Ende November 2019 – Als der kleine Konvoi die Grenzstation erreicht, ist es plötzlich stockdunkel. Die Sonne – verschwunden hinter den Bergen des Libanon-Gebirges, das sich majestätisch zwischen der Hauptstadt Beirut und dem Grenzort Masnaa erhebt. Unser Wagen parkt am Straßenrand. Ein unauffälliger Kleinbus, etwas überfüllt. Nicht alle Sitze haben eine Rückenlehne. „Alman!“ frotzeln wir einem Delegationsteilnehmer lachend entgegen, der nach Anschnallgurten fragt.
Glaubte man der offiziösen Medienwelt, liegt er nun direkt vor uns, der Bürgerkrieg. Faßbomben, Artilleriehagel, Diktatur, Mord und Folter. Am Grenzübergang erinnert nichts an einen Krieg. Wenig Sicherheitspersonal ist zu sehen, die militärischen Strukturen wurden hier mittlerweile auf das notwendige Minimum reduziert. Auf der linken Spur staut sich der Verkehr. Es ist Feierabendzeit. Auffällig sind zahlreiche stark beladene PKW, auf deren Dächern sich Koffer und Matratzen stapeln, als kämen sie direkt aus einem neunziger Jahre Gastarbeiter-Sketch. Offenbar sind es Syrer, die mit Sack und Pack zurück in ihre Heimat zurückkehren. Soldaten sieht man kaum. Dafür herrscht eine fast beruhigende bürokratische Profanität, die eine gewisse Restanspannung nahezu vollständig verfliegen läßt.
Auch an die massiven Proteste im Libanon erinnert an diesem Montagnachmittag kaum etwas. Nur einmal passieren wir die Reste einiger verbrannter Mülltonnen, die wohl noch in der Nacht als Barrikaden in Brand gesetzt worden waren. Die Ereignisse im Libanon waren nur eine von unzähligen Unabwägbarkeiten, die der Reise ihren orientalischen Charme verliehen. Ein politischer GAU, wäre die Delegation im Beiruter Stau stecken geblieben, weil gewalttätige Demonstrationen das öffentliche Leben und die Transitrouten lahmgelegt hätten.
Am Abend vor dem Abflug: ein letztes Telefonat mit der syrischen Botschaft, deren freundlicher Mitarbeiter einen problemlosen Transfer versicherte. Tatsache. Bereits am Gate erfolgt die herzliche Abholung durch Mitarbeiter der syrischen Botschaft in Beirut.
Die Fahrt zur Grenze verläuft ostwärts, entlang slumähnlicher Gegenden ebenso wie an luxuriösen Häusern, vorbei an teuren Boutiquen und wilden Werkstätten. Ein buntes Riesenrad ragt über einen kleinen verlassenen Freizeitpark hinaus und rostet vor sich her. Die Grenzen zwischen normaler Metropole und favelaähnlichem Notstandsgebiet sind fließend. Stromkabel verlaufen am Rande der libanesischen Hauptstadt meist überirdisch. Wüster Kabelsalat zieht sich von Haus zu Haus, von Block zu Block und quer über die wellige Fahrbahn. Fast wie riesige Vogelnester prägen sie die Landschaft. Abgaswolken liegen über der Stadt, überhaupt ist die Luft merklich schlecht. Eilig haben wir es eigentlich nicht, aber der Fahrer gibt konsequent Vollgas.
Voraus ein ziviler Polizeiwagen. Die Beamten pressen unsere kleine Kolonne regelrecht durch den brutalen Stau. Sirene, Schimpfen durch den Lautsprecher, rufen und winken durch die geöffneten Fenster gibt den anderen Verkehrsteilnehmer zu verstehen, daß sie anhalten oder Platz machen sollen. Auch unser Fahrer lässt per Fernbedienung Sirenengeräusche über selbsteingebaute Außenlautsprecher ertönen. Im Radio spielt es abwechselnd westliche Mainstreamhits und arabische Volksmusik.
Nachdem wir uns aus dem Würgegriff des Beiruter Berufsverkehr befreit haben, rasen wir zu geräuschhaften arabischen Klängen in den Sonnenuntergang der Levante. Die obertonreichen Spaltklänge lassen die Fahrgeschwindigkeit gefühlt verdoppeln. 130 Km/h zeigt der Tacho, als wir uns nach rund anderthalb Stunden der Grenze nähern.
Am Rande der Autobahn erstrecken sich wilde Flüchtlingssiedlungen. Manche wohnen in behelfsmäßigen Behausungen, andere haben als Dach nur Plastiktüten, während nur wenige Meter nebenan neue Häuser für den Speckgürtel entstehen. Gegensätze prägen die ersten Eindrücke dieser uns Deutschen völlig fremden Welt, deren Bevölkerungsüberschuß dennoch mittlerweile in jede Busfahrt in der bundesrepublikanischen Provinz übergegriffen hat.
Der Fahrer schießt über die halbfertige Autobahn. Nur eine Fahrtrichtung ist geöffnet. Alle fahren auf den drei befahrbaren Spuren einfach aneinander vorbei. Absperrungen gibt es genau so wenig wie Fahrbahnmarkierungen. Wessen Ziel kurz vor der Grenze an dieser Autobahn liegt, der fährt einfach in die Ausfahrt der Gegenrichtung, mitten hindurch durch den Gegenverkehr. Welch furchtloses Volk, das bei dieser Verkehrssituation die Autobahn dennoch zu Fuß überquert. An und neben der Fahrbahn spielen Kinder, die interessiert den vorbeirasenden Autos hinterhergucken. Unseren Fahrer interessiert all das wenig. Bei Höchstgeschwindigkeit ist er vertieft in sein Handy, in nicht enden wollendes Versenden und Abhören von Sprachnachrichten bei WhatsApp und in Gespräche über das Funkgerät.
Die einsetzende Dunkelheit fühlt sich an, als lege sie sich fester über dieses Land, als über das unsrige in Deutschland. Nach wenigen Minuten bringt ein stämmiger Wachtmeister den Stapel Reisepässe zurück. Auf seinem Uniformärmel prangt der Zedernbaum. Im Schritttempo passieren wir den Checkpoint, an dem Soldaten lässig die Papiere der rein- und rausfahrenden Fahrzeuginsassen kontrollieren.
Hinter den Wachhäuschen prägen Handyläden, Restaurants, Duty-Free-Geschäfte und Tankstellen das Bild. Es sind moderne Tankstellen, die aussehen, als könnten sie so auch an einer deutschen Autobahn stehen. In gleißendem Neonlicht erhellte Tankstellenshops inklusive, in denen die Sonnenbrillen, Zeitschriften und Kaffeebecher ebenso ordentlich in den Regalen feilgeboten werden, wie am Rasthof Peppenhoven-West.
An einem großen Steinbogen hängen die ersten Bilder des Präsidenten Bashar al-Assad. Vor einem Verwaltungsgebäude der Behörden stehen bereits zahlreiche wichtig aussehende Personen vor dunklen Limousinen, die uns offenbar zu erwarten scheinen. Hinter den tadellosen Gebäuden in landestypischem Architekturstil ist bereits die Straße erkennbar, die sich bedrohlich mitten hinein in die Hügel fräst. Der unbeleuchtete Highway nach Damaskus, der mitten hinein führt in das Land, aus dem die deutschen Behörden jeden Bundesbürger zur sofortigen Ausreise auffordern. In der Regierungspropaganda ist dieses Land ein Biest; es zu bereisen – eine Provokation.
Es ist dies ein Skandal, mit dem man sich auch nach innen nicht nur Freunde macht. Monatelange Vorbereitung, Behördengänge, Bürokratie, stapelweise Antragspapiere, Fraktionsgezerre, Strategiefindung, Koordinierung, Feinplanung. Ein halbes Jahr intensiver Organisation unter größtmöglicher Geheimhaltung zieht nun scharf.
Das Biest, es liegt direkt vor uns in der Dunkelheit, die sich hinter der letzten Leuchtreklame über die bergige Wüste legt. Ein Beamter in schwarzem Anzug und Krawatte öffnet die Seitentür unseres Fahrzeugs, reicht die Hand hinein und lächelt freundlich: Welcome. Welcome to Syria!
Lotta Vorbeck
"Es ist dies ein Skandal, mit dem man sich auch nach innen nicht nur Freunde macht." - notiert John Hoewer
Offenbar ist's ein unverzeihliches Sakrileg, den BRD-Gartenzaun zu übersteigen, um den eigenen Blick mal auf die Dinge zu richten, von denen der Gärtner fortwährend erzählt.
"uE", das Kürzel für "unerlaubte Entfernung" stellte einst einen Militärstraftatsbestand dar.