Aufmarsch der Postmoderne

PDF der Druckfassung aus Sezession 84/Juni 2018

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Wer wie der Spie­gel-Bil­dungs­schnö­sel­rol­len­spie­ler Georg Diez im Hin­blick auf die »wil­den Jah­re« der selbst­ver­stan­de­nen Stu­den­ten­re­vol­te der 1960er Jah­re die sprich­wört­li­che Gna­de der spä­ten Geburt genießt, der hat gut kla­gen. Kla­gen vor allem über die »Abge­häng­ten« der frü­hen Neu­en Lin­ken, die Diez in sei­ner Netz­ko­lum­ne vom 13. Mai 2018 als »Acht­und­sech­zi­ger­fres­ser« bezeich­net und heu­te aller­or­ten in reak­tio­nä­ren Umtrie­ben am Werk sieht.

Die­se Theo­rie hat der ursprüng­li­che Thea­ter­kri­ti­ker Diez, sei­nes Zei­chens Geburts­jahr­gang 1969, selbst­ver­ständ­lich nicht selbst ent­wi­ckelt, son­dern vom Ber­li­ner His­to­ri­ker Manu­el Sei­ten­be­cher über­nom­men, der in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on Mahler, Maschke & Co. Rech­tes Den­ken in der 68er-Bewe­gung? einen grund­le­gen­den Sozi­al­neid nicht »ange­kom­me­ner« 68er wie Rein­hold Ober­ler­cher als Movens ihrer Wen­dung von radi­kal lin­ker hin zu radi­kal rech­ter Sys­tem­op­po­si­ti­on konstruiert.

Diez rümpft sei­ne Nase unter ande­rem über »eine depres­si­ve Grund­stim­mung von halb gele­se­nen Büchern und halb geleb­ten Leben« – und über das dar­aus erwach­se­ne neu­ro­ti­sche Abar­bei­ten an kli­schee­haft ver­zerr­ten Feind­bil­dern, die ein zeit­ge­mä­ßes Fort­le­ben und Aus­ge­stal­ten der »uto­pi­schen Strahl­kraft von 1968« behin­der­ten. Sei­ne »wider­stän­di­gen« For­de­run­gen umfas­sen unter ande­rem einen Kurs­wech­sel bei der Suche nach zu ver­än­dern­den Miß­stän­den: »Ras­sis­mus etwa, Krie­ge und Kri­sen der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung«, gro­ße Über­ra­schung. Zuvor aber: »Es wäre auch an der Zeit, ein paar der Lese­er­fah­run­gen zu über­prü­fen, die sich mit den Jah­ren zu einem intel­lek­tu­el­len Bild ver­dich­tet haben, wonach die Welt alles ist, was die Ober­flä­che ist – dabei ist das Erbe einer bestimm­ten Art von Post­mo­der­ne gera­de das Gegen­teil, die his­to­ri­sche Ana­ly­se der Prak­ti­ken von Macht, von Kon­trol­le, von der Ord­nung des Systems.«

Wäh­rend der ers­te Teil die­ses Ab-Sat­zes nicht mehr ist als das übli­che Wort­ge­klin­gel, mit dem die beschrei­ben­de Zunft ihre erschau­dern­de Kon­su­men­ten­schar zur Auf­merk­sam­keit zurück­ruft, schlägt der zwei­te Teil voll durch und prä­sen­tiert in Diez’ eige­ner wohl­be­zahlt-alt­klu­ger Post-68er-Atti­tü­de das Instru­men­ta­ri­um zur Dekon­struk­ti­on der­sel­ben. Ob das davon zeugt, daß der Autor sein eige­nes The­ma gar nicht begrif­fen hat, oder ledig­lich die Kalt­schnäu­zig­keit eines haupt­be­ruf­li­chen Sal­ba­ders dar­stellt, spielt kei­ne Rol­le. Weit wich­ti­ger ist der Anreiz zur Revi­si­on des mit dem heu­te geläu­fi­gen Schmäh­wort des »Kul­tur­mar­xis­mus« unge­bro­che­nen Vor­ur­teils gegen­über dem unter dem dif­fu­sen Schlag­wort der Post­mo­der­ne sub­su­mier­ten theo­re­ti­schen Sek­ti­ons­be­steck, wonach es sich dabei um wenig mehr als einen in noch abge­ho­be­ne­re Spra­che gehüll­ten und somit noch unver­ständ­li­che­ren Aus­wuchs von Kri­ti­scher Theo­rie und Freu­domar­xis­mus handele.

Eine – leicht mit poli­ti­scher »Hal­tung« oder Psy­cho­hy­gie­ne ver­wech­sel­ba­re – Igno­ranz dem The­ma gegen­über ver­bie­tet sich schon auf­grund der unge­bro­che­nen Prä­senz des Begriffs Post­mo­der­ne selbst sowie sei­ner Abwand­lun­gen, etwa im Attri­but »post­fak­tisch« für alle Infra­ge­stel­lun­gen des Rea­li­täts­dar­stel­lungs­mo­no­pols des sys­tem­ge­neh­men Medienbetriebs.

Wäh­rend die Neue Lin­ke rund um ihren Nukle­us, den Sozia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bund (SDS), mit des­sen Aus­schluß aus der SPD im Novem­ber 1961 in die Welt kam, ent­sprang die Suche der unor­tho­do­xen Lin­ken nach neu­en geis­ti­gen Anre­gun­gen der Abge­stan­den­heit von Frank­fur­ter Schu­le (der es nichts gehol­fen hat­te, daß Hork­hei­mer ihre una­po­lo­ge­tisch mar­xis­ti­schen Schrif­ten der Wei­ma­rer Repu­blik im Gift­schrank des Insti­tuts für Sozi­al­for­schung zu ver­ste­cken ver­sucht hat­te) und ortho­dox mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schem Telos der viel­ge­rühm­ten »Suhr­kamp-Kul­tur«.

Einer der Jung­in­tel­lek­tu­el­len auf der Suche nach radi­ka­lem Den­ken ohne den geis­ti­gen Gilb des 19. Jahr­hun­derts war der 1936 in Hal­ber­stadt gebo­re­ne Peter Gen­te, der sich Mit­te der 1960er Jah­re nach inten­si­ver, kri­ti­scher Ador­no­lek­tü­re und anschlie­ßen­der Suche nach neu­en Ufern mit Bril­le und Bart – dem Ein­druck Jacob Tau­bes’ zufol­ge – lang­sam in einen Wal­ter Ben­ja­min redi­vi­vus verwandelte.

Die über­kom­me­ne, aus dem Bür­ger­tum ent­stan­de­ne Kri­tik am Bür­ger­tum der Frank­fur­ter Schu­le schien im ange­bro­che­nen Wirt­schafts­wun­der­land BRD nicht mehr trag­fä­hig. Sei­ne anbre­chen­de Suche nach einem Weg hin­ein ins Herz der kom­men­den Revol­te mach­te jedoch einen bewuß­ten Bogen her­um um den stu­den­ti­schen Akti­vis­mus, dem sich etwa der obers­te Theo­re­ti­ker des SDS, Hans-Jür­gen Krahl, ver­schrie­ben hat­te; Gen­tes Ide­al war es, als eine Art »Enzy­klo­pä­dist des Auf­ruhrs« (Hel­mut Lethen) das Arse­nal der geis­ti­gen Roll­kom­man­dos zu pflegen.

Krahl kam mit 27 Jah­ren am 13. Febru­ar 1970 bei einem Auto­un­fall ums Leben – und an sei­ne Stel­le trat in denk­wür­di­ger Koin­zi­denz nur vier Tage spä­ter das ers­te selbst­pro­du­zier­te Buch des Klee­blatts um Gen­te, das sich ab Ende Juni des­sel­ben Jahrs nach Gen­tes dama­li­ger Ehe­frau, der Fuß­pfle­ge­rin Mer­ve Lowi­en, »Mer­ve Ver­lag« nen­nen soll­te. Der Titel sprach für die ableh­nen­de Hal­tung gegen­über der mar­xis­ti­schen Ortho­do­xie: Wie sol­len wir ›Das Kapi­tal‹ lesen? von Lou­is Alt­hus­ser, der Marx zu struk­tu­ra­li­sie­ren sich anschickte.

Damit lie­fer­te er bereits einen Vor­ge­schmack dar­auf, was der jun­ge, sich nach der 1975 mit der Ver­öf­fent­li­chung von Jac­ques Ran­ciè­res Wider den aka­de­mi­schen Mar­xis­mus schroff abge­bro­che­nen neo­mar­xis­ti­schen Früh­pha­se als­bald auf extrem kon­den­sier­te, hoch­theo­re­ti­sche Kurz­ab­hand­lun­gen spe­zia­li­sie­ren­de Ver­lag vor allem aus dem fran­zö­sisch­spra­chi­gen Aus­land impor­tie­ren sollte.

Der­weil schos­sen in den gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­ons­mü­den 1970er Jah­ren die Theo­rie­zir­kel, ‑zeit­schrif­ten und ‑ver­la­ge wie Pil­ze aus dem Boden. Und in den 1980ern griff eine brei­te intel­lek­tu­el­le Sze­ne den schon 1968 vom ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Les­lie Fied­ler (nach­ge­druckt aus­ge­rech­net von der sich kon­ser­va­tiv gerie­ren­den Christ & Welt) unter der Paro­le »Cross the bor­der, clo­se the gap!« (»Über­quert die Gren­ze, schließt den Gra­ben!«) zumin­dest für die Lite­ra­tur aus­ge­ru­fe­nen Tod der Moder­ne und die Her­auf­kunft der Post­mo­der­ne end­lich auf und trieb ihn phi­lo­so­phisch voran.

Im Mer­ve Ver­lag sind bis zum heu­ti­gen Tage bei­na­he 500 Bücher erschie­nen. Die Ver­lags­grün­der mit Peter Gen­te als uner­müd­lich suchen­dem und lesen­dem Zug­pferd brach­ten neben Schlüs­sel­wer­ken der auf­kom­men­den Sys­tem­theo­rie zahl­lo­se klei­ne Klas­si­ker von Struk­tu­ra­lis­mus und Post­struk­tu­ra­lis­mus deutsch­spra­chig her­aus – von Gil­les Deleu­zes und Félix Guat­ta­ris ver­spon­ne­nen Visio­nen Rhi­zom und Tau­send Pla­teaus über Jean Bau­dril­lards Ago­nie des Rea­len und Jean-Fran­çois Lyo­tards Das Patch­work der Min­der­hei­ten sowie Imma­te­ria­li­tät und Post­mo­der­ne bis hin zur Ästhe­tik des Ver­schwin­dens von Paul Viri­lio – und, ganz neben­bei, zum unschein­ba­ren, wenn auch hoch­ex­plo­si­ven Ad Carl Schmitt des früh weg- wei­sen­den Jacob Tau­bes, das im Hau­se der Ver­lags­buch­hand­lung von Antai­os ein Long­sel­ler ist, auch wenn sich Mer­ve der Zusam­men­ar­beit reni­tent verweigert.

Gen­te, der 2014 ver­starb, wur­de Zeu­ge, wie etli­che ganz ähn­lich aus­ge­rich­te­te Ver­la­ge hin­zu­tra­ten – allen vor­an der 1977 gegrün­de­te und allein dem Unor­tho­do­xen ver­pflich­te­te »ursprüng­li­che« Ver­lag Matthes & Seitz mit Sitz in Mün­chen, der mit sei­nem eigen­wil­li­gen Über­set­zer Gerd Berg­fleth (vgl. Sezes­si­on 71) etwa das »obs­zö­ne« Werk Geor­ges Batail­les in Deutsch­land bekannt­mach­te, ganz neben­bei auch Pierre Drieu la Rochel­le (vgl. Sezes­si­on 51) ver­leg­te und schließ­lich – nach Schlie­ßung und Neu­be­grün­dung – als Matthes & Seitz Ber­lin unter dem neu­en, inten­siv an Jean Bau­dril­lard geschul­ten Lei­ter Andre­as Röt­zer eine Art »Mer­ve 2.0« ‑Pro­gramm inklu­si­ve preis­ge­krön­ter Bel­le­tris­tik­schie­ne fährt. Dane­ben steht zusätz­lich etwa der Jac­ques Der­ri­da sowie Lyo­tard ver­pflich­te­te, 1985 gegrün­de­te und in Wien ansäs­si­ge Pas­sa­gen Verlag.

Das sich selbst als post­mo­dern begrei­fen­de oder als sol­ches apo­stro­phier­te Den­ken ist Rea­li­tät. Um mit der unse­li­gen Tra­di­ti­on des müßi­gen Sicht­rei­ben-Las­sens im Zei­ten­lauf zu bre­chen und min­des­tens einen siche­ren Stand zu gewin­nen, gebie­tet sich statt der selbst­ge­fäl­li­gen Wei­ge­rung, unbe­kann­tes und stel­len­wei­se (etwa bei Fou­cault und Batail­le) unap­pe­tit­li­ches Ter­rain zu betre­ten, der min­des­tens neu­gie­ri­ge Über­blick – etwa in Form der her­vor­ra­gen­den ein­füh­ren­den Dar­stel­lung, die der unver­ständ­li­cher­wei­se kaum bekann­te meta-post­mo­der­nis­ti­sche Phi­lo­soph Wolf­gang Welsch (Jg. 1946, gänz­lich ohne Diez-typi­sche Hyper­ven­ti­la­ti­on) mit Unse­re post­mo­der­ne Moder­ne 1987 vor­leg­te und damit kei­nen gerin­ge­ren als Armin Moh­ler dazu inspi­rier­te, sich in Cri­ticón an einer schmäh­lich unter­ge­gan­ge­nen Ana­ly­se der Post­mo­der­ne als para­do­xer­wei­se »genu­in rechts« zu versuchen.

Die blo­ße Reduk­ti­on der phi­lo­so­phi­schen Dis­kus­si­on auf Sprach­spie­le, Dis­kri­mi­nie­rungs­ge­schrei und Weg­be­rei­tung des Gen­de­ris­mus greift bei wei­tem zu kurz – anstel­le in einer Aus­weich­be­we­gung immer neue Aus­deu­tun­gen und begriff­li­che Neu­schöp­fun­gen vor­zu­neh­men, soll­te die Rech­te den kämp­fe­ri­schen Weg wäh­len, sich die okku­pier­te eige­ne Spra­che zurück­zu­er­obern! Wenn das ein Alex­an­der Dugin (vgl. Sezes­si­on 61) ver­mag, des­sen mes­sia­nisch ver­bräm­te »Vier­te Poli­ti­sche Theo­rie« wenig mehr ist als eine Melan­ge klas­sisch neu­rech­ter Denk­mus­ter mit apo­ka­lyp­ti­schen, rus­sisch-tra­di­tio­na­len und eben post­mo­der­nen Ver­satz­stü­cken, dann soll­te die deut­sche intel­lek­tu­el­le Rech­te schnellst­mög­lich auf­ho­len und sich in der Rüst­kam­mer eines Den­kens bedie­nen, das oft kon­fus, manch­mal absurd, immer aber auf­re­gend ist – und das sei­ne wesent­li­chen popu­lä­ren Ver­tre­ter à la Diez alle­mal nicht ver­stan­den haben.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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