Die Baader-Meinhof-Bildermaschine: Die RAF im Film

PDF der Druckfassung aus Sezession 84/Juni 2018

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

»Die mythi­sche Aura, in die die RAF sich von Beginn an gehüllt hat, war viel­leicht der ent­schei­dends­te Teil ihrer Wir­kungs­ge­schich­te«, schreibt Gerd Koe­nen in sei­ner fes­seln­den Stu­die zu den »Ursze­nen des deut­schen Ter­ro­ris­mus«, Ves­per, Ens­slin, Baa­der (2003): »Schon die Namens­ge­bung griff tief ins Arse­nal der deut­schen Schre­ckens­bil­der und ließ an den apo­ka­lyp­ti­schen ›Blitz‹ der bri­ti­schen Bom­ber wie das tel­luri­sche ›Urrah‹ der Rot­ar­mis­ten denken.
Damit setz­te die RAF eine mit his­to­ri­schen Asso­zia­tio­nen über­frach­te­te Bil­der­ma­schi­ne in Gang, die bis heu­te nicht zum Still­stand gekom­men ist und sich der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung dau­er­haft ein­ge­prägt hat.«

Als sich Andre­as Baa­der und sei­ne Kom­pli­zen 1968 wegen Brand­stif­tung in einem Frank­fur­ter Kauf­haus vor Gericht zu ver­ant­wor­ten hat­ten, »tra­ten sie wie eine Künst­ler­trup­pe in einem Stück oder Film auf, in dem sie die Regis­seu­re, Dreh­buch­au­to­ren und Schau­spie­ler zugleich waren, des­sen Büh­ne und tech­ni­sche Aus­rüs­tung die gro­ßen Medi­en lie­fer­ten und zu des­sen Kom­par­sen das Publi­kum drin­nen und drau­ßen gehörte …

Baa­der gab mit bewähr­ter Atti­tü­de den Bel­mon­do oder Bran­do, nach einem Text von Genet oder Bukow­ski. Und Gud­run war die Muse und gro­ße Lie­ben­de, nicht ohne eige­ne lite­ra­ri­sche Ambi­tio­nen, irgend­wo zwi­schen Las­ker-Schü­ler, Luxem­burg und auch der Sagan.« Sie waren Pro­duk­te der »neu­en«, anti­au­to­ri­tä­ren Lin­ken der sech­zi­ger Jah­re, die von den ideo­lo­gisch stramm­e­r­en K‑Gruppen als jeu­nesse dorée ver­ach­tet wur­den, als Bür­ger­kin­der, die sich vor allem »aus dem Milieu der Künst­ler, der Bil­dung, der Bohè­me und der Kul­tur« (Bernd Rabehl) rekru­tiert und einer Form der »poli­ti­schen Roman­tik« erge­ben hatten.

Die­se rasch im Kul­tur­be­trieb der BRD ton­an­ge­ben­de Schicht hat schließ­lich auch dafür gesorgt, daß die bis heu­te andau­ern­de Prä­senz und Ver­klä­rung des Phä­no­mens RAF sicher­ge­stellt wur­de. Ein nicht gerin­ger Teil der aus der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on her­vor­ge­gan­ge­nen Fil­me­ma­cher, Lite­ra­ten und Intel­lek­tu­el­len sah in Baa­der-Mein­hof abtrün­ni­ges Fleisch vom eige­nen Fleisch, und in ihrer Agen­da eine – wie so oft in der Geschich­te des Kom­mu­nis­mus – ursprüng­lich »gute« Sache, die schreck­lich schief- gelau­fen war. Vor allem jene Fil­me, die seit dem »deut­schen Herbst« ent­stan­den sind, waren zum über­wie­gen­den Teil Ver­su­che der Lin­ken, dem RAF-Trau­ma eine Deu­tung und eine Recht­fer­ti­gung zu geben.
Die Ver­bin­dung zum Milieu der Fil­me­ma­cher bestand von Anfang an.

Die 1966 in West-Ber­lin eröff­ne­te Deut­sche Film- und Fern­seh­aka­de­mie (dffb) wur­de bald zu einem wich­ti­gen Brenn­punkt der Stu­den­ten­be­we­gung. In zahl­rei­chen Agit­prop-Film­chen wur­den der Viet­nam-Krieg und der »Kapi­ta­lis­mus« ange­pran­gert, Demos und Stra­ßen­schlach­ten doku­men­tiert, aber auch schon Gue­ril­la-Krie­ge spie­le­risch insze­niert. Den Vogel schoß Hol­ger Meins mit dem Kurz­film Wie baue ich einen Molo­tow­cock­tail? ab, der mehr oder weni­ger offen zur Brand­stif­tung an dem Ver­lags­haus von Sprin­ger in Ber­lin auf­rief, das nach dem Atten­tat auf Rudi Dutsch­ke von einem auf­ge­putsch­ten Mob in einen wah­ren Kriegs­schau­platz ver­wan­delt wur­de – eine Atta­cke auf die »Lügen­pres­se«, die um ein Viel­fa­ches extre­mer aus­fiel als irgend­ein von PEGIDA skan­dier­ter Slogan.

Die »Lügen­pres­se« war auch The­ma des Roman­pam­phlets Die ver­lo­re­ne Ehre der Katha­ri­na Blum mit dem vollmundigen
Unter­ti­tel »Wie Gewalt ent­ste­hen und wohin sie füh­ren kann« von Hein­rich Böll, der »frei­es Geleit« für Ulri­ke Mein­hof gefordert hat­te. 1975 wur­de es von Vol­ker Schlön­dorff und Mar­ga­re­the von Trot­ta ver­filmt: Eine Frau ver­bringt eine Nacht mit einem attrak­ti­ven Frem­den, nichts­ah­nend, daß es sich dabei um einen mutmaßlichen Ter­ro­ris­ten han­delt. Von der Poli­zei ver­däch­tigt und von der Pres­se als links­extre­mes »Flitt­chen« dif­fa­miert, fin­det sich Katha­ri­na Blum unver­se­hens als geäch­te­tes Frei­wild in einer Welt vol­ler sexis­ti­scher Krypto­fa­schis­ten wie­der. Am Ende erschießt sie zur Genug­tu­ung des Zuschau­ers einen beson­ders wider­li­chen Ver­tre­ter der »Lügen­pres­se«.

Auf des­sen Begräb­nis hält der Ver­lags­chef des Hetzblattes (ange­lehnt an die BILD-Zei­tung) eine heuch­le­ri­sche Rede: »Weh­ret den Anfän­gen«, mahnt er, denn hier sei ein Anschlag auf die »Pres­se­frei­heit«, die »frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung« und den »Plu­ra­lis­mus« ver­übt wor­den. Das erin­nert nicht von unge­fähr an die Rhe­to­rik, mit der heu­te die Kri­ti­ker der Lügen‑, Lücken- und Lum­pen­pres­se denun­ziert wer­den, mit dem klit­ze­klei­nen Unter­schied, daß PEGIDA und »Rechts­po­pu­lis­ten« kei­ne Bom­ben wer­fen und Men­schen töten.

Das ver­korks­te Rühr- und Haß­stück log nach typisch lin­ker Manier die Täter zu Opfern und Pas­si­ons­fi­gu­ren um. Zu einer sol­chen Pas­si­ons­fi­gur wur­de auch Hol­ger Meins sti­li­siert. Der talen­tier­te Kunst­stu­dent gehör­te dem legen­dä­ren »ers­ten Jahr­gang« der dffb (1966/67) an, der sich rasch poli­tisch radi­ka­li­sier­te. Sein Stu­di­en­kol­le­ge Gerd Con­radt dreh­te 2001 den wohl bes­ten Film über die Gene­se eines RAF-Täters, Star­buckHol­ger Meins, der aller­dings in die übli­che ver­klä­rend-nost­al­gi­sche Wat­te gepackt wur­de. Der Ter­ro­rist erscheint hier als sen­si­bler, etwas neu­ro­ti­scher Mensch mit einem hoch­ent­wi­ckel­ten Gerech­tig­keits­emp­fin­den, der auf die fal­sche Bahn gerät und zum Opfer bru­ta­ler Staats­ge­walt wird. Meins starb 1974 in Haft an den Fol­gen eines Hun­ger­streiks; der Anwalt Sieg­fried Haag sag­te aus, daß die Gefäng­nis­lei­tung ent­schei­den­de medi­zi­ni­sche Hil­fe ver­wei­gert hätte.

An Meins’ Grab ball­te der von den Toten auf­er­stan­de­ne Rudi Dutsch­ke die Faust: »Hol­ger, der Kampf geht wei­ter!« Die »Inter­na­tio­na­le« wurde
gesun­gen, Trans­pa­ren­te mit dem Kon­ter­fei des neu­en Hei­li­gen der Bewe­gung hoch­ge­hal­ten. Damit war ein »mobi­li­sie­ren­der Mythos« gebo­ren, ver­dich­tet im Pho­to von Meins’ abge­ma­ger­ter Lei­che, per­spek­ti­visch ver­zerrt, ein Ecce-Homo-Bild­nis, das Gläu­bi­ge stärk­te und Apos­tel erweck­te. Sein Tod beschleu­nig­te die For­mie­rung der »zwei­ten Gene­ra­ti­on«, die nur mehr um ein ein­zi­ges The­ma kreis­te: die »poli­ti­schen Gefan­ge­nen« zu befrei­en und vor dem angeb­lich dro­hen­den »Staats­mord« zu ret­ten. Bir­git Hoge­feld, Leit­ka­der der »drit­ten Gene­ra­ti­on«, berich­tet über das Erwe­ckungs­er­leb­nis, das ihr die­ses Bild berei­tet hat­te: »…weil der aus­ge­mer­gel­te Mensch so viel Ähn­lich­kei­ten mit KZ-Häft­lin­gen, den Toten von Ausch­witz hatte …«

Damit wur­de jener fata­le Mythos wirk­sam, der bis heu­te die »gro­ße Erzäh­lung« der Bun­des­re­pu­blik kon­sti­tu­tiert, gebo­ren aus dem Trau­ma von natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft, Krieg, Geno­zid, tota­ler Nie­der­la­ge, gefil­tert durch das Sie­ger­n­ar­ra­tiv der alli­ier­ten »Umer­zie­hung«, unter­füt­tert mit den Leh­ren des Frank­fur­ter Insti­tuts für Sozi­al­for­schung. Er ver­ein­te die gesam­te Lin­ke und gab ihr die mora­li­sche Legi­ti­ma­ti­on wie auch das gute Gewis­sen, wenn sie zur Gewalt­an­wen­dung überging.

Eng damit ver­knüpft war die Front­stel­lung gegen die Eltern­ge­nera­ti­on (ins­be­son­de­re die besieg­ten, schul­di­gen, unzu­läng­li­chen oder abwe­sen­den Väter), die Empö­rung über die Unter­drü­ckung der Drit­ten Welt, die Begeis­te­rung für den Kom­mu­nis­mus, und schließ­lich die Wen­dung gegen den US-Impe­ria­lis­mus, mit dem sich die Väter ver­bün­det hat­ten. Dem Staat, in dem sich immer noch die Ver­ant­wort­li­chen für den mil­lio­nen­fa­chen Juden­mord an der Macht befan­den, war man kei­ne Rechen­schaft schul­dig; im Gegen­teil, jeg­li­che »anti­fa­schis­ti­sche« Gewalt recht­fer­tig­te sich durch »Ausch­witz«, was von Ulri­ke Mein­hof auf eine para­do­xe Spit­ze getrie­ben wur­de, als sie die Gei­sel­nah­men und Mor­de der paläs­ti­nen­si­schen Ter­ror­grup­pe »Schwar­zer Sep­tem­ber« wäh­rend der Olym­pi­schen Spie­le in Mün­chen 1972 als ver­dien­te Ant­wort auf den »Nazi-Faschis­mus Isra­els« feierte.

Die RAF-Häft­lin­ge wur­den in ihren eige­nen wie in den Augen ihrer Anhän­ger zu KZ-Insas­sen, gefol­tert durch Iso­la­ti­ons­haft im moder­ni­sier­ten Mini-Ausch­witz von Stamm­heim. Um die­sen Opfer­my­thos auf­recht­zu­er­hal­ten, muß­te aller­dings die Geschich­te der RAF ver­fälscht werden.

Ein Bei­spiel ist Die blei­er­ne Zeit (1981) von Mar­ga­re­the von Trot­ta. Bar­ba­ra Suko­wa spiel­te eine von kal­tem Zorn getrie­be­ne, intel­lek­tu­el­le Links­ter­ro­ris­tin, die Gud­run Ens­slin nach­ge­bil­det ist. Berei­nigt von deren mon­dä­ner Ero­tik, wur­de auch die ent­schei­den­de Rol­le ihres Lieb­ha­bers Andre­as Baa­der, dem sie sexu­ell ver­fal­len war, eli­mi­niert, sodaß Gudrun/Marianne als stoi­sche, »femi­nis­ti­sche« Ein­zel­kämp­fe­rin erscheint.

Zusätz­lich taucht eine Schwes­ter Ens­slins auf, die wohl als eine Art Alter Ego der Regis­seu­rin fun­giert. Die­se Redak­teu­rin einer Emma-arti­gen Zeit­schrift steht der Mili­tanz ihrer Schwes­ter ableh­nend gegen­über, teilt jedoch im wesent­li­chen ihre poli­ti­schen Zie­le, in einem Deutsch­land, das als grau, ver­ödet, freud­los und men­schen­leer gezeigt wird.

Nach dem angeb­li­chen Selbst­mord ihrer Schwes­ter im Gefäng­nis gewinnt sie zuneh­mend die Über­zeu­gung, daß die­se in Wahr­heit vom Staat getö­tet wur­de. Bezeich­nen­der­wei­se blen­det der Film die Mor­de und Gewalt­ta­ten der RAF völ­lig aus. Opfer sind im Film aller­dings etli­che zu sehen. In einer Schlüs­sel­sze­ne sehen die jun­gen Schwes­tern in der Schu­le den Film­essay Nacht und Nebel (1955) von Alain Resnais.

Ange­sichts der Lei­chen­ber­ge von Buchen­wald und Ber­gen-Bel­sen ergreift Gudrun/Marianne phy­si­sche Übel­keit; der ers­te Same auf ihrem Weg zum Links­ra­di­ka­lis­mus ist gesät. Spä­ter wird Mari­an­nes Lei­che mit einem gro­tesk ver­zerr­ten Gesicht gezeigt, das deut­lich an die zuvor gezeig­ten KZ-Lei­chen erinnert.
Und als Julia­ne am Ende den klei­nen Sohn ihrer Schwes­ter in Gewahr­sam nimmt, ist sein Kör­per von Brand­wun­den ent­stellt, die ihm ein Unbe­kann­ter zuge­fügt hat, der offen­bar das »Ter­ro­ris­ten­kind« umbrin­gen woll­te (der deut­sche Wiki­pe­dia-Arti­kel zu dem Film spricht selt­sa­mer­wei­se von einem »klein­bür­ger­li­chen Mob«, dem er zum Opfer gefal­len sei). Als das Kind ein Bild der Mut­ter zer­reißt, sagt ihm Julia­ne: »Du hast Unrecht. Dei­ne Mut­ter war eine außer­ge­wöhn­li­che Frau. Ich wer­de dir von ihr erzählen.«

In Mar­kus Imhoofs frei­er Ver­fil­mung von Bern­ward Ves­pers Roman­frag­ment Die Rei­se (CH 1985) wird wie­der­um der klei­ne Bern­ward zum Prü­gel­op­fer sei­ner Mit­schü­ler, weil er Sohn des nun­mehr ver­fem­ten NS-Dich­ters Will Ves­per ist. Imhoof ver­fuhr mit sei­nem Stoff ähn­lich wie Trot­ta oder Rein­hard Hauff in Stamm­heim (1985): glät­tend, de- stil­lie­rend, idea­li­sie­rend, wenn auch gedämpft durch die Unter­kühlt­heit des Autoren­film­stils. Ves­per nahm sich 1971 in einem dro­gen­in­du­zier­ten psy­cho­ti­schen Zustand das Leben; Imhoof läßt ihn zu einem Show­down gegen die Poli­zei antre­ten, die das nun lee­re Haus sei­nes Nazi-Vaters umstellt hat.

Sowohl in Trot­tas als auch in Imhoofs Film fir­mier­ten stei­fe, auto­ri­tä­re Patri­ar­chen als Schur­ken, die bei beklem­men­den gemein­sa­men Mahl­zei­ten über ihren ver­drucks­ten Fami­li­en thronten.
Unend­lich dif­fe­ren­zier­ter fiel Andre­as Vei­els Wer wenn nicht wir (2011) aus. Der Film kon­zen­triert sich auf die Bezie­hung zwi­schen Gud­run Ens­slin und Bern­ward Ves­per, die 1961 in Tübin­gen beginnt.

Vei­el betont stark die Rol­le der sexu­el­len Expe­ri­men­te im explo­si­ven Gesamt­cock­tail. Er zeigt auch die Schi­zo­phre­nie der Früh­zeit des Paa­res, als die­ses einer­seits mit einem links­pro­gres­si­ven Ver­lag reüs­sie­ren, ande­rer­seits eine Gesamt­aus­ga­be der Wer­ke von Will Ves­per her­aus­ge­ben woll­te und wei­ter­hin Kon­tak­te in die deutsch­na­tio­na­le Sze­ne pflegte.
Die Väter der bei­den wer­den weni­ger kli­schiert als in den Vor­gän­ger­fil­men por­trä­tiert; bei­de ver­tra­ten Vari­an­ten des deut­schen Pro­tes­tan­tis­mus, Ves­per mit sei­ner ger­ma­nisch-natio­na­len Reichs­ro­man­tik, der Pfar­rer Hel­mut Ens­slin, Anhän­ger der NS-kri­ti­schen »Beken­nen­den Kir­che«, hin­ge­gen eher die pie­tis­tisch-gesin­nungs­ethi­sche Ver­si­on, die von sei­ner Toch­ter radi­ka­li­siert wur­de, und von der eine direk­te Linie zu Doro­thee Söl­le oder Mar­got Käß­mann führt.

Der labi­le Ves­per, gehörnt von dem viri­len Baa­der, der Gud­run- Bon­nies Cly­de wur­de, erscheint als schuld­stol­zer »Natio­nal­ma­so­chist«. Mit Begeis­te­rung hört er sich eine anti-wei­ße Tira­de des »Black Panther«-Führers Sto­ke­ly Car­mi­cha­el an. Als er ihm anbie­tet, sei­ne Reden in Deutsch­land her­aus­zu­brin­gen, ant­wor­tet Car­mi­cha­el: »Ich wer­de dir sagen, was du tun kannst: Geh nach Hau­se, bring dei­ne wei­ßen Eltern um und häng dich auf.«
Wor­auf Ves­per, begie­rig als »guter« Wei­ßer aner­kannt zu wer­den, ant­wor­tet: »Sie reden von der Gefahr eines neu­en Geno­zids in den USA. In Deutsch­land wis­sen wir, was das bedeu­tet. Die Deut­schen haben Mil­lio­nen Juden getö­tet, mein Vater war einer der Befür­wor­ter des Völ­ker­mords, und jetzt töten sie in Deutsch­land Stu­den­ten und ande­re, die gegen sie sind. Wir kämp­fen bei­de den glei­chen Kampf.« Als Bern­ward von sei­ner Mut­ter erfährt, daß er nur gezeugt wur­de, weil der Füh­rer sich Kin­der für das deut­sche Volk gewünscht hat­te, also mehr oder weni­ger Hit­ler der Grund für sei­ne Exis­tenz ist, begeht er einen Selbstmordversuch.

Ein von der Erb­schuld eines pro­mi­nen­ten »Nazi-Vaters« Heim­ge­such­ter war auch der 1929 gebo­re­ne Tho­mas Har­lan, Sohn Veit Harlans, der unter ande­rem den anti­se­mi­ti­schen Film Jud Süß (1940) insze­niert hat­te. Es war Tho­mas Har­lan gelun­gen, für sei­nen Film Wund­ka­nal (1984) einen wasch­ech­ten NS-Kriegs­ver­bre­cher als Dar­stel­ler zu engagieren.
Der im Schau­spiel uner­fah­re­ne Alfred Fil­bert, der in Weiß­ruß­land und Litau­en SS-Ein­satz­grup­pen gelei­tet hat­te und 1964 zu lebens­läng­li­cher Haft ver­ur­teilt wor­den war (die 1975 aus gesund­heit­li­chen Grün­den auf­ge­ho­ben wur­de), spielt in die­sem bizar­ren Werk einen ehe­ma­li­gen SS-Kom­man­dan­ten, der von einem RAF-ähn­li­chen Kom­man­do ent­führt wur­de, und nun in einem bun­ker­ar­ti­gen Raum von den flüs­tern­den Stim­men unsicht­ba­rer Spre­cher ver­hört, psy­cho­lo­gisch gequält und zu Geständ­nis­sen gezwun­gen wird.

Har­lan teilt im Vor­spann mit, daß die­ser »Dr. Sel­bert« nicht nur für den Mord an »mehr als fünf Mil­lio­nen pol­ni­schen, deut­schen, grie­chi­schen, sowje­ti­schen, rus­si­schen, tsche­chi­schen, slo­wa­ki­schen Bür­gern« gesucht wer­de, son­dern auch für die »soge­nann­ten Selbst­mor­de im Gefäng­nis Stamm­heim« ver­ant­wort­lich sei.
Der von Schuld­ge­füh­len zer­fres­se­ne Har­lan nähr­te bis ins hohe Alter eine ver­zeh­ren­de Haß­li­e­be auf sei­nen Vater. Der NS-Mas­sen­mör­der, den er auch hin­ter den Kulis­sen einem zor­ni­gen Psy­cho­ter­ror unter­zog und gar phy­sisch bedräng­te, dien­te offen­sicht­lich als Stell­ver­tre­ter für den wenig reu­mü­ti­gen Vater, der hier zum Bekennt­nis der ver­dräng­ten Schuld getrie­ben, schließ­lich gede­mü­tigt und bestraft wird. Über­ra­schen­der­wei­se wirkt Fil­bert gebrech­lich, pas­siv, ver­wund­bar, dümm­lich und von begin­nen­der Seni­li­tät umschat­tet, was den selbst­ge­rech­ten Sadis­mus Harlans noch deut­li­cher her­vor­tre­ten läßt.

Den bis­lang ver­gleichs­wei­se bes­ten Film über die RAF dreh­ten am Ende nicht die Autoren­fil­mer. Die von Uli Edel insze­nier­te Bernd-Eichin­ger-Pro­duk­ti­on Der Baa­der-Mein­hof-Kom­plex (2008) war eine rasan­te Geis­ter­bahn­fahrt durch die rote Wal­pur­gis­nacht, wie schon der Der Unter­gang (2004) eti­ket­tiert mit der Sug­ges­ti­on, daß sich alles »genau so« zuge­tra­gen habe. Dies­mal sah man end­lich auch die blu­ten­den und ver­stüm­mel­ten Opfer der RAF, und sie selbst als zyni­sche Kri­mi­nel­le und fana­ti­sche Psy­cho­wracks, was aber letz­ten Endes ihrem Gla­mour nur wenig Abbruch tat.

»Mehr Hel­den­ver­eh­rung geht nicht!«, pro­tes­tier­te Mein­hofs Toch­ter Bet­ti­na Röhl. Gewiß, der Film zeig­te den Grö­ßen­wahn, den ame­ri­ka­ni­sier­ten Hedo­nis­mus, die Para­noia, die hyper­mo­ra­li­schen Recht­fer­ti­gun­gen des Kopf­schuß­hu­ma­nis­mus. Gegen den Lein­wand­ap­peal des »coo­len Kil­lers«, des sou­ve­rä­nen, sexy Hel­den mit der Waf­fe in der Hand, einem ewi­gen Urbild des Kinos, ist jedoch kein Kraut gewach­sen. Weit ent­fernt davon, die Fas­zi­na­ti­on der RAF-»Ikonen« zu hin­ter­fra­gen oder gegen den Strich zu bürs­ten, gefiel sich der Film in der Fleiß­ar­beit ihrer detail­ge­treu­en Nachinszenierung.

Kei­ner die­ser Fil­me wur­de dem Dra­ma und sei­nen Prot­ago­nis­ten wirk­lich gerecht. Ver­gleicht man etwa Vei­els Film mit dem stu­pen­den Mate­ri­al, das Gerd Koe­nen in Ves­per, Ens­slin, Baa­der meis­ter­haft auf­be­rei­tet hat, dann wird deut­lich, wie wenig der Stoff bis­lang in sei­ner Tie­fe fil­misch aus­ge­lo­tet wur­de. Auch Vei­el gelang es nicht, die bri­san­te inne­re Span­nung sei­ner Figu­ren deut­lich und nach­voll­zieh­bar zu machen. Daß es sich hier um einen ver­spä­te­ten Auf­stand gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus und sei­ne »Kon­ti­nui­tä­ten« gehan­delt hat, war zwar Teil ihrer Legi­ti­ma­ti­ons­ge­schich­te, reicht als Erklä­rung aber kaum aus. Man müß­te sich ein Epos ver­zweig­ter und viel­schich­ti­ger deut­scher »Fami­li­en­ro­ma­ne« den­ken, die tief in die natio­na­le Geschich­te ein­ge­bet­tet sind, und viel- leicht nur dann rich­tig ver­stan­den wer­den kön­nen, wenn man in ihnen nach spe­zi­fisch deut­schen Patho­lo­gien und Dis­po­si­tio­nen sucht.

Kratzt man an der Ober­flä­che der ideo­lo­gi­schen Mas­ke der RAF, so kommt viel­leicht tat­säch­lich zum Vor­schein, was Hans-Jür­gen Syber­berg 1978 schrieb: »Deutsch­land wur­de see­lisch ent­erbt und ent­eig­net, was nicht sozio­lo­gisch, gesell­schafts­po­li­tisch zu recht­fer­ti­gen war, wur­de ver­schwie­gen. (…) Wäh­rend flei­ßi­ger Lek­tio­nen in Sachen Ratio­na­lis­mus und Mate­ria­lis­mus haben sie eine ihrer wich­tigs­ten Tra­di­tio­nen, den ver­fluch­ten Haupt­strang ihres Wesens ver­drängt, den Nazis kampf­los zuge­scho­ben, ihn mit dem Fluch des Faschis­mus belegt. Es ist die lan­ge Geschich­te des Irra­tio­na­lis­mus, und was dazu gehört.

Und damit alles, was Mys­tik ist, Sturm und Drang, gro­ße Tei­le der Klas­sik, die Roman­tik, Nietz­sche, Wag­ner und den Expres­sio­nis­mus und letzt­lich ihre Musik und Tei­le des Bes­ten, was sie hat­ten, abge­tre­ten, ver­scho­ben, verdrängt.«
Hier war der eigent­li­che Sub­text des deut­schen Ter­ro­ris­mus zu suchen: »Wir leben in einem Land ohne Hei­mat. Alle ste­hen erschro­cken und stau­nend da, vor dem Aus­bruch des­sen, was wir den Ter­ro­ris­mus nen­nen, man­che klat­schen auch, und oft nicht ein­mal die Schlech­tes­ten, klat­schen für Bom­ben­le­ger und Mör­der von sei­ten Intel­lek­tu­el­ler, heim- lich oder laut, und sie wis­sen oft gar nicht warum.«

Und im Hin­blick auf die Fil­me­ma­cher: »Eine tie­fe Ohn­macht der Mit­tel wird uns bewußt vor der Fra­ge, dies alles dar­zu­stel­len, näm­lich war­um wohl das alles? Dies Erschre­cken, die­ser Aus­bruch? Ist es nicht auch etwas wie die Explo­si­on des ver­dräng­ten deut­schen Irra­tio­na­lis­mus? Der dump­fe, unbe­wuß­te Auf­schrei eines kran­ken Vol­kes ohne Iden­ti­tät? So viel Unter­drü­ckung eige­ner Tra­di­ti­on und sei­nes Wesens muß­te Aggres­sio­nen her­vor­ru­fen, auf deut­sche Wei­se radi­kal und fanatisch.«

Wie so vie­le deut­sche Roman­ti­ker und Idea­lis­ten beweg­ten sich auch die Prot­ago­nis­ten der RAF in einer »Geschich­te von Lie­be, Traum und Tod« (um es mit einem Buch­ti­tel von Will Ves­per zu sagen), in der Viet­nam, Paläs­ti­na, »Ausch­witz, Dres­den und Ham­burg«, die »Welt­re­vo­lu­ti­on«, die »Ver­damm­ten die­ser Erde«, die »Pigs« des »Sys­tems«, der Schah von Per­si­en, der »Faschis­mus« und schließ­lich auch »Stamm­heim« selbst zu Pro­jek­ti­ons­flä­chen eines wahn­haf­ten »gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Psy­cho­dra­mas« wur­den, in dem nach Gerd Koe­nen das Gespenst des Natio­nal­so­zia­lis­mus »zu den schril­len Klän­gen und Tän­zen kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­rer Riten« exor­ziert wer­den sollte.

Aber da war noch mehr, näm­lich ein un- oder halb­be­wuß­ter Auf­stand gegen die Besat­zer eines vater­lo­sen Vater­lan­des: »Die deut­schen Volks­mas­sen ver­wan­del­ten sich im Dis­kurs der RAF zuneh­mend in ›Kolo­ni­sier­te‹, denen unter der alli­ier­ten Okku­pa­ti­on seit 1945 durch ›Gehirn­wä­sche‹ und eine ›Poli­tik des Hun­gers‹ ihre ›Iden­ti­tät‹ geraubt wor­den war, nicht anders als den Men­schen in Süd­ko­rea oder Süd­viet­nam.« Die RAF wur­de damit zu einer ima­gi­nä­ren Avant­gar­de »des Befrei­ungs­kampfs aller unter­drück­ten Völ­ker«, an deren Wesen die Welt gene­sen sollte.

Dabei ent­sprach sie am Ende ziem­lich genau jener »schreck­li­chen Zutat« der »deut­schen See­le«, die Joa­chim Fer­n­au 1966 in sei­nem Buch Dis­teln für Hagen anhand der Gestalt Hagens exem­pli­fi­zier­te: Typisch deutsch sei das Leben »in der rei­nen, der töd­lich lee­ren Idee. In der Idee als Ersatz für die Frau, die er nicht hat, für das Kind, das er nicht wünscht, für die Lie­be, die er nicht braucht, für das Lachen, das er nicht kennt, für das Genie­ßen der Gegen­wart, die für ihn eine Zeit­ver­geu­dung für die Zukunft ist. Die Käl­te, die Hagen ver­brei­tet, ist die Käl­te eines Lebens im luft­lee­ren Raum der Idee. […]
›Deutsch­land muß leben, und wenn wir ster­ben müs­sen‹ – das ist das Dyna­mit, das Hagen mit sich her­um­trägt, das ist das Cir­cu­lus-vitio­sus-Bekennt­nis, das von ihm stam­men könn­te. Kei­ner kann der Idee so treu sein wie der Deut­sche. Wo die Idee fehlt, schafft er sie. Wo das nicht mög­lich ist, ist er nicht treu.« Die Ehre der RAF, so wie­der­um Gerd Koe­nen, »hieß Treue – zu sich, zur RAF. Es war ein Kampf ohne bestimm­ten Inhalt, buch­stäb­lich um alles oder nichts.«

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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