Während man sich an vielen deutschen Universitäten von mindestens jedem fünften Studenten problemlos vorstellen kann, daß er im AStA engagiert sei und dort eine »kritische Meinung« vertrete, wirken die Studenten von Oxford in großer Mehrheit wie Lordsöhne oder zumindest wie romantische, weltverlorene Dichter. Die internationale diversity ist hier in der Tat außerordentlich groß: Aus aller Welt kommen Studenten, um hier zu lernen und zu forschen.
Der renommierte Debattierclub Oxford Union brüstet sich mit seiner ungeheuren diversity und seiner egalitären Auffassung: Nicht nur ehemalige Schüler von Eton und Harrow sind in den Chefposten vertreten – nein, ebenso Schüler der (nicht minder erstklassigen und steinreichen) Privatschulen von Westminster, St. Paul’s oder Winchester.
Ansonsten tritt die Vielfalt innerhalb der Universität nicht so klar zutage, wie man sich das als visionärer Student vielleicht wünschen würde. Möglicherweise verbergen viele der grüblerisch wirkenden, Barbourjacken tragenden weißen Studenten nur, daß sie in Wahrheit eine fluide sexuelle Identität besitzen, das Establishment scheiße finden und am liebsten die alten Buntglasfenster in der Hauptbibliothek kurz und klein schlügen, aber es ist doch überraschend, daß das Gesamtbild in den Bibliotheken und Colleges so wenig von Menschen, die offen und sichtbar zu solchen Einstellungen stehen, geprägt ist.
Die Oxford University Students Union – der AStA von Oxford – moniert schon seit vielen Jahren die Mißstände in dieser Hinsicht. Immer noch sind in vielen Societies Frauen unterrepräsentiert; immer noch leiden Mitglieder der LGBTQ-Community unter Diskriminierung und Stigmatisierung; immer noch werden black people als »anders« betrachtet; immer noch gibt es an vielen der (aus dem 13. Jahr- hundert stammenden) Gebäude keinen Zugang für Rollstuhlfahrer; immer noch weigern sich einige Dozenten und Studenten, ihr Redeverhalten zu gendern und beide Pronomina – he or she – zu verwenden; immer noch ist der Anteil der Studenten mit Migrationshintergrund zu gering; immer noch können sich viele Arbeiterkinder ein Studium in Oxford nicht leisten; immer noch hängen in manchen Colleges Kreuze und Marienbilder; immer noch existieren exklusive Societies, die in den uralten Weinkellern unter den Colleges ihre elitären Versammlungen abhalten … mit anderen Worten: Die Situation ist verheerend.
Das Schlimmste ist wohl, daß viele der Studenten das gar nicht zu bemerken scheinen (der Verblendungszusammenhang läßt grüßen!) – und weiterhin im academic gown zum Examen erscheinen, wo doch jeder vernünftige Visionär weiß, daß diese uniforme Kleidung ein Inbegriff von Hierarchie, Elite und Tradition und somit verabscheuenswürdig ist.
Die Students Union arbeitet also schon lange daran, das zu ändern. Nun wurde vor knapp zwei Wochen die Liberation Vision durchgesetzt, eine Art Ermächtigungsgesetz, das den Weltanschauungskanon der Union erneut feststellt, Kritik an den Statuten prinzipiell ausschließt und jede Rückrufung dieser »Vision« – die äußerst kontrovers diskutiert wurde – verhindert. Eine ganze Reihe von universitären Gruppen wird da- bei direkt angegriffen; hauptsächlich christliche Societies sollen in Zukunft auf diversen »Märkten der Möglichkeiten« keinen Stand mehr bekommen, und die Union verspricht, sich in jeder möglichen Weise für Rede- und Existenzverbote solcher Gruppen einzusetzen.
Auf der Homepage der Oxford Students for Life, einer abtreibungskritischen Organisation, die von der Liberation Vision stark betroffen ist, wird die Abschlußdiskussion über die Liberation Vision eindrücklich beschrieben. Kritische Stimmen ließ man nicht zu Wort kommen, das Programm wurde so schnell wie möglich durchgeboxt, Fragen wurden abgewürgt, und man erklärte, daß Verbesserungen und Veränderungen an der Vision nicht statthaft seien. Generell kennt die Students Union viele Mittel, der offenen Konfrontation mit mißliebigen Meinungen aus dem Weg zu gehen.
Wer innerhalb der Debatten in irgendeiner Weise die Ideologie in Frage stellt, wird mit beinahe systematischer Gewißheit der sexuellen Belästigung beschuldigt. Als im Winter letzten Jahres eine Diskussionsrunde der erwähnten Oxford Students for Life von einer feministischen Spezialabteilung der Students Union mit einstündigem Gebrüll gestört und verhindert wurde, gab es einen Rüffel von der Universität, die Students Union entschuldigte sich – um dann munter und ungehindert mit der Unterdrückung der Gruppe fortzufahren.
Die lokalen Wahlen vor einer Woche brachten einen eindeutigen Sieg für die Labour Party; die Liberal Democrats und die Green Party sind ebenfalls in den Stadtrat eingezogen. Die Konservativen haben nicht einen einzigen Sitz im City Council erhalten. Wer von den Leuten in altmodischen Samtkleidern und Leinenblusen, die mir täglich in der Hauptbibliothek begegnen, hat wohl für die Liberal Democrats gestimmt? Und wer unter diesen Studenten, die mit ihren scharfgeschnittenen hellen Gesichtern wie Darsteller aus dem Club der toten Dichter wirken und teilweise aussehen, als würden sie im nächsten Moment auf ihre Tische steigen und »O Captain! my Captain!« ausrufen, hat wohl die Liberation Vision befürwortet?
Die Antwort ist vermutlich: keiner. Die Wahlbeteiligung bei den lokalen Wahlen lag bei unter 40 Prozent. Und die Students Union ist so strukturiert, daß von jedem Universitätscollege nur wenige Delegierte ein Wahlrecht in Angelegenheiten wie der Liberation Vision besitzen. Und natürlich rekrutieren sich diese Delegierten aus jener Minderheit an bunthaarigen Typen, die man im Gesamtbild der Universität zu übersehen geneigt ist.
Am Tag des heiligen Georg, des Schutzpatrons von England, wurde in der katholischen Gemeindekirche der Stadt eines jener herrlich martialischen englischen Kirchenlieder gesungen. Eine Strophe daraus lautet: »The land of thy love is a desert / Its temples and altars are bare / The finger of death is upon it / The foot- prints of Satan are there.«
An trüben Tagen dominiert das Gefühl, daß die Stadt und die Tradition der Universität wie von innen heraus ausgehöhlt werden. Wie willig wird auch hier eine Ideologie akzeptiert, die die Fundamente dieses Ortes in jeder Hinsicht untergräbt und im Grunde lächerlich macht? Daß einer, der den ganzen Tag über in einem Betonbunker sitzt (wie das an vielen Universitäten ja der Fall ist), auf dumme Gedanken kommt, ist nicht besonders erstaunlich. Aber erziehen diese erhabenen Mauern hier nicht zu einer klareren und gesünderen Weltsicht? Viele Studenten lieben in der Tat noch – zumindest unbewußt – das Erbe jener toten weißen Männer, von dem sie Tag für Tag im Lernen und Leben zehren.
Aber es ist eben jene Minderheit, die von einem tiefen Ekel an diesem Erbe an- getrieben wird, die sich engagiert und mit Entschlossenheit an der Zerstörung der Tradition arbeitet. Vielleicht, so muß man sagen, hat das Denken, das hier in den letzten Jahrhunderten gepflegt wurde, sich selber ausgehöhlt. Nun erreichen wir nach langen Mühen das glorreiche Land der Freiheit – aber um welchen Preis?
Das ganz große Thema in den letzten Monaten ist die Sorge verschiedener Studentenorganisationen um die steigende Anzahl von »mental health issues« in der Studentenschaft. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Nummer von psychiatrischen Krankheitsfällen um das Zehnfache angestiegen. Rührt das womöglich von einer gewissen Überlastung, sich seine Identität immer wieder aufs neue zusammenbauen zu müssen? Oder von jener seltsamen Spannung zwischen Tradition und Ideologie? Im allgemeinen hatte Helmut Schmidt wahrscheinlich recht, wenn er empfahl, daß, wer Visionen hat, zum Arzt gehen sollte.