Ob denen, die anno 1968ff. von einem »aus allen Zwängen befreiten Individuum« als Zukunftsvision schwärmten, eine prototypische Physiognomie vorschwebte? Doppelkinn, Dauerwelle und Dreitagebart dürften ausscheiden, zu »saturiert« das eine, zu »normativ« das andere, zu »fashy« das dritte.
Aber: Wie wäre es mit Sascha Lobo, diesem Typen, der seit zwölf dunklen Jahren eine kosmetisch aufwendige rote Irokesen-Frisur trägt? Dieser Umstand ist aus vielen Gründen beachtlich: Erstens, weil Herr Lobo mittlerweile 43 Lenze zählt. Zweitens, weil diese Frisur wirklich ein Alleinstellungsmerkmal ist (Punks schauen seither, daß sie nicht verwechselt werden). Drittens wird »kulturelle Aneignung« (der »Irokese« gehört den Irokesenpardon, den Haudenosaunee) seit geraumer Zeit äußerst kritisch gesehen. Diesbezüglich Anwürfe gegen Lobo sind nicht bekannt. (Eine Tochter, sie sieht nicht gut, fragte, warum der Mann eine CD im Kopf stekken habe. Ich fand diese Ansicht interessant.)
Nun ist Herr Lobo von derartiger Prominenz, daß sich das Reden über den Hahnenkamm eigentlich verbieten müßte. Er selbst sagt bezüglich seines Markenzeichens, es sei »ein erhebendes Gefühl, wenn man sich der Peinlichkeit« aussetze. Und doch besticht die Vision, die der Salonleninist Dietmar Dath in seinem Roman Die Abschaffung der Arten ausgemalt hat. In seiner Welt verfügen die Wesen frei über ihre körperlichen Produktionsmittel, es herrscht eine Art Biokommunismus: Menschen und Tiere kreuzen sich zu neuen Arten.
Voilà! Eventuell tragen sie dann das vor, was sich in ihrem Hirn gerade aufhält. Eventuell haben sie ein elegantes, kleines Mikro ihrem Verlautbarungsapparat vorgeschnallt. Herr Lobo kennt diese Situation. Er ist der Verlautbarer unserer Zeit. Er, der nach 38 Universitätssemestern den Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation mit einem Diplom abgeschlossen hat, spricht unentwegt. Er ist gefragt.
Zuletzt war er im Frühjahr auf der »Digitalkonferenz« re:publica einer der Hauptredner. Wie im vergangenen Jahr entwarf er dort Schlachtpläne gegen »die Rechten« im Netz. Die Quintessenz seines Vortrags wurde für nachrichtenrelevant befunden: »Ich kämpfe für eine Gesellschaft, in der eine jüdische, arbeitslose, lesbische She-Male im Bikini betrunken knutschend an jedem Ort mit einer stillenden schwarzen behinderten Ex-Muslima mit Kopftuch auf der Straße tanzen kann – ohne Angst um ihre Existenz haben zu müssen – und mit WLAN!« Ja, was, wenn nicht das, ist eine coole Vision! Darf man an einen Hit des politisch un- verdächtigen Liedermachers Funny van Dannen erinnern?
Natürlich bin ich kein Rassist,
ich hab vorm Kopf kein Brett
Die meisten lesbischen, schwarzen
Behinderten sind alle furchtbar nett (…)
Geht dieses Lied noch weiter, die Antwort
lautet »Nein«
Doch auch lesbische, schwarze Behinderte
können ätzend sein
Herr Lobo würde das vermutlich nicht leugnen. Das ist sein Trick: Alles sagen, nichts meinen. Alles kann, nichts muß. Aber alles darf sein können, oder so – was etwas konfus klingt. Ist es auch. In Sascha Lobo, diesem Mikro-Mann, bündelt sich der Geist der Zeit. Nach eigenen Angaben lebt er, der weder »Journalist« noch »Blogger« genannt werden will, sondern »Vortragsredner« oder »Autor«, zu »rund 90 Prozent« vom Schwadronieren.
Der »Netzexperte« ist für »Reden, Keynotes und Dinner Speeches« buchbar, er redet für alle über alles. Das geht in jeder Hinsicht munter durcheinander. Einerseits bezeichnet er das blöde Fußvolk von PEGIDA etc. als »Latenz-Nazis« (siehe auf YouTube »Busfahrer Radke vs. Lobo«), andererseits äußerte er 2013: »Gäbe es nur diese eine Wahl: Jede denkende, jede fühlende Person wäre lieber rechts mit Botho Strauß als links mit Günter Grass.«
Man könnte fragen: Ja, was nun? Lobo würde antworten: Hauptsache, eine »eigene Meinung«! Er (»selbstbeauftragter Zivillobbyist mit dem Wirkbereich Digitalisierung und Digitale Gesellschaft«) hat jedenfalls immer eine parat. In den letzten Jahren hielt er (Zitat: »Mit Medien des Axel-Springer-Verlags möchte ich aus Gründen der Psychohygiene so wenig wie möglich zu tun haben«) zielgruppengenaue Vorträge unter anderem bei: Abatus Vermögensmanagement, Allianz, Union Investment, Novartis, Roche Pharma, Tourismus Baden-Württemberg, Miele, Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel, Bundesverband Medizintechnik, ELITE Gerätehändlerfachtagung, Immobilienverband Schweiz, Verband der Unternehmensjuristen, Bundeszahnärztekammer, Bayrische Zahnärztekammer, Hessische Zahnärztekammer, Bundesverband Wellpappe Industrie, Trauring Juwelier Tagung, IKEA, Otto, DM.
Herr Lobo, der zum 9. November artig Stolpersteine postet und sich für »Free Deniz!« engagierte, kennt alle Antworten auf alle Fragen. Motto: Das, was alle anderen sagen, in ein paar kecke dialektische Schleifen verpacken und mit Vehemenz zum Vortrag bringen. Wenn eine hauptsächlich aus Frauen bestehende Kulturjury 34 Menschen mit einem Preis auszeichnet und darunter nur vier Frauen sind, hat Herr Lobo wieder einen maßgeschneiderten Begriff im Jackett stecken: »Pimmelparade«. Die Diskette im Schädel spult unentwegt. So wußte er auch zur »Zukunft der Apotheken« (einer der 214 Zielgruppen seines Portefeuilles) anno 2017 gescheit vorzutragen: »Irgendwann werden wir Medikamente auch online kaufen!«
Lobo bekennt sich dazu, an ADS zu leiden und »linksliberaldemokratischer Verfassungspatriot« zu sein. Herr Lobo (Zitat: »wir, die professionelle Medienlandschaft«) ist die Verkörperung des Post-68er Weltanschauungskonsenses. Zu seinem entschieden vagen persönlichen Profil zählt gemäß seiner Homepage folgendes: »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist mir außerordentlich zuwider, insbesondere Antisemitismus/Antizionismus, Rassismus, Homo- und Transphobie, Sexismus, Misogynie und Behindertenfeindlichkeit.«
Im Rahmen seiner Transparenz-Richtlinien listet dieser Multimensch auch auf, wem seine »Frau und/oder ich« in den letzten Jahren Spenden zukommen ließ: Unter anderen dem Antisemitismus-Projekt der Amadeu-Antonio-Stiftung, dem »Rechts«-Aussteiger Projekt Exit und dem Tierheim Berlin. Seine Frau beschreibt ihn als hochsensiblen Menschen.
Im Tagesspiegel stand, daß die beiden »nach den Attentaten von Paris bis spät nachts weinend im Bett« saßen und »im Minutentakt auf Twitter oder Facebook oder sonstwo schauten, ob es Neuigkeiten gab.«
Das von allen Bindungen freigelassene Subjekt tut also nur so grimmig, per Kopf-CD, gebügeltem Hemd, und entschiedenem Lippenschurz. Er will nur spielen. Wir nennen es Arbeit hieß das Buch, das 2006 zeitgleich mit dem Hahnenkamm in die Welt gesetzt wurde. Gut vorstellbar, daß unsere Urenkel im Geschichtsbuch die »Ära Merkel« mit Herrn Lobos Konterfei illustriert vorfinden.