Niemand von uns kommt dieser Tage umhin, sich Gedanken über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren zu machen. Die Medienberichterstattung zwingt uns dazu: keine Zeitung, die ohne Texte, Interviews, kein Radioprogramm, das ohne Reportagen, O‑Töne und Kommentare, kein Fernsehsender, der ohne Stimmungsbilder und Vorort-Begleitung auskäme.
Wir sind uns – mit oder ohne Berichterstattung – hoffentlich darüber im Klaren, daß das, was da zwar nicht vom deutschen Volk, aber von Verbrechern im Namen des deutschen Volkes angerichtet wurde, auf dem weiten Feld unserer Geschichte einen Abgrund bildet, einen Graben, über den keiner leichten Fußes hinwegsetzten sollte.
Daran zu erinnern, ist kein Thema für einen Blog-Beitrag: Über den Abgrund nachzudenken und ihn als Möglichkeit des Menschen wirklich (also nicht unangefochten) zu prüfen, kann kein Kollektivereignis sein, sondern mag bei wenig Licht erfolgen. Eine Kerze in einem dunklen Raum ist keine wortreiche, redegewandte Angelegenheit, kein “Absolvieren”, sondern eine Kerze in einem dunklen Raum (Man kann sie an anderen Tagen für Dresden oder Nordhausen aufstellen, oder für den Urgroßvater aus Schlesien, der 1946 verhungerte).
Durch das unausgesetzte Mahnen und Erinnern ist eines geschehen: Das Jahr 1945 ist zu einem Graben geworden, der eine böse von einer guten Zeit trennt. Falls der Vorgang einer versöhnenden Erinnerung je zu den Staatsaufgaben Nachkriegsdeutschlands gehörte, ist er gründlich mißlungen. Nicht die Vernarbung, sondern die Amputation des “Davor” gilt als Lösung: Zwar stammen wir ab von solchen, die das taten oder in dieser Zeit lebten. Aber wir haben mit ihnen nichts mehr zu schaffen. Sie sind uns fremd, und wir sind besser.
Dieser seltsame Vorgang, der kein heilender ist, wird nun ebenso heillos (und heute geschah das in besonderem Maße) übertragen auf Felder, auf denen ebensolche Gräben die Guten von den Bösen scheiden sollen. Nicht wenige politische Akteure haben heute und in den vergangenen Tagen entweder andeutend oder unverhohlen die AfD und ihren politischen Resonanzraum in die Nähe derjenigen gerückt (oder gleich mit ihnen gleichgesetzt), die in der Lage waren, einen Völkermord vorzubereiten und umzusetzen.
Eine gründlichere Vergiftung der Atmosphäre in einem Land ist nicht denkbar. Sie folgt der berechnenden Logik derjenigen, die Auschwitz für heutige politische Zwecke instrumentalisieren: Wenn es nämlich eine Partei gäbe, die nach einer Machtergreifung Endlösungen für wen auch immer für eine Option hielte, wäre gegen diese Partei zum Schutze ihrer möglichen Opfer jedes Mittel erlaubt. Man müßte sie mindestens verbieten, besser aber noch ihren führenden Köpfen jede Wirkungsmöglichkeit nehmen und ihre Anhänger und Wähler auf eine Weise sozial ächten, die abschreckend genug auf jeden wirkte, der mit ihr liebäugelte.
Die Leichtfertigkeit, mit der nun Leute wie Heiko Maas und Markus Söder und so viele andere die alternativen Politikansätze der AfD mit dem in Verbindung bringen, was der Holocaust bedeutete, ist atemberaubend. Man versucht dort nicht einmal mehr, die Instrumentalisierung zu verbrämen, sondern trägt sie formelhaft und mit der schieren Arroganz des moralischen Siegers vor.
Aber bereits der optische Zugriff verrät: Solche Leute sind zu Existenzvernichtungen in der Lage, und der Gedenkgang zu einer der Schinderstätten der Geschichte hat für sie etwas mit ihrem Terminkalender zu tun. Ich warne unsere Kinder immer vor dieser Sorte Profi.
Das sind Männer, die man übersieht, wenn sie nicht gerade aus Autos steigen, die sie nicht selbst lenken mußten. Aus ihren Mündern hört sich jede Rede zu aufgeladenen Anlässen an wie der Griff nach dem passenden Schraubenschlüssel. Damit wird an der Geschichtserzählung herummontiert, bis sie sich noch besser fügt und vor allem dem eigenen Fortkommen dient.
Aber jede Fuge ist auch eine Lücke. Diesen wesentlichen Aspekt hob Thorsten Hinz in einem Beitrag hervor, den er vor fünf Jahren für unsere Zeitschrift verfaßte:
Die Erinnerungen, die mit Zeitgenossen geteilt, ausgetauscht und unmittelbar an die Nachfahren weitergegeben werden, sind oft ganz andere als diejenigen, die im offiziellen Diskurs hervor- und aufhoben werden. Er überschreibt die authentischen persönlichen Erinnerungen und drängt sie ins Private oder ins Beschweigen ab.
Die Enkel- und Urenkelgenerationen werden veranlaßt, ihre Großeltern und Urgroßeltern einer Täter‑, wenn nicht Mördergeneration zuzurechnen. Sie sind aufgefordert, sich einerseits als Täterabkömmlinge und Schulderben zu begreifen sowie sich gleichzeitig mit den Opfern ihrer Vorfahren zu identifizieren, weil ihnen das die Chance bietet, der ererbten Schuld zu entkommen. Aus der Als-ob-Erinnerung folgen innere Spannungen und kognitive Dissonanzen bis hin zur Schizophrenie und schließlich dem Verlust des Wirklichkeitsgefühls.
Die Erzählung ist mit der überprüfbaren Fakten- und Aktenlage nicht gänzlich deckungsgleich. Da die bearbeiteten Erinnerungen längst nicht erkaltet sind, ruft die Differenz um so mehr danach, die Auswahlkriterien zu überprüfen und neue Erzählprozesse in Gang zu setzen. Entsprechende Bemühungen ziehen jedoch umgehend Sanktionen nach sich, bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen.
Hier zeigt sich, daß die Basiserzählung zumindest teilweise ein machtgeschütztes, der offenen Diskussion entzogenes Dogma ist. Der mit ihm verbundene Bekenntniszwang führt zu geistigen und emotionalen Blockaden bis hin zu psychischen Beschädigungen.
Den bis heute aus meiner Sicht stärksten Roman über die Besessenheit von und die Gefangenschaft in einer instrumentalisierenden Erinnerungskultur hat 2010, also vor bereits zehn Jahren, die Schriftstellerin Iris Hanika vorgelegt. Sie nennt Auschwitz bereits im Buchtitel Das Eigentliche.
Wir treffen darin auf die beiden tief unglücklichen und tief verstörten Hauptfiguren Hans und Graziela, die keinen Schritt tun können, ohne ihr Denken und Handeln an der Chiffre “Auschwitz” abzugleichen und etwas von dieser kaum erträglichen Erbschuld abzutragen.
Hans etwa achtet auf jedem Gang strickt darauf, keinen Stolperstein, keines dieser “Miniaturdenkmale” zu betreten: “Daran mußte er sich nicht eigens erinnern, denn sein hölzerner Körper ging von selbst sehr sorgsam, es saß ihm in den Knochen.” In der überfüllten U‑Bahn denkt er an die Deportationszüge in die Vernichtungslager, die noch viel voller waren. Er spürt »Überlebensschuld« und begegnet ihr mit einem »heillosen Haß auf DEUTSCHLAND«.
Diese Lebens- und Erinnerungshaltung ist keine, die aus Hans und Graziela selbst käme. Sie ist ihnen eingetrichtert, als Verhaltenslehre anerzogen, als zweite Haut übergezogen worden vom »Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung«, dem erinnerungspolitischen und damit identitätsstiftenden »Herz des Landes«, in dem Hans arbeitet.
Ich werde nun eine längere Passagen zitieren, und zwar aus der Rezension, die ich vor zehn Jahren über Iris Hanikas Buch schrieb:
Das Eigentliche zeigt, wie die Verwandlung des Gedenkens in seine Bewirtschaftung irgendwann in Geschäftstüchtigkeit mündet – und uns Deutsche von unserer Geschichte abtrennt: »Juden und Nazis sind andere Wörter für ›die Guten‹ und ›die Bösen‹ geworden, und ›die Deutschen‹ von damals sind nicht wir.« Wer sind wir dann?
Vielleicht geht es manchem von uns wie Hans, der eines Tages ganz undiszipliniert das Amt für Vergangenheitsbewirtschaftung schon zur Mittagszeit verläßt, weil er seine Arbeit nicht mehr erträgt.
Iris Hanika fügt an dieser Stelle drei leere Seiten in ihren Roman ein, auf denen jeweils die Worte »Raum für Notizen« stehen. Das ist eine Aufforderung an die Leser, sich über die eigene Rolle in der längst unangemessenen Vergangenheitsbewirtschaftung Klarheit zu verschaffen: Wo instrumentalisiere ich? Wann verlasse ich dieses Gebäude? Denn Vergangenheitsbewirtschaftung ist auch eine Fixierung, eine Fesselung, keine Freiheit.
Das weiß auch der in die Holocaust-Erinnerung als seinem Eigentlichen eingesperrte Hans. Und so erinnert er sich bei einer frühmorgendlichen Tasse Tee, daß er sich einmal zu befreien vermochte: Bei einem Besuch des Lagers Auschwitz schritt er den Weg von der Rampe zur Gaskammer nicht ab, sondern bog nach einigen Metern ab, um das Lager zu verlassen (»Und war frei«). Da war ein Sieg gegen ein vorgeschriebenes, oktroyiertes Verhaltensmuster.
Das Buch könnte nach dieser Schlüsselszene enden. Iris Hanika aber zieht weitere drei leere Seiten ein, auf denen jedoch nicht noch einmal »Raum für Notizen« steht: Diesen Weg (im doppelten Sinn!) soll man sich nämlich drei leere Seiten lang vorstellen – ohne das Ergebnis gleich wieder bewirtschaftend mitzuteilen.
Das ist das Entscheidende: Die Vergangenheitsbewirtschaftung, die moralische Instrumentalisierung, die unehrliche Überhebung – das alles muß ein Ende finden. In den Raum auf die drei leeren Seiten und die dunklen Gedanken darin mag man also einfach eine Kerze stellen. Das scheint mir angemessen zu sein. Alles andere nicht.
Götz Kubitschek
habe die ersten vierzig kommentare gelesen, als privatmitteilungen sozusagen. danke, und: lassen wirs dabei.