Gauweilers 68er und das konservative Dilemma

PDF der Druckfassung aus Sezession 84/Juni 2018

Peter Gau­wei­ler, Urge­stein der CSU, gehört zu den weni­gen eta­blier­ten Poli­ti­kern, von denen man über Jahr­zehn­te mutig-ori­gi­nel­le Ansich­ten fern von par­tei­mä­ßi­gem Grup­pen­zwang oder gebo­te­ner »Kor­rekt­heit« hören konn­te. Um so befrem­de­ter las ich in der Wochen­zei­tung Jun­ge Frei­heit vom 30. März 2018 sein Inter­view über »68«. Etli­che sei­ner alters­mil­den Äuße­run­gen erwei­sen sich als ana­ly­ti­sche Fehl­leis­tun­gen von erheb­li­cher Nai­vi­tät. Füh­ren­de Rebel­len von damals gel­ten ihm danach sozu­sa­gen als »Micky-Maus-Revo­lu­tio­nä­re« einer BRD-Polit­folk­lo­re, die »ganz gro­ßes Dra­ma« bot, und ihre Taten als ver­ständ­li­che Jugend­sün­den mit par­ti­ell posi­ti­ver Wir­kung. Sein gene­rö­ses Gesamt­ur­teil ver­langt eine Replik!

1.Gauweilers Bilanz

Zum spär­lich Nega­ti­ven, das der Inter­view­er Moritz Schwarz sei­nem Gesprächs­part­ner über die 68er ent­lo­cken konn­te, gehört ihr pha­ri­säi­scher Haß auf die Eltern­ge­nera­ti­on, wo sie doch »lei­der auch für Tota­li­ta­ris­mus stan­den«. Zudem hät­ten sie die heu­te immer­hin von allen akzeptierte
»West­bin­dung, reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie und Markt­wirt­schaft« attak­kiert, dazu zur Auf­lö­sung von Wer­ten wie Fleiß, Ord­nung, Demut, Vater­lands­lie­be, Treue oder der Form bei­getra­gen. Zu ihren Guns­ten spre­che immer­hin der star­ke Wunsch, »die Welt zu ver­bes­sern«, Kri­tik am Viet­nam-Krieg, ihr Hin­weis auf die kapi­ta­lis­ti­sche »Fehl­kon­struk­ti­on im Ver­hält­nis zur Drit­ten Welt« und auf Ver­drän­gun­gen der Kriegsgeneration.

Auch »unge­sun­de gesell­schaft­li­che Zustän­de, von der Fami­lie bis zur Kir­che« hät­ten sie auf­ge­grif­fen in edler jugend­be­weg­ter Tra­di­ti­ons­li­nie bis zurück zu den Stür­mern und Drän­gern. Denn »Acht­und­sech­zig bestand auch aus gro­ßen Her­vor­ru­fun­gen, die uns frei­er gemacht haben.«
Auf die­ses Urteil trifft sei­ne eige­ne Fest­stel­lung zu: »Die hal­be Wahr­heit ist die gan­ze Lüge.« Über­nimmt er doch leicht­fer­tig die Heroen­le­gen­de vie­ler Prot­ago­nis­ten der 68er, auf der sich bis heu­te der lin­ke polit­mo­ra­li­sche Hege­mo­ni­al­an­spruch aufbaut.

Dabei galt ihm zuvor noch deren Anma­ßung (exem­pla­risch: Gre­te Dutsch­ke), erst ihre anti­au­to­ri­tä­re »The­ra­pie« hät­te die hie­si­ge Demo­kra­tie wirk­lich belebt, als »Quatsch«. Denn wäre dies so, wie erklär­te sich unse­re heu­ti­ge bekla­gens­wer­te Duck­mäu­ser-Repu­blik, die anschau­lich durch einen Maul­korb sym­bo­li­siert wird? Oder neh­men wir als kurio­ses Sym­ptom den Mas­sen­ver­kauf von Mao-Bibeln, die schon begriff­lich auf die qua­si reli­giö­se, auto­ri­täts­hung­ri­ge Kehr­sei­te der APO verweisen.

2.Freiheit

Reden wir also zunächst über das kar­di­na­le Qua­li­täts­merk­mal eines Gemein­we­sens: die Frei­heit! Tun wir es ohne retro­spek­ti­ve Bes­ser­wis­se­rei, die mir selbst nicht zusteht! Denn mit einer Wunsch­bio­gra­phie, wonach ich damals dem Zeit­geist tap­fer Paro­li gebo­ten hät­te, kann ich nicht die-
nen. Eher sehe ich mich, der nach zwei Jah­ren Bun­des­wehr im Herbst 1967 mit dem Stu­di­um begann, rück­bli­ckend in einer Sim­pli­ci­us-Rol­le oder der­je­ni­gen Hans Cas­torps im Zau­ber­berg. Denn etwa ein Jahr lang erleb­te ich die Pro­test­sze­ne zwi­schen Anzie­hung und Abstoßung.
Ich rauch­te zwar kei­ne Joints oder hing Kli­schees über BRD-»Faschismus« an.

Auch vom real­exis­tie­ren­den Kom­mu­nis­mus, vor dem mei­ne Fami­lie geflo­hen war, wuß­te ich zu viel, um ihm zu ver­fal­len. Immer­hin träum­te ich als Anhän­ger der Kon­ver­genz­theo­rie von einer span­nungs­min­dern­den Annä­he­rung des Ost- und West­blocks oder von Dub­ceks »Sozia­lis­mus mit mensch­li­chem Ant­litz«. Als dann der War­schau­er Pakt per Ein­marsch in Prag die­se Hoff­nung nie­der­tram­pel­te und mir in Hei­del­berg von irgend­wel­chen Links­grup­pen recht­fer­ti­gen­de Flug­blät­ter in die Hän­de fie­len oder ande­re, die Sol­sche­ni­zyns Archi­pel Gulag als blo­ße CIA-Pro­pa­gan­da abta­ten, been­de­te dies den geis­ti­gen Flirt mit sol­chen Vordenkern.

Kon­ze­die­ren wir den­noch, daß es für Auf­ruhr auch nach­voll­zieh­ba­re Grün­de gab, vor allem die Schüs­se auf Rudi Dutsch­ke. Sie empör­ten und soli­da­ri­sier­ten selbst Men­schen außer­halb sei­ner poli­ti­schen Gefolg­schaft. Noch heu­te, wo Gewalt­at­ta­cken meist die rech­te Pro­test­sze­ne tref­fen, emp­fin­de ich Abscheu vor die­ser Tat. Hin­zu kamen Deko­lo­nia­li­sie­rungs-Sym­pa­thien oder Skep­sis ange­sichts der Art und Moti­ve, mit denen Ame­ri­ka »Demo­kra­tie« expor­tier­te – für Gau­wei­ler ein US-Geschenk an uns.

Oder den­ken wir an unsäg­li­che Prü­de­ri­en: Mei­nem Freund kün­dig­te man die Stu­den­ten­bu­de, weil er nach zehn Uhr noch Besuch hat­te. § 175 bedroh­te Män­ner­lie­be mit Gefäng­nis. Das ARD-Fern­seh­ge­richt ver­han­del­te einen Kup­pe­lei-Fall, in dem Eltern den künf­ti­gen Schwie­ger­sohn über Nacht beher­bergt hat­ten. Sol­che Straf­tat­be­stän­de gab es damals noch. Das alles (und lei­der mehr) wisch­ten an die Macht gelang­te 68er mit einem Feder­strich bei­sei­te, um dafür aller­dings eine kaum weni­ger absto­ßen­de sexu­el­le Indok­tri­na­ti­on unse­rer Kleins­ten von der Kita bis zum KiKa einzutauschen.

Auch der Inko­gni­to-Ent­hül­ler Wall­raff galt uns als Star im Kampf gegen BILD, deren täg­li­che Mani­pu­la­ti­on auf der Hand lag. Ich über­sah damals nur, daß man Sprin­gers Lügen- oder Lücken­or­ga­ne vor allem des­halb ver­teu­fel­te, um ein lin­kes Block­mo­no­pol an sei­ne Stel­le zu set­zen. Denn gänz­lich unvor­stell­bar war mir die heu­ti­ge Pres­se­land­schaft, in der man zwi­schen Spie­gel, taz, ZEIT, FAZ, BILD oder Welt nur mehr Stil­un­ter­schie­de wahr­nimmt oder Dif­fe­ren­zen hin­sicht­lich der Satz- und Artikel-Länge.

Kurz­fris­tig blen­de­te auch die David-gegen-Goli­ath-Pose, mit der die­se Jugend­be­we­gung vor­gab, gegen eine star­ke Bas­ti­on auto­ri­tä­rer Väter anzu­ren­nen. Wie schwach die in Wirk­lich­keit waren, durch Selbst­zwei­fel und geschicht­li­che Dro­hun­gen ange­krän­kelt, zeig­te sich, als inner­halb eines Jahr­zehnts ihre geis­ti­gen Fun­da­men­te ein­ge­ris­sen waren.

Was von gro­ßer revo­lu­tio­nä­rer Kraft zu zeu­gen schien, atta­ckier­te also ledig­lich die bereits brö­cke­li­ge Prunk­fas­sa­de eines längst ver­fal­le­nen Gebäu­des. Schon erheb­li­che Tei­le des uni­ver­si­tä­ren Mit­tel­baus kol­la­bo­rier­ten zum Nut­zen ihrer Laufbahn.
Ohne­hin pro­fi­tier­ten die 68er finan­zi­ell wie ideell von poten­ten Unter­stüt­zern im Hin­ter­grund, die ihnen trotz ihres Anti-Estab­lish­ment-Furors von Anfang an eine brei­te­re Macht­ba­sis gaben.

Dazu gehör­ten Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen von Par­tei­en (ins­be­son­de­re der SPD), Gewerk­schaf­ten, ein­fluß­rei­che Kräf­te der EKD, Geheim­diens­te der kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le sowie Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs- oder Femi­nis­mus-Orga­ni­sa­tio­nen. Auch kam ihnen ent­ge­gen, daß der pro­kla­mier­te Marsch durch die Insti­tu­tio­nen schon erheb­lich frü­her durch trend­set­zen­de Ree­du­ca­ti­on-Beru­fun­gen begon­nen hat­te. Sie konn­ten somit auf zahl­rei­che Vor­pos­ten in Rund­funk- und Fern­seh­an­stal­ten, Pres­se- und Buch­ver­la­gen, Uni­ver­si­tä­ten oder einem Sub­ven­ti­ons­thea­ter als Mul­ti­pli­ka­to­ren zählen.

Daß übri­gens zuvor kei­ne nen­nens­wer­te Auf­ar­bei­tung der NS- Epo­che statt­ge­fun­den hät­te, ist eine offen­bar »unaus­rott­ba­re Legen­de« (Man­fred Kit­tel). Es gab in den Medi­en oder Schu­len zwar noch nicht die heu­te ganz­jäh­ri­ge Rund­um­be­treu­ung mit anti­fa­schis­ti­schem Mora­lin, aber zwei­fel­los genü­gend Bücher, Fil­me, Thea­ter­stü­cke, Vor­trä­ge oder Gedenk­ver­an­stal­tun­gen zur Aus­ein­an­der­set­zung mit 1933 /45. Ich nen­ne stell­ver­tre­tend Frischs Andor­ra (Schul­lek­tü­re wie Anne Frank),
Hoch­huths Stell­ver­tre­ter, Dra­men oder Roma­ne von Zuck­may­er, Brecht, Bor­chert, Grass, Wal­ser, Böll, Kuby. Hin­zu kom­men his­to­risch-poli­to­lo­gi­sche Stan­dard­wer­ke von Ger­hard Rit­ter über Eugen Kogon bis Karl Diet­rich Bra­cher, Wolf­gang Sau­er, Ger­hard Schulz oder Han­nah Are­ndt. Kampf­schrif­ten und Doku­men­ta­tio­nen von Joseph Wulf, Franz Schonau­er oder Ernst Loe­wy wid­me­ten sich (pole­misch) den im Drit­ten Reich geblie­be­nen Autoren und Künstlern.

Ab Mit­tel­stu­fe besuch­te man klas­sen­wei­se Erwin Leis­ters Mein Kampf. Die Text­samm­lung des unsäg­li­chen Walt­her Hofer zum Drit­ten Reich erziel­te sechs­stel­li­ge Auf­la­gen. Der Münch­ner Ger­ma­nis­ten­tag 1966 nahm sich fach­li­cher Ver­stri­ckun­gen an, Hel­mut Hei­ber und ande­re beleuch­te­ten His­to­ri­ker in Nazi-Deutsch­land. Eine Rede Emil Staigers führ­te zur ver­gan­gen­heits­po­li­ti­schen Pole­mik des »Zür­cher Literaturstreits«.

Selbst der Ers­te Welt­krieg war mit Fritz Fischers ten­den­ziö­sem Griff nach der Welt­macht längst in ein Kon­ti­nu­um »deut­scher Daseins­ver­feh­lung« gebracht wor­den und vie­les mehr. Kurz: 1968 trat man vie­le offe­ne Tore ein.
Mei­nungs­be­schrän­kun­gen gab es gleich­wohl nicht nur für jeg­li­che Form nazis­ti­scher Pro­pa­gan­da. Seit dem Par­tei­en­ver­bot der KPD 1956 hat­ten kom­mu­nis­ti­sche Akti­vis­ten mit Ankla­gen zu rech­nen. Doch gab es gegen sol­che Aus­gren­zung selbst im bür­ger­li­chen Lager deut­li­chen Wider­spruch, der in SPIEGEL, ZEIT oder Süd­deut­scher Zei­tung bis zum Vor­wurf poli­ti­scher Jus­tiz per Ver­fas­sungs­ge­richt reichte.

Nicht zuletzt in Pan­ora­ma äußer­ten sich Pro­mi­nen­te wie Eugen Kogon dezi­diert. Man kann sich Ent­spre­chen­des über soge­nann­te »Rech­te« in unse­rem heu­ti­gen Staats­funk schlicht nicht vor­stel­len, wo das Sys­tem­in­ter­es­se über­wiegt, sie poli­tisch-mora­lisch zu kri­mi­na­li­sie­ren und ihnen Dar­stel­lungs­platt­for­men zu verweigern.

Sol­che Pra­xis grün­det in 68er-Tra­di­ti­on. Denn auch deren Füh­rer ersan­nen aus­ge­feil­te Tech­ni­ken und Tricks, Geg­ner ein­zu­schüch­tern oder ihnen das Wort abzu­schnei­den. Merk­ten sie doch schnell, daß das Volk, das sie stän­dig im Mun­de führ­ten, ihnen nicht wirk­lich folg­te. Die Arbei­ter und klei­nen Ange­stell­ten, die von den Stu­den­ten in den Fir­men agi­tiert wur­den, stan­den ihren Vor­stel­lun­gen eben­so fern wie die Dru­cker des Sprin­ger-Kon­zerns, deren Gebäu­de man ange­zün­det hat­te. Und rote Fah­nen bei Demos mit Sowjet­stern oder Mao-Insi­gni­en stie­ßen bei den­je­ni­gen auf Kopf­schüt­teln, die sie zu befrei­en vorgaben.

So muß­ten sich die Agi­ta­to­ren ihre »pro­le­ta­ri­sche« Legi­ti­ma­ti­on für immer abstru­se­re, bald ter­ro­ris­ti­sche Akti­vi­tä­ten aus zuneh­mend exo­ti­schen Gegen­den ent­lei­hen: Peru, Boli­vi­en, Kuba, Kam­bo­dscha, Ango­la, Sim­bab­we usw. Und die bald nur noch kader­ori­en­tier­ten Polit­kon­zep­tio­nen lie­fen zuneh­mend dar­auf hin­aus, daß das Volk von den Erleuch­te­ten erst erzo­gen wer­den müs­se. Sol­che Hand­lungs­prä­mis­sen haben bei den aktu­ell Herr­schen­den über­lebt und beein­flus­sen ihren Regie­rungs­stil gera­de heute.

3.Gewalt

Auch Gau­wei­ler kennt 68er-Zer­stö­run­gen nach der Devi­se »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« Man hät­te »das Kind mit dem Bade aus­ge­schüt­tet. Aber jeder weiß das doch.« Eben nicht! Zwar ver­schweigt der Main­stream Destruk­ti­ves bis hin zu Ter­ror-Nei­gun­gen nicht, aber baga­tel­li­siert sie häu­fig. Man spricht von Irr­we­gen ein­zel­ner. Etwas Gutes sei aus dem Ruder gelau­fen. Wie groß jedoch von Beginn an die Gewalt­a­ffi­ni­tät füh­ren­der Agi­ta­to­ren war, die spä­ter in halb­sei­de­ne Polit­kar­rie­ren mün­de­te, wie breit die von Hun­dert­tau­sen­den getra­ge­ne RAF-Unter­stüt­zer­sze­ne, ver­däm­mert im Bewußt­sein, wo Che-Gue­va­ra-Pos­ter oder Paläs­ti­nen­ser­schals eher unter Life­style gebucht werden.

Gau­wei­ler selbst ver­nied­licht die Sze­ne durch For­mu­lie­run­gen, das Aus­ru­fen von Welt­re­vo­lu­ti­on und Volks­krieg sei­en gro­ßes Thea­ter gewe­sen. Und als Schwarz exem­pla­risch »Mil­lio­nen-Mey­er« her­aus­pickt, ei- nen von Mas­sen­exe­ku­tio­nen schwa­dro­nie­ren­den Radi­ka­lin­ski, wie­gelt er ab: »Es gibt fürch­ter­li­che Zita­te aus die­ser Zeit. Aber es war eben auch ein Kin­der­kreuz­zug – mit ein­ge­schränk­ter Zurech­nungs­fä­hig­keit aller [!] Akteu­re.« Die täg­li­chen Bezie­hun­gen zur APO hät­ten auch Spie­le­ri­sches gehabt, »wenn es nicht die Toten und den Ter­ror gege­ben hätte«.

Die aller­dings gab es. Rund fünf Dut­zend star­ben durch RAF-Atten­ta­te, weit über 200 wur­den ver­letzt, ein Jum­bo-Jet wur­de ent­führt, eine Bot­schaft brann­te und man­ches mehr. Wir reden heu­te weni­ger davon als von ver­meint­li­chen Befrei­ungs­ta­ten der Jugend­re­bel­len. Wir reden ja auch sel­ten über Aktio­nen der »Roten Flo­ra« oder andern­orts täti­ger Haus­be­set­zer. Bes­ser nicht genau hin­se­hen, was Anti­fa und Auto­no­me so trei­ben, die­se emsi­gen Zuar­bei­ter fürs Estab­lish­ment. Dabei ent­springt Etli­ches davon dem Geist von 68, aus dem sie sich legi­ti­mie­ren. Und schon damals war Gewalt für die Bewe­gung nicht nur zufäl­lig-unwe­sent­li­che Beigabe.

Denn 68 ten­dier­te – auch wenn dies der Mas­se der Anhän­ger ver­bor­gen blieb – mit gewis­ser Zwangs­läu­fig­keit zu Gewalt sowie den heu­ti­gen Spiel­ar­ten eines halb­to­ta­li­tä­ren Tugend­ter­rors. Ohne­hin herrscht im Feuil­le­ton bei lin­ken Gewalt­pro­jek­ten in der Regel ein posi­ti­ves Grund­ver­ständ­nis. Man den­ke an das gegen­wär­ti­ge Trie­rer Jubi­lä­ums­spek­ta­kel für Karl Marx, des­sen angeb­li­cher Huma­nis­mus durch eine fünf­ein­halb Meter hohe Büs­te glo­ri­fi­zie­rend gefei­ert wird. Die welt­weit hun­dert Mil­lio­nen Opfer, die man in sei­nem Namen schlach­te­te, zäh­len da eben­so wenig wie Marx’ per­sön­li­che Destruk­ti­ons­wün­sche oder ras­sis­ti­sche Extremismen.

4.Das gro­ße Verständnis

Gau­wei­lers Hal­tung zu den 68ern ist von christ­li­cher Sanft­mut geprägt:
»Tut wohl denen, die Euch has­sen!« Dem Haß, den die Polit­ak­ti­vis­ten sei­ner­zeit der ver­meint­lich faschis­ti­schen Bun­des­re­pu­blik ent­ge­gen­brach­ten, begeg­net er mit gera­de­zu opa­haf­ter Nach­sicht, die man­che Opfer ver­stö­ren muß: »Im Grun­de waren das gute Jungs.« So kann man das sehen, wenn die glei­chen Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en auch für ande­re mili­tant Ent­flamm­te gel­ten: etwa für zahl­rei­che jun­ge Euro­pä­er, die 1914 ihr August-Erleb­nis fei­er­ten, oder für jugend­lich Erreg­te, die sich 1933 mit Fak­kel­zü­gen am »Tag von Pots­dam« berausch­ten. Vie­le von ihnen kenn­zeich­net eine ähn­lich schwung­haf­te Nai­vi­tät des Anfangs, die im his­to­ri­schen Urteil nicht voll­ends mit der Schwe­re des Aus­gangs belas­tet wer­den sollte.

»Gesin­nun­gen«, for­mu­lier­te Klo­novs­ky, »sind bio­gra­phisch bedingt und fast immer tole­rier­bar. Unver­zeih­lich bleibt allein die Denunziation.«
Ohne­hin geht es nicht dar­um, jeman­dem ein Leben lang vor­zu­hal­ten, was er vor etli­chen Jahr­zehn­ten gedacht, geschrie­ben oder getan hat. Es geht über­haupt nicht dar­um, strom­li­ni­en­för­mi­ge Polit­bio­gra­phien ein­zu­kla­gen. Und nicht dar­um, mensch­li­che Bezie­hun­gen aus­schließ­lich poli­tisch zu bewer­ten. Wenn Gau­wei­ler also Fritz Teu­fel schätz­te und Schar­müt­zel mit ihm »sehr unter­hal­tend« fand, ist das sei­ne Sache.

Schließ­lich gab es unter 68ern neben Beton­hir­nen frag­los ori­gi­nel­le Köp­fe oder sprach­be­gabt-wit­zi­ge. Auch heu­ti­ge Oppo­si­tio­nel­le von rechts könn­ten von poin­ten­si­che­ren Pro­vo­ka­teu­ren wie Teu­fel ler­nen, der im Gerichts­saal die Anwei­sung auf­zu­ste­hen mit dem Bon­mot quit­tier­te: »Wenn’s denn der Wahr­heits­fin­dung dient.«
Auch mei­ne Kon­tak­te beschränk(t)en sich gewiß nicht auf Gleich- gesinn­te. Mit einem 68er-Pro­mi­nen­ten führ­te ich über Jahr­zehn­te trotz schrof­fer poli­ti­scher Gegen­sät­ze ver­trau­lich-anre­gen­de Gesprä­che. Doch auch wenn wir die Dämo­ni­sie­rung einer nach Hun­dert­tau­sen­den zäh­len- den Bewe­gung ver­mei­den, dür­fen wir sie ande­rer­seits nicht ver­nied­li­chen. Eine nost­al­gi­sche Erin­ne­rungs­t­rü­bung ist – um der aktu­el­len Lage­be­stim­mung wil­len – uner­laubt. Denn den heu­ti­gen Zustand unse­rer Repu­blik, die eher einer geis­ti­gen Zucht­an­stalt als einer Demo­kra­tie gleicht, ver­dan­ken wir zu einem Gut­teil dem Ein­fluß die­ser ver­meint­li­chen »Frei- heitsbringer«.

Sie haben die Gesell­schaft in Gut und Böse ein­ge­teilt, in eine angeb­lich dick­fel­li­ge auto­ri­tä­re Schuld­ge­ne­ra­ti­on und die Jugend, die einen poli­ti­schen Augi­as­stall zu rei­ni­gen hät­te und sich dafür fast jeg­li­cher Zwangs­mit­tel bedie­nen dür­fe. Ihr mul­ti­kul­tu­rel­ler Natio­nal­ma­so­chis­mus war die posi­ti­ve »alter­na­tiv­lo­se« Kon­trast­scha­blo­ne zu allem, was heu­te ein­falls­los als »Nazi« sub­su­miert wird. Und ihre dog­ma­ti­sche Saat ging auf, als sie den gar nicht so lan­gen Marsch durch die Insti­tu­tio­nen been­det hatten.

5.Haben wir gewonnen?

Um so kras­ser wirkt Gau­wei­lers Ansicht, spä­tes­tens 1989 »die gro­ße Aus­ein­an­der­set­zung um die alte Bun­des­re­pu­blik gewon­nen« zu haben und daher groß­mü­tig urtei­len zu sol­len. Sol­che Ein­schät­zung belegt ent­we­der sei­nen größ­ten Irr­tum oder zeigt ihn außer­halb des Spek­trums einer nen­nens­wer­ten Oppo­si­ti­on. Denn »gewon­nen« hat man gewiß nicht, wenn ein Land sich nach 50 Jah­ren stär­ker ver­än­dert hat, als selbst wil­des­te kon­ser­va­ti­ve Alp­träu­me in den End­sech­zi­gern pro­phe­zei­ten. Und eine ideell-admi­nis­tra­ti­ve feind­li­che Über­nah­me ist kein Sieg.

Zwar haben in die Jah­re gekom­me­ne Revo­luz­zer Räte­re­pu­blik, Welt­re­vo­lu­ti­on oder Kapi­ta­lis­mus-Tod von ihrer poli­ti­schen Menü­kar­te gestri­chen und Mar­xis­mus durch den »Gro­ßen Aus­tausch« ersetzt. Aber ansons­ten waren sie erfolg­reich wie sel­ten eine Polit­be­we­gung, seit die Anfüh­rer ihre anar­chis­ti­schen Fle­gel­jah­re hin­ter sich lie­ßen. Teils selbst über­rascht, welch unge­heu­ren Sozi­al­raum sie bereits mit rela­tiv gerin­gem Auf­wand erobert hat­ten, steck­ten sie umge­hend ihre Kar­rie­re-Claims ab. Inso­fern pro­vo­ziert Gau­wei­lers nai­ve Fest­stel­lung, die meis­ten 68er hät­ten doch »ihre zwei­te Chan­ce genutzt«. Und ob sie das haben!

Nur gewiß nicht zum Segen des Staa­tes, son­dern als gesell­schaft­li­che Roß­kur, gemixt aus Tugend­ter­ror und Pöst­chen­jagd. Das gilt für die Fischers, Schi­lys, Trittins, Strö­be­l­es e tut­ti quan­ti unse­res polit­me­dia­len Kar­tells. Pare­tos The­se, daß es bei Revo­lu­tio­nen statt um Klassen‑, um Eli­ten- Aus­tausch gehe, wur­de ein­drucks­voll bestä­tigt. Von heu­te auf mor­gen sah man sie in hohe Ämter der Kul­tus- und Jus­tiz­bü­ro­kra­tie ein­zie­hen, in Rund­funk­rä­te, Ordi­na­ria­te, Direk­to­ren­stel­len oder sol­che des Aus­wär­ti­gen Amts, wo sie sich der »Diplo­ma­ten­jagd« wid­me­ten (Dani­el Koer­fer). Sie wur­den Minis­ter, Bür­ger­meis­ter, Inten­dan­ten oder Chef­re­dak­teu­re und fun­gier­ten damit als »Volks­er­zie­her«. Auch »Mil­lio­nen-Mey­er« can­cel­te sei­nen Lauf­bahn­wunsch als Mas­sen­mör­der und wur­de wie so vie­le bezeich­nen­der­wei­se Lehrer.

Eini­ge haben sich tat­säch­lich gewan­delt, und es wäre unfair, ihnen lebens­lang Jugend­sün­den vor­zu­hal­ten oder für alle haf­ten zu las­sen. Aber an den Schalt­he­beln der Macht muß­ten die meis­ten sich nicht ein­mal groß ändern, son­dern zwan­gen die andern zur Anpas­sung und Umer­zie­hung. Was mar­tia­li­sche Revo­lu­ti­ons­auf­ru­fe oder Ter­ror nicht schaff­ten, voll­brach­ten gesin­nungs­star­ke Büro­kra­ten, teils legal, teils in heim­li­cher Gewalt­al­li­anz mit der Anti­fa. Sie nutz­ten die Instru­men­te des erober­ten Staats und trie­ben die soge­nann­ten Libe­ra­len und soge­nann­ten Kon­ser­va­ti­ven vor sich her. Sie haben das Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs­spiel als Kampf- und Erpres­sungs­in­stru­ment per­fek­tio­niert und auch der erwei­ter­ten Bun­des­re­pu­blik aufgezwungen.

Der Tota­li­ta­ris­mus-Ansatz wur­de »wis­sen­schaft­lich« beer­digt und der frü­he­re Kon­sens dar­über gekün­digt. Wich­ti­ge Begrif­fe hat man ver­wirrt, allen vor­an die Tole­ranz. Das bedeu­tet heu­te denun­zia­to­risch geför­der­ter Zustim­mungs­zwang – im Dienst eines Welt­bilds, das Mer­kels »Alter­na­tiv­lo­sig­keit« so ide­al­ty­pisch reprä­sen­tiert. In die­sem Sin­ne hat 68 lang­fris­tig fast total gesiegt und stellt jetzt das Estab­lish­ment – mit dem gra­vie­ren­den Unter­schied, daß die Erobe­rer von der Schwä­che ihrer Geg­ner gelernt haben und sich mit Zäh­nen und Klau­en gegen eine Recon­quis­ta ihrer Besitz­stän­de wehren.

6.Schuldfragen
Auf die 68er-Schuld ange­spro­chen, tut Gau­wei­ler dies als »jako­bi­nisch« ab: Schuld pas­se doch gar nicht zum Kon­ser­va­ti­ven. Damit greift er begriff­lich ähn­lich dane­ben wie mit der Bemer­kung, rech­ter »Ver­fol­gungs­wahn« sei nicht bes­ser als lin­ker. Natür­lich nicht. Doch wo auf der Rech­ten fän­de sich der? Im Gegen­teil: Rech­te guil­lo­ti­niert man zwar nicht mehr, aber ver­schont sie gewiß nicht vom struk­tu­rel­len Ruf­mord. Das Gan­ze flan­kiert durch (öffent­lich finan­zier­te) Stra­ßen­ge­walt, beruf­li­che Ein­schüch­te­rung oder Ver­nich­tung der bür­ger­li­chen Exis­tenz, etwa durch Kon­to­kün­di­gun­gen. Jako­bi­ner, um das klar­zu­stel­len, stüt­zen sich auf töd­li­che Exe­ku­tiv­macht. Sie sprach­lich mit der bei der Stan­ge geblie­be­nen Schar (auch noch unei­ni­ger) Alter­na­ti­ver zu ver­bin­den, die im bes­ten Fall nicht per­sön­lich »zivil­ge­sell­schaft­lich« ange­pö­belt, juris­tisch behel­ligt oder kör­per­lich atta­ckiert wer­den, ist grotesk.

Ansons­ten wäre es mir auch lie­ber, wenn in öffent­li­cher Debat­te, statt stän­dig von Schuld, von aus­zu­fech­ten­den Gegen­sät­zen samt dahin­ter­ste­hen­den Inter­es­sen gespro­chen wür­de. Aber seit sie­ben Jahr­zehn­ten ist hier­zu­lan­de Schuld nun mal die gän­gi­ge dis­kur­si­ve Mün­ze, die Sach­de­bat­ten umge­hend in ver­gan­gen­heits­po­li­tisch grun­dier­te kleb­ri­ge Moral­tri­bu­na­le umwan­delt – mit fest­ge­leg­tem Aus­gang. Aus­ge­rech­net den Prü­gel­kna­ben der Nati­on eine neue Wäh­rung des »Groß­muts« auf­zu­er­le­gen, ist etwas viel ver­langt. Gelang es doch 1989 unse­rer »Eli­te« einer ernst­haf­ten Erör­te­rung von Ver­ant­wort­lich­kei­ten aus­zu­wei­chen. Statt­des­sen erlaub­te man ihr in unheil­vol­ler Syn­the­se aus west­deut­schem Rech­ten- Bas­hing und ost­deut­scher Sta­si-Pra­xis eine Per­fek­tio­nie­rung deut­scher Gesin­nungs­schnüf­fe­lei à la Kaha­ne. Wie­der­ho­len wir nicht den glei­chen Feh­ler, indem man auf Klä­rung des­sen ver­zich­tet, was uns in die­se Men­ta­li­täts­kloa­ke geführt hat.

7.Was ist Konservativismus?

Den Kon­ser­va­ti­ven zeich­ne Gelas­sen­heit aus, meint Gau­wei­ler, im Sin­ne des Gen­tlem­ans, der im Salon der »Tita­nic« den Unter­gang erwar­tet. In aus­sichts­lo­sen Lagen mag dies gel­ten. Aber solan­ge noch gekämpft wird, erscheint mir das Aus­ma­len einer sol­chen Sze­ne als Pose eines Pri­vi­le­gier­ten, der per­sön­lich auf einen glimpf­li­che­ren Ver­lauf hof­fen darf. Ähn­li­che Hal­tun­gen führ­ten in den spä­ten 60ern, als die Vor­aus­set­zun­gen zum Kul­tur­kampf noch erheb­lich güns­ti­ger waren, zur kra­chen­den Nie­der­la­ge des Konservativismus.

Denn man ver­kann­te damals, indem man sich zeit­ge­mäß »moder­ni­sier­te«, die wirk­li­che Dimen­si­on der Gefahr oder war – von bemer­kens­wer­ten Aus­nah­men abge­se­hen – zu bequem und fei­ge, sich dem lin­ken Zeit­geist zu stel­len. Letz­te­res darf man dem Münch­ner RCDS- Chef Gau­wei­ler nicht vor­wer­fen. Damals stand er sei­nen Mann. Doch daß er im Alter nun die (ideel­le, päd­ago­gi­sche und admi­nis­tra­ti­ve) feind­li­che Über­nah­me unse­res Staa­tes durch 68 als fast orga­ni­schen Vor­gang beschreibt, der gleich­zei­tig die nur schein­bar »ver­lo­re­nen Söh­ne« geläu­tert hat, grenzt an Apperzeptionsverweigerung.
Gleich­zei­tig defi­niert es Gau­wei­lers heu­ti­gen Stand­punkt inner­halb nen­nens­wer­ter Opposition.

Auch als respek­ta­bler Quer­kopf bleibt er Ver­tre­ter unse­res fata­len Estab­lish­ments, nament­lich einer Mogel­pa­ckung CSU, die bei der links-grün-pseu­do­li­be­ra­len Koali­ti­ons-Braut­schau ledig­lich etwas zöger­li­cher kon­ser­va­ti­ves Tafel­sil­ber ver­ju­belt. In See­ho­fers Hei­mat­mi­nis­te­ri­um mag er – nach Kur­ta­gic – statt zu füh­ren, den »Muse­ums­füh­rer« spie­len, etwa mit Vor­trä­gen über König Lud­wigs Abset­zung als Staats­streich. Vom viel fol­gen­rei­che­ren lega­len »Staats­streich« durch den Geist der 68er und ihre heu­ti­gen Nach­fol­ger hat er wenig wahr­ge­nom­men, oder er glei­tet dar­über mit nost­al­gi­schem Lächeln hinweg.

Er hat sei­nen Frie­den mit der geis­tig und poli­tisch unter­wan­der­ten Repu­blik gemacht und gehört letzt­lich doch nicht zu uns, son­dern zu jener Art »Kon­ser­va­ti­ven«, die für ihre Fein­de nur die Kas­ta­ni­en aus dem Feu­er holen.
Um zu über­le­ben, spot­te­te Kur­ta­gic, geben sie sich links und redu­zie­ren damit ihre Funk­ti­on auf »die Orga­ni­sa­ti­on der Kapi­tu­la­ti­on und des Rück­zugs, die geord­ne­te Schlüs­sel­über­ga­be und das Auf­recht­erhal­ten von ver­geb­li­chen Restau­ra­ti­ons­wün­schen« zur Min­de­rung des revo­lu­tio­nä­ren Risi­kos. Inso­fern fun­giert Gau­wei­ler weni­ger als Quer­den­ker denn als Absi­che­rungs­fi­gur am rech­ten Flü­gel gegen­über Wäh­ler­ein­brü­chen. Am Ende steht er wie der letz­te Trot­ta in Joseph Roths Kapu­zi­ner­gruft als Folk­lo­rist vor einer inner­lich längst aus­ge­höhl­ten Tra­di­ti­on. Der Rest ist Schweigen.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)