Ein Land wie China voller Widersprüche darzustellen, und zwar abseits der gängigen Bilder von Umweltverschmutzung, überbevölkerten Metropolen, Korruption und Migrationsproblemen, ist keine leichte Aufgabe. Die heute zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde hat binnen weniger Jahrzehnte den Sprung vom ärmsten Staat der Welt hin zu einer Ökonomie geschafft, die ihrer Bevölkerung ein Durchschnittseinkommen über dem Weltmittel bietet. Nach wie vor bestehen große Einkommens- und Wohlstandsunterschiede zwischen Land und Stadt; die Prosperität der Küstenregionen wirkt sich aber auf die Landbevölkerung aus und hebt deren Niveau ebenfalls.
Inzwischen lebt mehr als die Hälfte der Chinesen in Städten. 2030 werden es mindestens 70 Prozent sein. Die Urbanisierung treibt Löhne, Preise und Arbeitskosten in die Höhe, fördert die Binnennachfrage und sorgt damit für weiteren Wohlstand. Die Kehrseite ist der immense Investitionshunger: Die Regierung muß über die Billionen-Euro-Grenze hinaus in die städtische Infrastruktur investieren, um die neuen Stadtbewohner versorgen zu können, und darf zugleich die ländlichen Provinzen nicht vernachlässigen. Schon vor zehn Jahren flossen 48 Prozent aller staatlichen Ausgaben in Infrastrukturprojekte im ländlichen Raum.
Neben den staatlichen Investitionen und dem Außenhandel treibt der Inlandskonsum als dritter Motor die Entwicklung des chinesischen Bruttoinlandsprodukts an. Die städtischen Mittel- und Oberschichten Chinas leben auf einem in Europa weitgehend unbekannten Wohlstandsniveau. Ein Rentnerehepaar, das sich seine Rente (Eintrittsalter 60 für Männer, 55 für Frauen) mit einfachen unternehmerischen Tätigkeiten (etwa als Inhaber eines kleinen Ladens oder durch Verpachtung) aufbessert, kann ohne besondere Mühe netto mehr verdienen als ein berufstätiges Ehepaar in Deutschland. Das sorgt für eine enorme Kaufkraft, die wiederum die Binnenkonjunktur anheizt. In China wird es daher auf absehbare Zeit eine sehr große Mittelschicht geben.
Gleichzeitig hat das Land eine der höchsten Sparquoten der Welt. Die Wohlstandsentwicklung geht von Privatunternehmen aus, und so wird wirtschaftlicher Erfolg gesellschaftlich sehr geachtet. Dabei ist der im Alltag »gefühlte« Abstand zwischen den Superreichen und den sehr Armen in chinesischen Städten relativ gering, da das chinesische System und die Leitkultur in China eine zu extreme Spaltung nicht erlauben. Mehr als jeder vierte Milliardär weltweit ist Chinese; Milliardäre und Multimillionäre treten aber in der städtischen chinesischen Gesellschaft unauffällig auf, führen keine abgekapselte oder extravagante Sonderexistenz.
Überraschenderweise ist in diesem System, das wirtschaftlichen Erfolg so hoch schätzt und daher auch sozialen Aufstieg ermöglicht, nicht etwa maximaler finanzieller Ertrag das oberste Steuerungsziel der Regierung, sondern die Stabilität der politischen Verhältnisse. Deshalb läßt sich die chinesische Regierung sehr viel Zeit mit der Ausweitung wirtschaft- lich erfolgreicher, aber soziales Konfliktpotential bergender Maßnahmen wie der Ausweisung von Sonderwirtschaftszonen. Diese haben zu einem explosionsartigen Wachstum und enormen positiven Wohlstandseffekten geführt, dennoch wird das marktwirtschaftliche Modell nur zögerlich weiter zugelassen.
Immerhin liegt die Staatsquote im vermeintlich kommunistischen Staat bei nur 31 Prozent (BRD: 44 Prozent) China und der »Westen« koexistieren seit 150 Jahren in problematischen Verhältnissen, hervorgerufen durch europäische Interventionen und Quasi-Kolonialismus. Wegen überlegener Waffentechnik der Europäer und Amerikaner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterworfen China ist nicht zu verstehen ohne diese Geschichte, der Blick des Volkes auf Europa schwankt zwischen Begeisterung und Skepsis – und großer Naivität.
Ein Multimillionär, mit dem wir sprechen, weiß nicht, daß die Berliner Mauer gefallen ist. Auf die »alte« Zeit der Dichter und Denker Europas wie auf westliche Technologie blickt man voller Bewunderung, jedoch weniger im Sinne eines Vorbildes, sondern weil Sicherheit und Qualität als Siegeszeichen gelten.
Oft begeistern sich historisch interessierte Chinesen für die wenigen verbliebenen Relikte der eigenen Vergangenheit im frühen 20. Jahrhundert. Dabei ist die Erinnerung an eine heile Welt der zwanziger bis vierziger Jahre eine reine Fiktion, waren doch diese Jahrzehnte von massiven inneren Verwerfungen geprägt.
Aber es war die letzte Zeit vor den Katastrophen der Mao-Periode. Die Kulturrevolution wird als die »dunkle Zeit« in der Geschichte Chinas begriffen und ist weitgehend tabuisiert. Eine »Aufarbeitung« jener Jahrzehnte findet nur langsam statt. Denn das chinesische Volk ist kollektiv tief traumatisiert. Jahrtausendealte Traditionen wurden abgeschnitten, wichtige Identitätsanker gingen verloren. In der aktuellen Phase des Wachstums und der Prosperität führt das zu schmerzhaften Nachwehen, da dem Selbstbewußtsein das identitäre Fundament fehlt.
Als Surrogat werden westliche Lebensstile bis zum Kitsch imitiert – und nur selten so stilvoll wie in Xiamen. Bestimmte Vorstellungen von europäischen Bräuchen sind weitverbreitet und werden durch hochprofessionelle Hochzeitsagenturen und Hollywoodfilme tradiert.
Sie füllen das Identitätsvakuum und bedienen die Sehnsucht nach Romantik und Harmonie, weil Eigenes abwesend scheint. Eine halbe Million chinesischer Studenten hält sich jedes Jahr im Ausland auf. Während Auslandsstudenten in vergangenen Zeiten, vor allem Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts, bei ihrer Rückkehr Botschafter westlicher Lebensart waren und damit zur Modernisierung des Landes beitrugen, bringen sie heute keine nennenswerten neuen Impulse mehr mit.
Heutige chinesische Stadtbewohner sind in der Masse nicht nur ihrer Tradition, sondern auch ihrer Natur und ihrem Körper entfremdet. Abtreibungen und die »Pille danach« sind Alltagsphänomene. Städtisch lebende Mütter stillen vielfach ihre Säuglinge nicht, sondern füttern sie mit europäischem Milchpulver, weil sie denken, daß ihre Kinder dann genauso stark und gesund werden, wie sie das von europäischen Kindern in der Werbung gesehen haben. Gegen Alterserscheinungen sind sofort wirkende und potentiell gesundheitsschädliche Mittel beliebt, etwaige Nbenwirkungen interessieren nicht.
Antibiotikamißbrauch ist verbreitet. Ahnungslosigkeit in bezug auf gesundheitliche und physiologische Sachverhalte steht in merkwürdigem Kontrast zum teils beachtlichen technischen Bildungsniveau. Um hinter die Ursachen der chinesischen geistigen Misere zu kommen, genügt keine Konsumkritik: China hat mit einem Traditions- und Identitätsabbruch zu kämpfen, der in Europa kein Gegenstück hat.
Ein Wiederanschließen an Traditionen ist bisher nicht verbreitet gelungen. Der Konfuzianismus ist in der aktuellen Phase zumindest im Alltag eine reine Illusion und hat nur noch eine Daseinsberechtigung in teuren interkulturellen Managerseminaren in Europa. Die Vorstellung einer konfuzianischen oder auch nur irgendwie philosophischen Begründung wirtschaftlichen Handelns spiegelt nicht annähernd die Situation in der chinesischen Wirtschaft wider. Das Ausmaß an Egoismus, Berechnung und Übervorteilung, das im chinesischen Wirtschafts- handeln alltäglich begegnet, ist wie »Thomas Hobbes auf Crystal Meth«.
Nicht verschwiegen werden darf hier, daß die Suche nach Identität von den Machthabern gern ausgenutzt wird: Sie verläuft in der breiten Masse entlang vorgegebener Muster, auch Identität wird zur Ware und konsumierbar und damit kontrollierbar.China hat nach Aussagen chinesischer Christen die größten und am schnellsten wachsenden christlichen Gemeinden der Welt. Das ist besonders erstaunlich in einem Land, in dem eine jahrhundertelange, von Hegemonialmächten geförderte Missionierung nur schwache und vor allem kaum bleibende Effekte hatte. Der Bedarf nach spiritueller Hilfe und Erleuchtung scheint gewaltig.
Nach Schätzungen christlicher Hilfsorganisationen gibt es in China mehr Christen als Mitglieder der Kommunistischen Partei (KPCh). Etwa sieben Prozent der Chinesen sollen Christen sein. Das erklärt, warum die sonst an metaphysischen Fragen so desinteressierte Partei Christen immer wieder mit Repressionen überzieht: Grund für Christenverfolgungen sind nicht kämpferischer Atheismus oder kommunistische Religionslosigkeit, sondern die Angst vor ausländischer Beeinflussung und dem Entstehen einer organisierten Gegenmacht zur KPCh. Die Verfassung garantiert die Bekenntnis‑, nicht aber die Religionsausübungsfreiheit.
Für Kirchenbauten der staatlich lizensierten und überwachten Religionsgemeinschaften werden sogar Flächen zur Verfügung gestellt und dafür notfalls Land enteignet. Staatliche Überwachung vereinigt sich auf eine Europäern ungewohnte Weise mit Liberalität: Gut ist, was der Stabilität dient. Erweisen sich die Christen als folgsame Staatsbürger, können sie öffentlich unterstützt werden. Private Gebetskreise außerhalb der Lizenzkirchen werden in der Regel geduldet. Trotzdem kommt es im Riesenreich immer wieder zu Repressionen gegen Christen. So kann es geschehen (wie im Januar 2018 im Bistum Zhouzhi), daß ein Kirchenbau urplötzlich wegen angeblich fehlender Baugenehmigung abgerissen wird.
Kommt danach Protest auf, mag sich die örtliche Verwaltung entschuldigen und ein annähernd rechtsstaatliches Verfahren zur Aufklärung in Gang kommen – aber das Gebäude ist erstmal weg.
Dieses Hin und Her zwischen Willkür und Rechtlichkeit, Repression und staatlicher Unterstützung ist Alltag für chinesische Christen. Und es weist auf den Schlüssel hin, der zum Verstehen autoritärer Maßnahmen in China nötig ist: nicht Repression aus ideologischer, aufgesetzter Klassenfeindschaft heraus ist die Absicht.
Das wichtigste Regierungsziel im Reich der Mitte, heute wie vor tausend Jahren, ist die Erhaltung von Stabilität und Harmonie. Sonderinteressen müssen zurückstehen. Aus der Suche nach Harmonie wird auch verständlich, warum die vorprozessuale Streitbeilegung obligatorisch ist. Selbst die bei vielen Verbrechen drohende Todesstrafe wird nicht vollstreckt, wenn die Angehörigen des Opfers dem Täter verzeihen.
Im politischen Bereich werden Konflikte möglichst gewaltlos gelöst oder schon vor einer Eskalation entschärft: Demonstranten werden vor der Anwendung polizeilicher Gewalt mehrfach vorgewarnt, enteignete Bauern werden fürstlich entschädigt. Ethnische Minderheiten sind im Nationalen Volkskongreß überrepräsentiert und waren von der (2015 abgeschafften) Ein-Kind-Politik weitgehend ausgenommen.
Diese Bevorzugung dient der Friedenssicherung. Die vermeintlich »unterdrückten« Volksgruppenminoritäten genießen vom erleichterten Zugang zu Universitäten und zur Beamtenlaufbahn über Steuervergünstigungen bis zu Zinszuschüssen für Unternehmenskredite weitere Privilegien. Nur das Sezessionsrecht wird ihnen verweigert, was dann von an der Destabilisierung Chinas interessierten Mächten als Repression gedeutet wird.
In der chinesischen Kultur genießt die Familie bis heute Vorrang und das wirkt sich auf die Behandlung von Kindern aus. Bildung und Erziehung werden großgeschrieben, dennoch sprechen aufmerksame Chinesen, gerade im Bildungssektor Beschäftigte, von einem drohenden Niedergang des Systems. Ein effizientes, geplantes und gesteuertes Bildungssystem ist die wohl bestmögliche Form, Elitennachwuchs für den Staat zu finden und weiter auszubilden. Die chinesische Kultur hat schon in der Kaiserzeit ein nicht kurzfristig wirkendes System geschaffen, das im wesentlichen bis heute besteht.
Beamte werden wie vor 2000 Jahren von der Zentralregierung berufen, wobei sich das System immer weiterentwickelt hat und momentan sehr raffiniert funktioniert. Mit Kommunismus hat dieses System nichts zu tun, er hat es weder geschaffen noch verbessert. Zentral gesteuerte Ausleseprozesse schufen die einzige gerechte Aufstiegsmöglichkeit der chinesischen Geschichte.
Leistungsprinzip: Jedem Befähigten ist ein Klassensprung möglich. Die herkömmliche Kritik an der chinesischen Wirtschaftspolitik übersieht, welcher gewaltige Wohlstandszuwachs erreicht wurde. Es entsteht eine materiell abgesicherte städtische Mittelschicht, die abseits vom Konsum auch die Zeitreserven, das Interesse und (theoretisch) das Bildungspotential hätte, die chinesische Kultur zu einer neuen Blüte zu führen. Die von der westlichen Presse gern zur Beruhigung der eigenen Bevölkerungen als Zeichen für den enormen Aufholbedarf Chinas betonte ökonomischen und Stabilitätsvorsprung haben und die Welt in der Tat in ein »asiatisches Jahrhundert« eintreten wird.