet die Gemeinschaft hoch: Daß ihr 130 Milliarden Euro jährlich entgehen, weil meist internationale Konzerne und Spitzenverdiener Gesetzeslücken und andere Optionen nutzen, um sich ihrer Verantwortung für ein »solide finanziertes Gemeinwesen« zu entziehen, verärgert ihn als finanzpolitischen Veteran und sollte auch rechts mehr beachtet werden. 130 Milliarden Euro – dagegen sind etwa die absurden Gender-Professuren in der Relation finanzpolitisch nachrangig.
Auch sein Plädoyer gegen die neoliberalen Lobbyvereine um die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) liest man mit Gewinn. Diese vorgeblichen Anwälte der »kleinen Leute« und des Mittelstands sind, so belegt es der Autor, nichts anderes als die Vertreter der »höchsten Einkommens- und Vermögenskreise«.
Daß die INSM und andere Kapitalvertreter es schaffen, regelmäßig die situativ aufgebrachte Mittelschicht hinter sich zu vereinen, obwohl diese von objektiv erforderlichen Maßnahmen gegen die oberste Finanzhierarchie profitieren würde, kennt man aus Debatten innerhalb der politischen Rechten; man fühlt sich eben »potenziell betroffen« oder identifiziert sich aus anderen habituellen oder ideologischen Gründen mit »denen da oben«.
All diese – und einige weitere – richtige Betrachtungen Norbert Walter-Borjans erinnern nicht ohne Grund an Sahra Wagenknecht. Der links-kommunitaristische Impuls ist beiden eigen, die Kritik der unsozialen neuen Form der zeitgenössischen Marktwirtschaft verläuft analog. Auch die Betonung der Notwendigkeit, mühelose Einkommen und Kapitalerträge stärker als bisher (und stärker als real erbrachte Arbeit) zu besteuern, wird ähnlich unterfüttert: Man benötigt für diese eine höhere Akzeptanz in den Mittelschichten, und für diese höhere Akzeptanz benötigt man ein anderes Meinungsklima, welches das übergeordnete Wohl der Gemeinschaft – und nicht das vereinzelte Ich – wieder an erste Stelle setzt.
Nicht ohne ironische Note kann festgehalten werden, daß beide auch den blinden Fleck ihrer Analysen teilen: Walter-Borjans wie Wagenknecht wollen (aus ideologischer Motivation heraus) oder können (aus parteiinternen Denkblockaden heraus) nicht einbeziehen, daß nur eine auch die emotionale Ebene berührende Idee der Zugehörigkeit zu einem positiv verstandenen Kollektiv solidarisch wirkende Gemeinschaft stiften kann.
Wer aber, wie Walter-Borjans und auch Wagenknecht, Solidarität und Zusammenhalt der Staatsbürger abstrakt über Humanismus, Vernunft und Altruismus bestimmen will, ohne »Familie«, »Heimat«, »Volk« und »Nation« als identitäts- und loyalitätsgenerierende Marker einzubeziehen, wird weiter im luftleeren Raum hantieren.
Bei beiden Akteuren ist anzunehmen, daß sie dies ahnen. Bei beiden gibt es aber Türsteher der politischen Korrektheit, die entsprechende Erkenntnisansätze umgehend diffamieren. Im Fall Wagenknecht, ich zeigte es im kaplaken-Band Blick nach links, sind es antifaschistisch-kosmopolitische Tugendwächter aus dem linksurbanen Milieu. Bei Walter-Borjans sind es – ganz ähnliche Kreise.
Denn Kevin Kühnert und seine Jusos, die sich tatsächlich ja nur in Nuancen von der Katja Kipping-Mehrheitsfraktion der Partei Die Linke unterscheiden, würden jedwedes nationales Räsonieren und jedwedes gemeinschaftsstiftende Element, das die Nation miteinschließt oder gar ideell zugrunde legt, umgehend dämonisieren. Da Kühnert aber der eigentliche Wegbereiter des Duos NoWaBo–Esken ist, führt an einer dezidierten oder subkutanen antinationalen Einstellung der »erneuerten« SPD kaum ein Weg vorbei.
Benedict Neff verweist in der NZZ vom 4. Dezember auf diesen unmittelbaren Loyalitätszusammenhang, in den sich Norbert Walter-Borjans eingereiht hat. Kühnert habe Walter-Borjans 2018 bei einer Buchpräsentation getroffen. Es kam zu einem Gespräch an einer Hotelbar, und Kühnert hätte realisiert, daß NoWaBo »nicht so spezifisch wusste, was er machen will«. Die Geschichte der neuen Zweckallianz, an dieser Stelle stark verkürzt dargestellt, nahm ihren Lauf.
Neef schlußfolgert konsequent:
Es wirkt fast so, als hätte der Jungsozialist schon da in Walter-Borjans ein Instrument gesehen, das man wieder verwenden könnte.
Wenige Monate später kündigten Walter-Borjans und Esken ihre gemeinsame Kandidatur an, die ganz wesentlich durch die Jusos und den NRW-Landesverband gestützt und in parteiinternen Kampagnen zum Erfolg gebracht wurde.
Das neue Führungstandem der SPD steht also tief in Kühnerts Schuld, und es spricht Bände über den Zustand der deutschen Sozialdemokratie, daß ebenjener Kühnert nun als der eigentliche starke und lenkende Faktor der SPD gelten muß, der die GroKo nun vor sich hertreiben kann. Vorerst gibt er sich aber staatsmännisch:
Einfach nur raus aus der Koalition, das löse keine Probleme,
wird Kühnert in der NZZ vom 4. Dezember zitiert.
Vielleicht gibt sich Kühnert reifer, vielleicht kennt er aber auch einfach die Zahlen diverser Institute, die belegen, daß sich eine Mehrheit der Deutschen weder ein Ende der Großen Koalition (erschreckend!) noch eine rot-rot-grüne Regierung (erfreulich!) wünscht. Auf maximal 45 Prozent der Stimmen käme R2G bei einer möglichen Neuwahl nach einem GroKo-Ende; das reicht nicht, um dieses Land zu regieren. Reichen würde es aber für »Jamaika«, eine Koalition aus Union, FDP und Grünen – was Kühnert, aber auch Walter-Borjans und Esken, noch weniger gefallen dürfte.
Es ist dies die entscheidende Problematik für die »neue« SPD: Ein Ausgreifen einer nach links verrückten Sozialdemokratie würde die 45-Prozent von R2G nicht erweitern, sondern fräße sich in Bestände der Linkspartei und, wohl deutlich weniger, der Grünen. Unionswähler sind aber damit nicht anzusprechen, und Nichtwähler hat man Jahrzehnte lang nachhaltig und auf lange Sicht abgestoßen – die wenig charismatischen neuen Führungsköpfe werden daran nichts ändern.
Zu stark hat man sich schließlich vom »kleinen Mann« entfernt, als man – wie Grüne und Linke – in den Refugees-Welcome-Sound einstimmte und die einheimische Bevölkerungsmehrheit samt größer werdenden prekären Schichten hintanstellte. SPD-interne Kritiker, die hier ansetzten, wurden als »rechts« diffamiert.
Das ist genau die falsche Art, mit dem Thema umzugehen, und die AfD profitiert davon,
äußert heute der Sozialhistoriker Jürgen Kocka in einem NZZ-Gespräch.
Und bei Holger Fuß ist zu lesen, daß die »Triebkräfte zur Aufnahme von Einwanderern« in Deutschland »seit jeher wirtschaftliche Beweggründe« waren, »die mit humanitären Motiven bestenfalls maskiert wurden«.
Die SPD entschied sich eben, die humanitären Motive zu verabsolutieren, während sie die wirtschaftliche Ebene ignorierte. Gelder waren da, in die Asyl- und Migrationsindustrie gepumpt zu werden, die bei autochthonen Bedürftigen, in der Pflege, im Erziehungswesen usw. fehlten. Der hypermoralische Wohlfühlantifaschismus machte die Sozialdemokratie blind für soziale Fragen jenseits immaterieller, postmoderner Verirrungen.
Kockas Fazit fällt dementsprechend eindeutig aus:
In der Flüchtlings- und Migrationspolitik ist es der SPD nicht gelungen, ihre universalistische, kosmopolitische und an den Menschenrechten ausgerichtete Politik mit dem in Einklang zu bringen, was sozial verträglich ist. (…) In Dänemark haben wir gesehen, wie Sozialdemokraten in dieser Frage reüssieren können, wenn sie ein wenig defensiver und nationaler argumentieren.
In Dänemark konnte die Sozialdemokratie tatsächlich das umsetzen, was Julian Nida-Rümelin in einem Leitartikel 2018 forderte. Im Blatt der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, vermaß der Münchner Professor für Philosophie und Politische Theorie das Feld Migration–Soziale Frage neu.
Einwanderung müsse »sozial- und kulturverträglich in den Aufnahmegesellschaften sein«, so der unter Gerhard Schröder als Minister arbeitende Nida-Rümelin. Er schlußfolgerte, daß sich die deutsche Sozialdemokratie, wolle sie Erfolge erzielen, inhaltlich neu ausrichten und verschieben müsse, und zwar »in der Sozialpolitik nach links, in der Migrationspolitik nach rechts«.
Das hat die deutsche Sozialdemokratie ignoriert, die dänische indessen vorexerziert. Sie hat die politische Rechte dort in die Schranken und in Richtung niedrigerer Wahlergebnisse gewiesen, indem sie eben sozialpolitisch links, migrationspolitisch rechts reüssierte und diesen Weg konsequent vertritt, während die Rechte den sozialpolitischen Turn verpaßte und »marktfreundliche« Positionen verbreitete. Der dänische Weg ist dabei selbstredend ein Weg, welcher der SPD aus verschiedenen internen wie externen Gründen verbaut ist.
Das ist gut für Gegner dieser Partei, die annehmen dürfen, daß der Niedergang anhalten wird. Einer der Gründe ist der anhaltende Erfolg und die massenmediale Dauerpräsenz der Grünen. Überall dorthin, wo Kühnert (über das neue Führungsduo) die SPD bringen will, stehen sie bereits, und wenn es nur verbalradikal so scheinen mag: klimaideologisch, multikulturalistisch, linkssozialistisch. Die SPD ist aber nicht hipp und authentisch genug auf diesen drei Feldern – das machen die insgesamt jüngeren Grünen in der Wahrnehmung der entsprechenden Milieus einfach besser und emotionaler.
Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich spottet daher so folgerichtig wie konsequent in der Zeitschrift PROKLA (Nr. 196, 3/2019, S. 449–453, hier 452):
Die Sozialdemokratie hat ihren Dienst getan. In einer bestimmten gesellschaftshistorischen Phase war sie »die bestmögliche politische Hülle« (Jeskop 1978; Übersetzung S. L.) industriekapitalistischer Entwicklung – heute aber ist sie überhaupt nur noch Hülle, nur noch der organisatorische Naturdarm eines vergehenden, teils auch schon vergangenen politischen Milieus. Heute gibt es einen neuen diensthabenden Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Genauer: Es ist, neuerlich ganz modern, ein Ärzt*innenteam – mit flachen Hierarchien, hervorragender Ausbildung, positiver Ausstrahlung und zupackendem Gestus. Sie tragen grüne Kittel (…).
Auch Benedict Neff sieht die SPD weiter im Abstieg befindlich. Er schreibt:
Es wird wohl kein gutes Ende nehmen mit der SPD.
Nun, das hängt freilich vom Blickwinkel des Betrachters ab. Ein gutes Ende der SPD wäre schließlich ein jedes Ende. Die AfD kann dies sogar beschleunigen: Denn die ursprünglichen Anliegen der Sozialdemokratie – Verbesserung der Situation für die Bevölkerungsmehrheit, Solidarität, Fürsorge, Stabilität der Verhältnisse, »soziale Gerechtigkeit« – sind nicht plötzlich obsolet geworden.
Im Gegenteil: Die drohenden wirtschaftlichen Rezessionen und kommenden Verteilungskämpfe werden die prekär gewordenen Verhältnisse in Deutschland brüchiger denn je erscheinen und das Vertrauen in die »Altparteien« weiter erodieren lassen. Eine linksgerückte Kühnert-Esken-NoWaBo-SPD samt Juso-Entourage vergrößert aber derweil das vorhandene Vakuum an sozialer Politik für das eigene Volk – ein Vakuum, das Wagenknechts Abgang in der Linken schon potenzierte.
Denn wo links der Mitte nur noch apolitischer Kosmopolitismus und abstrakte Fernstenliebe dominieren, kann Solidarischer Patriotismus durch konkrete – weil an ein Volk in seinem Land gebundene und durch die Realität gedeckten – Prinzipien punkten und ein weites Feld für sich beanspruchen. Die Zeit arbeitet für das solidarisch-patriotische Motiv.
Holger Fuß führt dies so aus:
Tatsächlich gehören eine strikte Ausländerpolitik und eine linke Sozialpolitik organisch zusammen. Dies können wir von den dänischen Sozialdemokraten lernen. Zunächst muss ein Land seine Hausaufgaben machen und für die eigenen Leute gerechte Verhältnisse herstellen. Erst dann können Gäste aufgenommen werden. Die Merkel-Politik hat diese Logik auf den Kopf gestellt.
Weil die Grünen diese auf den Kopf gestellte Logik noch ins verstiegenste Extrem steigern wollen, die Linken ohne Wagenknecht konzeptlos den Grünen nachrennen und die SPD sich fatalerweise für Ähnliches entschied (bzw. sich am Wochenende dafür entscheiden wird), kann es die AfD sein, die patriotisch-soziale Synthesen entwickelt und damit die organische Partei der Bevölkerungsmehrheit wird.
Die Mischung aus sozialen und patriotischen Motiven sprengt nun mal die klassischen und durch vielschichtige Prozesse porös gewordenen Lagergrenzen, die stärker noch auf dem Papier und hartnäckig in den Köpfen der jeweiligen Funktionäre bestehen. Dort, wo in Europa aber bereits an einer konstruktiven Links-Rechts-Aufhebung und an neuen synthetisierenden Wegen gearbeitet wird, ist dies stets von Erfolg begleitet, ob unter sozialdemokratischer Schirmherrschaft in Dänemark oder unter nationalkonservativer Ägide in Polen.
Die »strikte Ausländerpolitik und linke Sozialpolitik« (Fuß) respektive der Schwenk in der »Sozialpolitik nach links, in der Migrationspolitik nach rechts« (Nida-Rümelin) ist damit zum Schlüssel für realpolitische Erfolge geworden, was man weltanschaulich wie strategisch wird nutzen müssen (wenn man es weltanschaulich aufgrund liberaler Abstraktionen nicht teilt, dann zumindest strategisch).
Gewiß: Will man dieses Vorhaben auch in Deutschland fruchtbar machen, um die seit Jahren zementierte 12–15-Prozent-Grenze der AfD-Zustimmungswerte zu überwinden, sind – auch und vor allem im Hinblick auf den Sozialparteitag 2020 – einige Lehren zu beachten:
- Erstens müßte sich die AfD von jedem Schritt in Richtung einer FDP 2.0 fern halten und marktliberale Positionen – und zwar einerlei, wie man politisch-ideologisch zu ihnen steht – wenigstens auf einer strategischen Analyseebene als das begreifen, was sie sind: ein Garant für ein ewiges Dasein als Klientelpartei im Bereich von 4 bis 12 Prozent (vgl. FDP passim und Scheitern der Lucke-AfD 2013). Das reicht dann womöglich für die Rolle eines koalitionären Anhängsels, eines die Union und FDP leicht korrigierenden Juniorpartners in Wartestellung (wie es ja unverhohlen im liberalkonservativen Beritt gehofft wird), bringt uns aber nicht ansatzweise näher in Richtung der vielschichtigen und grundlegenden Wende für unser Land.
- Zweitens müßte sich die AfD von dem selbstgewählten Dogma befreien, man gewönne Wahlen von rechts durch Vergötzung »wohlstandsbürgerlicher« oder »großbürgerlicher« Kreise. Diese wählen überwiegend seit 1949 den Block des nichtlinken Establishments, votieren also wirtschaftsliberal in christ- und freidemokratischen Variationen, und sind damit – mehr als jede linke Gruppe in der Geschichte der BRD – hauptverantwortlich für die Situation, wie wir sie heute vorfinden und weshalb die Alternative für Deutschland überhaupt erforderlich wurde. Man kann nicht Widersprüche aufheben und Problemstellungen kurieren, indem man jene umgarnt, die dafür in satten 50 von 70 Jahren bundesdeutscher Geschichte Verantwortung trugen. Andernfalls sollte man zur WerteUnion – dort sammelt sich die entsprechende »Reserveelite« im permanenten Wartezustand.
- Drittens müßte die AfD verinnerlichen, daß die nominell größte Partei in Deutschland jene der Nichtwähler ist. Die Alternative hat, in Ost wie West, bereits Stück für Stück Teile dieses (heterogenen) Blocks gewonnen und hat hier, nach übereinstimmender Meinung in der (diesen Umstand befürchtenden) Forschung, weiteres Wachstumspotential. Dieses gewaltige Reservoir an Unzufriedenen, Abgewandten und Nichtrepräsentierten ist der mögliche »Game Changer« im zu betretenden Raum neuer Machtoptionen. Der Solidarische Patriotismus könnte der Türöffner sein.
Gotlandfahrer
Einer wie Kühnert hat offenbar ein von Erfahrungswerten unbelasteten Kognitionsfilter, der ihn die belohnungsträchtige Vorzugshaltung ohne unterbewussten Ballast einnehmen lässt, während ein NoWaBo zwar das gesamte geforderte Liedgut auswendig trällert, aber vermutlich aufgrund eines instinktiven Unwohlseins hier und da mit zögerlichen Untertönen.
Solange unsere Menschen glauben, dass Deutschland zwar allen, das Ausland aber nur den jeweiligen Ausländern gehört, haben sie nicht die notwendige Vorstellungskraft davon, dass jeder einzelne Mensch die Dinge in der Welt in eine seinen Grundbedürfnissen gerecht werdende wertende Hierarchie bringen muss, die dem Anspruch, den die Gleichheitsapostel aus einer nicht erreichbaren objektiven Perspektive subjektiv angenommen sehen wollen, niemals gerecht werden kann.
In einer Welt, in der ihnen alles gleich zu erscheinen hat und erscheint, ist es ihnen nicht möglich, Entscheidungen zu treffen, die ihre eigene Existenz erhaltbar macht.
Solange wir es mit einer solchen kognitiven Unfähigkeit zu tun haben, braucht man sich über politische Positionsspielchen und Entwicklungen eigentlich keine großen Gedanken zu machen, denn es gilt: Nach jedem Schritt der Wahrnehmung in Richtung Gleichheit hat derjenige die größeren Chancen sich politisch durchzusetzen, der noch einen draufsetzt, alles andere widerspräche dem von der Gemeinschaft der Gleichen verinnerlichten Regelwerk. Deswegen: NoWaBo wird als erster aus dem Trio ausscheiden.