Auf die Frage nach der Zukunft ihrer Heimat erklärten im letzten Jahr 87 Prozent der Chinesen, ihr Land schlage die richtige Richtung ein. Das war die höchste Zahl aller Erwachsenen im Alter unter 65 Jahren in 26 Ländern – darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA. Auch wenn man auf demoskopische Untersuchungen nicht allzu viel geben kann, ist das vom Pariser Institut Ipsos publizierte Ergebnis erstaunlich, zeichnet es doch mit dem eindeutigen Optimismus der Chinesen ein völlig anderes Stimmungsbild als jenes, das bei hiesigen Bürgern üblich ist.
Kurz vor seinem Tod zog Zygmunt Bauman, der polnisch-britische Philosoph, der im Westen als einer der bedeutendsten Soziologen gilt, eine düstere Bilanz: Die westliche Welt, so der 91jährige, sei seit der Aufklärung nicht besser geworden – sowohl die Moderne als auch die Postmoderne seien von Grund auf mißlungen.
Anfang Januar 2017 verstarb er; vorher konstatierte Bauman in einem seiner letzten Gespräche, daß nicht mehr ein allgemeines Gesetz Staat und Gesellschaft dirigiere. Vielseitigkeit und Wandel seien an dessen Stelle getreten. Die Postmoderne, als »Verflüssigung der Moderne«, durchtränke alle gesellschaftlichen Bereiche.
Dadurch seien unberechenbare Strukturen entstanden, die den Individuen über den Kopf wüchsen, obwohl doch in dem permanenten Wandel gerade ihm, dem selbstverantwortlichen Individuum, die zentrale Rolle zugeschrieben sei. Individualisierung, so der resignierte Befund, sei nur noch als Prozeß und fließende Identität zu begreifen.
Diese Bankrotterklärung des auf dem Projekt der Aufklärung beruhenden westlich-liberalen Systems, das zur Auflösung traditioneller Bindungen und zum Zerfall der Institutionen geführt hat, findet in der Tagespublizistik ihren außenpolitischen Widerhall, denn seit Donald Trumps Wahlsieg mit dem Slogan »America First« dämmert den Propagandisten der »weltoffenen und toleranten Demokratie«, daß ihr weltweit empfohlenes Modell ins Wanken geraten ist.
Die Rückbesinnung auf das Multilaterale, heißt es in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung (19. September 2017), sei das Ergebnis dieser neuen Weltunordnung: »Niemand spricht mehr vom ›Ende der Geschichte‹, wie es sich der Westen nach dem Kollaps des Kommunismus Ende der 1980er-Jahre ausgemalt hatte. Die Geschichte ist vielmehr in vollem Gange. Der Anspruch, daß ein politischer Liberalismus reüssiert und überall eine Demokratie nach westlicher Prägung die alten Autokratien ersetzen müßte, ist vorbei.«
Wie sich die neue Konstellation auf globaler Ebene abzeichnet, analysierte Stefan Kornelius, Ressortchef Außenpolitik der SZ, im vergangenen November: »Nirgendwo ist die Kräfteverschiebung besser zu sehen als im Verhältnis zu China. […] Momentan bietet die aufsteigende Supermacht in der direkten Rivalität mit den USA eine Ordnung, die für nicht wenige Staaten Stabilität verspricht und deswegen attraktiv ist.«
Selbstredend wird der Prozeß des allmählichen Niedergangs westlicher Dominanz in China aufmerksam verfolgt, wobei der Schwerpunkt auf der Analyse der Ursachen liegt. Schließlich gilt es, aus der Entwicklung zu lernen, um nicht eines Tages dieselben Fehler zu begehen. In letzter Zeit haben sowohl das 2013 gegründete Berliner China-Institut der Mercator Stiftung als auch der seit 2002 in Deutschland lebende Informatiker Marcel Zhu, der vornehmlich für Tichys Einblick publiziert, zahlreiche Studien und Artikel chinesischer Denkfabriken, offizieller Parteiorgane und diverser Online-Dienste der hiesigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aus denen sich ein relativ komplexes Bild der chinesischen Sicht gewinnen läßt.
Im Mittelpunkt steht die Frage, warum der Westen, der die Welt 500 Jahre lang dominierte, seit einiger Zeit so verheerende Fehler macht. Als Paradebeispiel gilt die deutsche Flüchtlingspolitik. Kanzlerin Merkel – charakterisiert als Baizuo (»weiße Linke«) und »naiver Gutmensch« – habe aus Gründen politischer Korrektheit dem Multikulturalismus Tribut gezollt und die massenhafte Einwanderung »rückständiger islamischer Werte« erlaubt.
Als 2015 die Flüchtlingskrise einsetzte, habe sich Europa freilich schon längst in der schwierigsten Lage seit 1945 befunden – gekennzeichnet durch Schuldenkrise, islamistische Terrorangriffe, Geburtenrückgang, schrumpfende Mittelschichten und Aufstieg des Populismus.
Die meisten Beobachter führen dieses Szenario nicht auf Entscheidungsfehler einzelner Regierungschefs zurück, sondern sehen die tieferen Ursachen im politischen System. So heißt es im KP-Magazin Hongqi Mengao (»Manuskript der Roten Fahne«): »Die Legitimität der Macht im westlichen Modell stammt aus Wahlen.
Das führt dazu, daß Politiker zuviel Energie auf die Wahlen verwenden, statt sich den Regierungsaufgaben zu widmen. Wegen der befristeten Legislaturperioden denken sie nicht vorausschauend, sondern wollen vor allem schnelle Erfolge er- zielen.« Nach mehreren Jahrhunderten habe sich das System im 20. Jahr- hundert zu einer Massendemokratie gewandelt. Dies habe gravierende Folgen gehabt: Seien Eliten früher von Eliten bestimmt worden, würden sie heute von den Massen gewählt.
Das Partei-Magazin argumentiert: Im Gegensatz zu herkömmlichen Eliten, die sowohl die langfristigen Interessen ihres Landes als auch komplexe internationale Zusammenhänge im Blick hatten, sind die Massen nur auf ihren raschen eigenen Vorteil bedacht. Da Aussehen, modische Kleidung und andere persönliche Präferenzen des Wahlvolks – mithin Kriterien, die nichts mit der Fähigkeit von Politikern zu tun haben – über Erfolg oder Mißerfolg von Wahlen entscheiden, müssen sich die Eliten den Massen anpassen, nach deren Wünschen den Wahlkampf ausrichten und später ihre oft unrealistischen Versprechen erfüllen.
Mittelmäßigkeit und Opportunismus seien die Folge. Begingen die Politiker Fehler, trage niemand die Verantwortung, so daß nur die Hoffnung bleibe, das Führungspersonal bei der nächsten Wahl auszutauschen und Fehler zu korrigieren. Diese Art der Talent-Suche sei leichtsinnig und unverantwortlich. Sie habe dazu geführt, daß ehemals fortschrittliche demokratische Länder heute in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten und stark verschuldet seien.
Ursache der ökonomischen Krise seien in den meisten Staaten der EU die hohen Sozialleistungen. Sie beliefen sich auf fünfzig Prozent aller Sozialleistungen weltweit, obwohl die Union nur neun Prozent der Weltbevölkerung ausmache und lediglich 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistungen erbringe.
Durch die einseitige Fokussierung auf die Umverteilung der Einkommen werde die Vitalität des gesamten Systems gehemmt und führe letztlich in eine politische Sackgasse. Als Beispiel wird von manchen Kommentatoren die Behandlung der Flüchtlingskrise in Deutschland genannt: Senkung der hohen Sozialleistungen für zugewanderte Familien und deren Kinder sowie forcierte Assimilierung wären naheliegende Mittel, um der Situation Herr zu werden, doch diese Maßnahmen könnten nicht eingesetzt werden, weil sie mit den »westlichen Werten« wie Gleichberechtigung, Minderheitenrechten etc. kollidierten.
Einen hohen Preis fordere auch der »absolute Liberalismus«, da er die in- nere Sicherheit gefährlich schwäche. akzeptable Regierungsform gilt, sind sachliche Informationen die Ausnahme. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen daher nicht die Lebensverhältnisse jener eingangs erwähnten 87 Prozent der Bevölkerung, sondern Regimekritiker und deren häufig nicht zu unrecht beklagtes Schicksal. Auf diese Weise läßt sich jedoch weder ein faires Gesamturteil fällen noch ein zutreffendes Bild der Vorgänge im bevölkerungsreichsten Land der Erde gewinnen.
Die Medien fallen damit hinter die Erkenntnis zurück, die der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2014 in einem Interview geäußert hatte: »Wir können nicht ignorieren, daß es Regionen auf der Welt gibt, die sich an anderen Prinzipien orientieren als an denen der westlichen Demokratie … In einer Welt, in der sich Kulturen wie China auf vieltausendjährige Traditionen berufen, sind unsere Vorstellungen eben nicht konkurrenzfähig.«
Tatsache ist, daß in der Volksrepublik die linksradikale Ära bereits 1976 zusammen mit ihrem Begründer zu Grabe getragen wurde. Seit nunmehr vierzig Jahren, seit der 1978 von Deng Xiaoping eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik, entwickelt sich ein völlig neues China, das an die Traditionen des einstigen »Reichs der Mitte« anknüpft. »Bis zum Jahr 2050«, versprach Staats- und Parteichef Xi Jinping im letzten Oktober den Delegierten des 19. KP-Kongresses, »zweihundert Jahre nach den Opium-Kriegen, die das ›Reich der Mitte‹ in Schmach und Schande stürzten, wird China seine Machtstellung zurückgewinnen und wieder zur Weltspitze aufsteigen.«
Mit dieser Prognose geht Xi, nach Mao und Deng der mächtigste Politiker der Volksrepublik, kein großes Risiko ein, denn der Weltbank zufolge dürfte China bereits Anfang der 2030er Jahre die USA als größte Wirtschaftsmacht ablösen.
Den Grundstein für die erfolgreiche Aufholjagd hat Deng Xiaoping gelegt. Er war es, der Maos ideologische Verirrungen mit der Forderung beendete, »die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen« und nicht in welt- fremden Lehrbüchern. Als erstes ließ er die Volkskommunen auflösen, führte eine »sozialistische Marktwirtschaft« ein und plädierte für die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen, um ausländisches Kapital ins Land zu holen. Der Erfolg war durchschlagend: Das Armenhaus China entwickelte sich in rasantem Tempo zu einem modernen Industriestaat, auch wenn es in mancher Hinsicht noch ein Entwicklungsland ist.
Das Bruttoinlandsprodukt stieg von 1978 bis 2015 um das 48fache; dank Globalisierung und Digitalisierung ist die Volksrepublik heute die größte Exportnation; sie ist mit mehr als einer Billion Dollar der zweitgrößte Auslandsinvestor, verfügt weltweit mit circa drei Billionen Dollar über die meisten Devisenreserven und ist Hauptgläubiger der USA.
In wenigen Jahrzehnten haben 700 Millionen Chinesen den Armutsstatus verlassen; 400 Millionen erzielen ein mittleres Einkommen, von denen 150 Millionen nach westlichem Maßstab zur neuen reichen Mittelschicht zählen.
Papierherstellung, Druck mit beweglichen Lettern, Schießpulver und Kompaß zeugten im alten China vom Erfindungsreichtum seiner Bewohner. Heute sind es Hochgeschwindigkeitszüge, Häuser aus 3‑D-Drukkern, Elektroautos sowie Computer (Lenovo) und Smartphones (Huawei, Xiaomi), mit denen die Volksrepublik Aufsehen erregt.
Schließlich ist das Land nicht mehr Produzent massenhaft hergestellter Billigartikel. Internet-Konzerne haben das Leben der Chinesen von Grund auf verändert. Mit 730 Millionen Nutzern entfallen auf den heimischen Internet-Handel bereits 15,5 Prozent aller Einzelhandelsumsätze. Jeden Tag, so Christoph Giesen, Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung, werden in China 15000 private Firmen gegründet.
Mit Milliarden-Summen unterstützt die Regierung Entwicklungen im Bereich Künstlicher Intelligenz sowie innovative Startups, damit sie im Wettbewerb mit dem Silicon Valley mithalten können. Um nicht, wie die Europäer, zum Spielball politischer und finanzieller Interessen amerikanischer Digitalkonzerne zu werden, hat Peking das Internet nach außen abgeschottet (»Great Firewall«) und auf das inländische Kreativpotential gesetzt.
Pionier war der ehemalige Englischlehrer Jack Ma, der 1995 in seiner Heimatstadt Hangzhou die Firma Alibaba gründete. Auf einer Webseite, die ein Umschlagplatz für Großhändler ist, schloß Ma Chinas Fabriken an den Welthandel an, so daß sie bald überall ihre Waren anbieten und per Schiffscontainern liefern konnten. Umgekehrt können sich Interessenten aus Übersee über Alibaba direkt an die Hersteller wenden. Im Jahr 2003 gründete Ma die Webseite Taobao, Chinas eBay, und Alipay, ein Online- Bezahlsystem mit heute mehr als 500 Millionen Nutzern.
Ma war so erfolgreich, daß er mit Alibaba 2014 an die New Yorker Börse ging, wo er die Rekordsumme von 25 Milliarden Dollar erlöste. Sein schärfster Konkurrent ist Tencent, ein Internet-Konzern, dessen Börsenwert inzwischen den von Facebook übersteigt. Tencent wurde 1998 in Shenzhen, einer der noch unter Deng Xiaoping errichteten Sonderwirtschaftszonen, von Ma Huateng gegründet. Er hat Wechat auf den Markt gebracht – eine multiple App, mit der man auch bezahlen kann; sie hat mittlerweile mehr als 900 Millionen Nutzer, so daß China sich auf dem Weg in eine bargeldlose Gesellschaft befindet.
Beide Mas, nicht miteinander verwandt, sind längst Milliardäre und werden in ihrer Heimat wie Popstars gefeiert.
Pekings Erfolgsgeheimnis sind die als »Sozialismus chinesischer Prägung« firmierende staatlich eingehegte Marktwirtschaft (Ende 2017 gab es 66 Millionen Einzelunternehmen und 27 Millionen Privatfirmen mit insgesamt 341 Millionen Beschäftigten) sowie die Rückbesinnung auf die von Konfuzius abgeleitete Herrschaftstrias Leistung – Disziplin – Hierarchie.
Im Gegensatz zum Westen stehen in China, wie im übrigen Ostasien, Staat und Nation über dem Individuum. Die Eliten-Auswahl ist wie zu Zeiten des Kaiserreichs rigoros: In den Tagen des »Gaokao« (»Hoher Test«), der nationalen Zulassungsprüfung für die Universitäten, die dem Abitur ähnelt, befindet sich das ganze Land im Ausnahmezustand. Für junge Chinesen ist es die wichtigste Zeit in ihrem Leben, denn vier Prüfungen in neun Stunden an zwei Tagen entscheiden über ihre Zukunft.
Nicht minder streng ist das jährliche Ausleseverfahren beim »Guokao« (»Landestest«), den gleichzeitig in allen Provinzen stattfindenden Beamtenprüfungen. Die Prüfung für 2018 fand im letzten Dezember statt: 1,38 Millionen zugelassene Bewerber konkurrierten um 28533 Stellen; Voraussetzung für 90 Prozent der Stellen war ein abgeschlossenes Studium.
Behörden, Firmen, gesellschaftliche Institutionen und nicht zuletzt die KP, mit fast neunzig Millionen Mitgliedern die größte Partei der Welt, können aus einem Reservoir von jährlich sieben bis acht Millionen Universitätsabsolventen schöpfen. Mitglieder des Staatsrats (Zentralregierung) und hohe Parteifunktionäre sind vorzüglich ausgebildet; nicht wenige haben im Ausland studiert, fast alle haben vor der Berufung in höchste Ämter praktische Arbeit auf Provinzebene geleistet.
Trotz aller Erfolge sind Chinas Probleme nicht zu übersehen: Ver- heerende Umweltverschmutzung, eine oftmals brutal forcierte Urbanisierung und mangelnde Rechtsstaatlichkeit führen immer wieder zu lokalen Konflikten. Die schon von Konfuzius angestrebte »Große Gemeinschaft« (tatung), die Versöhnung aller gesellschaftlichen Widersprüche durch das Streben nach Harmonie und eine Politik von Maß und Mitte, liegt noch in weiter Ferne. Trotzdem dürfte jenen eingangs zitierten 87 Prozent nicht zu widersprechen sein, die ihr Land auf dem richtigen Weg sehen.