Artikel und Diskussion haben meine Abneigung gegen außen- und weltpolitische Deutungen bestätigt: Warum versuchen wir nicht, die Motiv-Verästelungen in komplexen Fragen zu entholzen und herunterzubrechen, ohne durch Attribute und Andeutungen gleich einen, den Schuldigen anzusteuern und die Hintermächte, von denen jeder wissen müsse, daß eigentlich sie es seien? Warum beschreiben wir die Unübersichtlichkeit nicht einfach in Ratlosigkeit?
Immer dann, wenn einer das Motiv hergeleitet zu haben scheint, kommt ein anderer mit einer Spezialstudie zu den Vorkommen seltener Erden an und weiß es noch genauer. Vieles davon ist Spekulation, sogar Wichtigtuerei, und der Grad nimmt zu, je weiter der Kulturraum fort und je massiver und explosiver das Ereignis ist.
Mir schrieb heute ein alter Freund, ein langjähriger Weggefährte, daß ihn diese wissend-raunenden Pamphlete über die Hintergründe der Tötung auf dem irakischen Rollfeld an die seitenlangen Ausführungen der Dissidenten in der DDR erinnerten: Wer keine Macht und keine Möglichkeit habe, den nächsten, den notwendigen Schritt zu tun, entlade sich in Dossiers.
Man kann das zuspitzen: Die Weltpolitik läßt noch mehr Raum für Geschwafel als die Parteienlandschaft. (Das ist so ausgedrückt auch nicht gerecht, ich weiß, aber es trifft schon einen Punkt, nicht?)
Ich bin bisher den Rechenschaftsbericht für das Jahr 2019 schuldig geblieben, das hat zwei Gründe: Zum einen war das vergangene Jahr eine Aneinanderreihung von Verdrehungen und Aushärtungen, Betriebsgeräuschen und Absurditäten. So etwas ist schwer auf einen Nenner zu bringen.
Zum anderen fiel mir ein Buch in die Hände, das ich nach den ersten Seiten nicht mehr weglegen konnte, um Rechenschaftsberichte zu tippen. Ich las es über die ruhigen Tage langsam und mit gespitztem Stift, und es ist nun voller Eselsohren und Anstreichungen und muß, wirklich: muß von uns weitergedacht, das heißt: übertragen werden auf unsere deutsche Lage.
Das Buch heißt Das Licht, das erlosch, verfaßt haben es der Bulgare Ivan Krastev und der US-Amerikaner Stephen Holmes, man kann es hier erwerben. Krastev und Holmes gehören nicht zu “uns”, und ich beneide sie um den Kerngedanken und ihr Buch. Manchmal wiederholen sie sich, holen Anlauf auf Abschnitten, die der Leser nun schon gründlich kennt, und insofern ist es ein angelsächsisches Buch: nicht sehr dicht, sondern lockerer Boden, den man gerne umgräbt.
Der Untertitel lautet “Eine Abrechnung”. Überraschend ist gleich, womit Krastev und Holmes abrechnen: mit der Arroganz der liberalen, westlichen Demokratie. Sie sind beide Anhänger dieser liberalen Demokratie und machen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die illiberalen Entwürfe, die in Ungarn, in Polen, in Rußland und in China umgesetzt werden. Aber ihre Verstehensbemühung für diese Entwicklung ist immens und ihre These ist schlagend, zumal sie aufgefächert wird.
In knappen Worten: Die friedlichen und weniger friedlichen Revolutionen von 1989 hätten eine dreißigjährige Epoche der Nachahmung eingeleitet. Das westliche System sei in zivilisatorischer, ökonomischer und moralischer Hinsicht als das überlegene Konzept zur Nachahmung empfohlen worden und habe auch aufgrund der Debatten um ein “Ende der Geschichte” als alternativlose Mündung aller politischer Bewegungen gegolten:
Die hier zur Debatte stehende Form der groß angelegten institutionellen Nachahmung umfasst erstens eine anerkannte moralische Überlegenheit des Nachgeahmten gegenüber seinen Nachahmern, zweitens ein politisches Modell, das behauptet, alle existenzfähigen Alternativen beseitigt zu haben, drittens eine Erwartung, dass die Nachahmung bedingungslos und nicht an lokale Traditionen angepasst sein wird, und viertens den anmaßenden Anspruch der Vertreter der zu imitierenden Länder, den Fortschritt der nachahmenden Länder dauerhaft beobachten, überwachen und bewerten zu dürfen.
So sei etwa in den mittel- und osteuropäischen, kleineren Staaten der (aufgezwungene) alternativlose Sowjetkommunismus durch den (erwünschten) alternativlosen westlichen Liberalismus ersetzt worden. Daß sich die Völker des Ostblocks diese Freiheit wünschten, änderte nichts an der Tatsache, daß Europa weiterhin geteilt geblieben sei:
Die nervenaufreibende Asymmetrie zwischen jenen, die moralisch fortgeschritten waren, und jenen, die moralisch hinterherhinkten, wurde nach 1989 zu einem ebenso prägenden wie neuralgischen Kennzeichen der Ost-West-Beziehungen.
Die psychologischen Folgen in den nachahmenden Ländern lägen auf der Hand, und so münden Krastevs und Holmes’ einleitende Gedanken in die These, daß es sich bei den sehr unterschiedlichen Ansätzen in Rußland, in China und in den mittel-ost-europäischen Staaten um Gegenentwürfe zum Nachahmungsimperativ durch den Westen handle, um einen nachvollziehbaren Widerstand dagegen, moralisch, rechtsstaatlich und zivilgesellschaftlich stets der Lehrling zu bleiben und den Gesellenbrief aus der Hand der Gönner vermutlich nie zu erhalten.
Nach Jahren der blinden, der angestrengten und der verzweifelten Nachahmung seien dann zwischen 2005 und 2010 drei unterschiedliche Strategien der Emanzipation entwickelt worden. Und zuletzt habe auch Trump den Spieß umgedreht: Sein Wahlerfolg gründe unter anderem auf seiner Botschaft, der eigentliche Verlierer der Nachahmungsepoche seien die USA selbst, die weltweit dafür haftbar gemacht würden, daß die Aufholjagd der Nachahmer, der verspäteten Nationen, nicht gelänge.
Soweit ein paar erste Sätze zu Das Licht, das erlosch. Krastev und Holmes walzen in drei Großkapiteln die voneinander sehr verschiedenen Strategien Rußlands, Chinas und Polens sowie Ungarns aus. Darüber wird zu schreiben sein, das müssen wir auf unsere deutsche Lage übertragen, ich sagte das bereits.
Zurück zum Ausgang: Warum wurde General Soleimani getötet. Steht diese Übergriffigkeit nicht im Gegensatz zu der These, Trump habe begriffen, daß sich die Arroganz des Westens als des vermeintlichen Endsiegers nach 1989/90 nun gegen den Westen drehe?
Ja und nein. Auch darüber spekulieren Krastev und Holmes: Wenn nämlich gegen die Emanzipation Rußlands, der kleineren Staaten und vor allem Chinas (das die Nachahmung von vornherein nicht inhaltlich, sondern nur auf der Ebene der Mittel vollzogen habe) nicht militärisch vorgegangen werden könne, sei das im Nahen Osten weiterhin möglich.
Der systemische (und das bedeute immer: der moralische) Überlegenheitsanspruch gerade der USA, die sich in ihrer Übergriffigkeit kaum an Regeln halte, sondern weltinnenpolizeilich handle, sei bestehen geblieben. Man tötet auf fremdem Hoheitsgebiet, weil man kann. Man setzt damit ein Zeichen – nach außen, nach innen, und man weiß, daß die islamische Welt, namentlich der Iran, wenn überhaupt, dann nur mit Gebrüll und mit asymmetrischen Mitteln wird reagieren können. Man steckt Machtbereiche ab.
Das alles ist weniger klar als vor 35, aber auch als noch vor 15 Jahren. Es ist psychologischer, weniger rational. Es war möglich, und es ist weiterhin arrogant: Die Androhung Trumps, kulturelle Stätten im Iran zerstören zu lassen, ist der wie immer hemdsärmelige Beleg dafür, daß man von Kulturen zweiter, dritter Klasse ausgeht und sie in ihrer Eigenart nicht schätzt.
Und, das ist nun meine steile These: Es kann uns nicht egal sein, aber wir spielen nicht in derselben Liga. Das machen Rußland, China, die USA unter sich aus. Daß wir die verzweifelten Massen aus den zerrütteten Regionen aufnehmen sollen, ist eine Konsequenz, die uns beschäftigen muß.
Unser fruchtbarer Abgleich muß mit Polen und Ungarn erfolgen, lernend, nachahmend. Wir sind da in mancher Hinsicht die Schüler. Vorschlag: Denken wir entlang des Buches von Krastev und Holmes (hier lieferbar) weiter.
Gelddrucker
Etwas zum letzten Absatz, ich warne davor zu denken in Osteuropa sei alles im Lot. Auch in Polen läuft der legale Bevölkerungsaustausch, wenn auch nicht so hochtourig wie im Westen. Hier kann man sich durch die Migrationsstatistiken klicken, die Einwandererzahlen aus Nichteuropa sind stetig am steigen:
https://migracje.gov.pl/en/statistics/scope/poland/type/statuses/view/map/year/2020/?x=0.469&y=1.0425&level=1
Ungarn ist meiner Einschätzung nach das bisher einzige Land in Europa, das es wirklich ernst meint mit dem Schutz seines Volkes und seiner Kultur und dessen Staatsoberhaupt das in seinen Reden auch zum Ausdruck bringt. Die polnische "Rechtspartei" ist hauptsächlich den Unternehmen verpflichtet und importiert Arbeitskräfte wo sie gebraucht werden.