Wer wie der Spiegel-Bildungsschnöselrollenspieler Georg Diez im Hinblick auf die »wilden Jahre« der selbstverstandenen Studentenrevolte der 1960er Jahre die sprichwörtliche Gnade der späten Geburt genießt, der hat gut klagen. Klagen vor allem über die »Abgehängten« der frühen Neuen Linken, die Diez in seiner Netzkolumne vom 13. Mai 2018 als »Achtundsechzigerfresser« bezeichnet und heute allerorten in reaktionären Umtrieben am Werk sieht.
Diese Theorie hat der ursprüngliche Theaterkritiker Diez, seines Zeichens Geburtsjahrgang 1969, selbstverständlich nicht selbst entwickelt, sondern vom Berliner Historiker Manuel Seitenbecher übernommen, der in seiner Dissertation Mahler, Maschke & Co. Rechtes Denken in der 68er-Bewegung? einen grundlegenden Sozialneid nicht »angekommener« 68er wie Reinhold Oberlercher als Movens ihrer Wendung von radikal linker hin zu radikal rechter Systemopposition konstruiert.
Diez rümpft seine Nase unter anderem über »eine depressive Grundstimmung von halb gelesenen Büchern und halb gelebten Leben« – und über das daraus erwachsene neurotische Abarbeiten an klischeehaft verzerrten Feindbildern, die ein zeitgemäßes Fortleben und Ausgestalten der »utopischen Strahlkraft von 1968« behinderten. Seine »widerständigen« Forderungen umfassen unter anderem einen Kurswechsel bei der Suche nach zu verändernden Mißständen: »Rassismus etwa, Kriege und Krisen der Entkolonialisierung«, große Überraschung. Zuvor aber: »Es wäre auch an der Zeit, ein paar der Leseerfahrungen zu überprüfen, die sich mit den Jahren zu einem intellektuellen Bild verdichtet haben, wonach die Welt alles ist, was die Oberfläche ist – dabei ist das Erbe einer bestimmten Art von Postmoderne gerade das Gegenteil, die historische Analyse der Praktiken von Macht, von Kontrolle, von der Ordnung des Systems.«
Während der erste Teil dieses Ab-Satzes nicht mehr ist als das übliche Wortgeklingel, mit dem die beschreibende Zunft ihre erschaudernde Konsumentenschar zur Aufmerksamkeit zurückruft, schlägt der zweite Teil voll durch und präsentiert in Diez’ eigener wohlbezahlt-altkluger Post-68er-Attitüde das Instrumentarium zur Dekonstruktion derselben. Ob das davon zeugt, daß der Autor sein eigenes Thema gar nicht begriffen hat, oder lediglich die Kaltschnäuzigkeit eines hauptberuflichen Salbaders darstellt, spielt keine Rolle. Weit wichtiger ist der Anreiz zur Revision des mit dem heute geläufigen Schmähwort des »Kulturmarxismus« ungebrochenen Vorurteils gegenüber dem unter dem diffusen Schlagwort der Postmoderne subsumierten theoretischen Sektionsbesteck, wonach es sich dabei um wenig mehr als einen in noch abgehobenere Sprache gehüllten und somit noch unverständlicheren Auswuchs von Kritischer Theorie und Freudomarxismus handele.
Eine – leicht mit politischer »Haltung« oder Psychohygiene verwechselbare – Ignoranz dem Thema gegenüber verbietet sich schon aufgrund der ungebrochenen Präsenz des Begriffs Postmoderne selbst sowie seiner Abwandlungen, etwa im Attribut »postfaktisch« für alle Infragestellungen des Realitätsdarstellungsmonopols des systemgenehmen Medienbetriebs.
Während die Neue Linke rund um ihren Nukleus, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), mit dessen Ausschluß aus der SPD im November 1961 in die Welt kam, entsprang die Suche der unorthodoxen Linken nach neuen geistigen Anregungen der Abgestandenheit von Frankfurter Schule (der es nichts geholfen hatte, daß Horkheimer ihre unapologetisch marxistischen Schriften der Weimarer Republik im Giftschrank des Instituts für Sozialforschung zu verstecken versucht hatte) und orthodox marxistisch-leninistischem Telos der vielgerühmten »Suhrkamp-Kultur«.
Einer der Jungintellektuellen auf der Suche nach radikalem Denken ohne den geistigen Gilb des 19. Jahrhunderts war der 1936 in Halberstadt geborene Peter Gente, der sich Mitte der 1960er Jahre nach intensiver, kritischer Adornolektüre und anschließender Suche nach neuen Ufern mit Brille und Bart – dem Eindruck Jacob Taubes’ zufolge – langsam in einen Walter Benjamin redivivus verwandelte.
Die überkommene, aus dem Bürgertum entstandene Kritik am Bürgertum der Frankfurter Schule schien im angebrochenen Wirtschaftswunderland BRD nicht mehr tragfähig. Seine anbrechende Suche nach einem Weg hinein ins Herz der kommenden Revolte machte jedoch einen bewußten Bogen herum um den studentischen Aktivismus, dem sich etwa der oberste Theoretiker des SDS, Hans-Jürgen Krahl, verschrieben hatte; Gentes Ideal war es, als eine Art »Enzyklopädist des Aufruhrs« (Helmut Lethen) das Arsenal der geistigen Rollkommandos zu pflegen.
Krahl kam mit 27 Jahren am 13. Februar 1970 bei einem Autounfall ums Leben – und an seine Stelle trat in denkwürdiger Koinzidenz nur vier Tage später das erste selbstproduzierte Buch des Kleeblatts um Gente, das sich ab Ende Juni desselben Jahrs nach Gentes damaliger Ehefrau, der Fußpflegerin Merve Lowien, »Merve Verlag« nennen sollte. Der Titel sprach für die ablehnende Haltung gegenüber der marxistischen Orthodoxie: Wie sollen wir ›Das Kapital‹ lesen? von Louis Althusser, der Marx zu strukturalisieren sich anschickte.
Damit lieferte er bereits einen Vorgeschmack darauf, was der junge, sich nach der 1975 mit der Veröffentlichung von Jacques Rancières Wider den akademischen Marxismus schroff abgebrochenen neomarxistischen Frühphase alsbald auf extrem kondensierte, hochtheoretische Kurzabhandlungen spezialisierende Verlag vor allem aus dem französischsprachigen Ausland importieren sollte.
Derweil schossen in den graswurzelrevolutionsmüden 1970er Jahren die Theoriezirkel, ‑zeitschriften und ‑verlage wie Pilze aus dem Boden. Und in den 1980ern griff eine breite intellektuelle Szene den schon 1968 vom amerikanischen Kulturwissenschaftler Leslie Fiedler (nachgedruckt ausgerechnet von der sich konservativ gerierenden Christ & Welt) unter der Parole »Cross the border, close the gap!« (»Überquert die Grenze, schließt den Graben!«) zumindest für die Literatur ausgerufenen Tod der Moderne und die Heraufkunft der Postmoderne endlich auf und trieb ihn philosophisch voran.
Im Merve Verlag sind bis zum heutigen Tage beinahe 500 Bücher erschienen. Die Verlagsgründer mit Peter Gente als unermüdlich suchendem und lesendem Zugpferd brachten neben Schlüsselwerken der aufkommenden Systemtheorie zahllose kleine Klassiker von Strukturalismus und Poststrukturalismus deutschsprachig heraus – von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris versponnenen Visionen Rhizom und Tausend Plateaus über Jean Baudrillards Agonie des Realen und Jean-François Lyotards Das Patchwork der Minderheiten sowie Immaterialität und Postmoderne bis hin zur Ästhetik des Verschwindens von Paul Virilio – und, ganz nebenbei, zum unscheinbaren, wenn auch hochexplosiven Ad Carl Schmitt des früh weg- weisenden Jacob Taubes, das im Hause der Verlagsbuchhandlung von Antaios ein Longseller ist, auch wenn sich Merve der Zusammenarbeit renitent verweigert.
Gente, der 2014 verstarb, wurde Zeuge, wie etliche ganz ähnlich ausgerichtete Verlage hinzutraten – allen voran der 1977 gegründete und allein dem Unorthodoxen verpflichtete »ursprüngliche« Verlag Matthes & Seitz mit Sitz in München, der mit seinem eigenwilligen Übersetzer Gerd Bergfleth (vgl. Sezession 71) etwa das »obszöne« Werk Georges Batailles in Deutschland bekanntmachte, ganz nebenbei auch Pierre Drieu la Rochelle (vgl. Sezession 51) verlegte und schließlich – nach Schließung und Neubegründung – als Matthes & Seitz Berlin unter dem neuen, intensiv an Jean Baudrillard geschulten Leiter Andreas Rötzer eine Art »Merve 2.0« ‑Programm inklusive preisgekrönter Belletristikschiene fährt. Daneben steht zusätzlich etwa der Jacques Derrida sowie Lyotard verpflichtete, 1985 gegründete und in Wien ansässige Passagen Verlag.
Das sich selbst als postmodern begreifende oder als solches apostrophierte Denken ist Realität. Um mit der unseligen Tradition des müßigen Sichtreiben-Lassens im Zeitenlauf zu brechen und mindestens einen sicheren Stand zu gewinnen, gebietet sich statt der selbstgefälligen Weigerung, unbekanntes und stellenweise (etwa bei Foucault und Bataille) unappetitliches Terrain zu betreten, der mindestens neugierige Überblick – etwa in Form der hervorragenden einführenden Darstellung, die der unverständlicherweise kaum bekannte meta-postmodernistische Philosoph Wolfgang Welsch (Jg. 1946, gänzlich ohne Diez-typische Hyperventilation) mit Unsere postmoderne Moderne 1987 vorlegte und damit keinen geringeren als Armin Mohler dazu inspirierte, sich in Criticón an einer schmählich untergegangenen Analyse der Postmoderne als paradoxerweise »genuin rechts« zu versuchen.
Die bloße Reduktion der philosophischen Diskussion auf Sprachspiele, Diskriminierungsgeschrei und Wegbereitung des Genderismus greift bei weitem zu kurz – anstelle in einer Ausweichbewegung immer neue Ausdeutungen und begriffliche Neuschöpfungen vorzunehmen, sollte die Rechte den kämpferischen Weg wählen, sich die okkupierte eigene Sprache zurückzuerobern! Wenn das ein Alexander Dugin (vgl. Sezession 61) vermag, dessen messianisch verbrämte »Vierte Politische Theorie« wenig mehr ist als eine Melange klassisch neurechter Denkmuster mit apokalyptischen, russisch-traditionalen und eben postmodernen Versatzstücken, dann sollte die deutsche intellektuelle Rechte schnellstmöglich aufholen und sich in der Rüstkammer eines Denkens bedienen, das oft konfus, manchmal absurd, immer aber aufregend ist – und das seine wesentlichen populären Vertreter à la Diez allemal nicht verstanden haben.