Der Publizist Alexander Kluy hat ihm nun eine Biographie gewidmet. Leider: ein mangelhaftes Lesevergnügen.
Es ist interessant, welche Rolle der Therapeut Alfred Adler (1870- 1937) rund um den psychologischen Turn zu Zeiten der Jahrhundertwende spielte. Damals brachten zuvörderst Sigmund Freud (1865- 1939) und sein späterer Antagonist Carl Gustav Jung (1875- 1961, siehe Sezession 94) die Seelenkräfte als wirkmächtige Agenten des menschlichen Tuns und Lassens ins Spiel. Wir wissen: Freud gab den frühkindlichen Sexualtrieben das Primat, Jung rief die „Archetypen“ ins Leben.
Adler mit seiner „Individualpsychologie“ war letztlich – nach zunächst allseitiger Hofierung – bei beiden wenig gelitten. In den heute gängigen (kassenärztlich erstatten) psychotherapeutischen Maßnahmen hingegen dürften am ehesten in Adlers Erkenntnisse eine Rolle spielen.
Wer die 365 Seiten dieser mehr schlecht als recht geordneten Biographie (der große Rest ist „Zeittafel“ und „Anmerkungen“) durchgelesen hat, kennt zahlreiche Eckdaten und Anekdoten. Die elterlichen Adlers zogen innerhalb Wiens ruhelos fast jährlich um, man hielt gelegentlich Ziegen und Kaninchen im Untergeschoß der Wohnung. Über Vater Leopold Adler hören wir, er habe seinen Sohn dazu angehalten „stets kritisch zu sein und Menschen nach ihrem Verhalten zu beurteilen, nicht nach ihren Worten.“
Das ist sehr schön, klar! Erich Kästner faßte diese Weisheit ja wenig später ins Bonmot „Es gibt nichts Gutes – außer, man tut es.“ Leider fehlen zu Adler sen. die Quellenangaben. Das wäre nicht schlimm, wenn hier einer frei flottierend und souverän aufschriebe, was er ermittelt hat.
Nur: Hier ist ein Fundstück an andere geklebt. Dieses Buch umfaßt dreiunddreißig Kapitel. Jedes einzelne davon birst nur so von Endnoten – zum Teil sind es über achtzig. Zwischendrin gibt es recht jäh einen Exkurs über Wilhelm Dilthey: drei Seiten mit zweiundzwanzig Endnoten. Das ist der bleibende Eindruck: Hier wurde ein Zettelkasten an Zitaten und sonstigen Fundstücken von und über Adler ausgeschüttet und hernach notdürftig sortiert. Zitate sind dutzend- wenn nicht hundertfach eingefügt, ohne daß im Fließtext kenntlich gemacht würde, wer hier eigentlich seinen Senf abgab. Man muß mühsam in den Endnoten danach suchen.
Nicht, daß man hier nicht trotzdem manchen Fund machte! In fast jedem Haufen auf dieser Welt findet sich eine Menge „Interessantes“ – ohne Zweifel auch in diesem Gedanken- und Fundstellenwust zur frühen Psychologie! Die Diskurse zwischen den beiden eher kleinwüchsigen jüdischen Seelendoktoren Freud und Adler und dem Hünen C. G. Jung sind durchaus der Rede und Betrachtung wert.
Wie schrieb Freud, hier leider ohne Jahr, beschwichtigend an einen jüdischen Kollegen, der Jung kämpferisch begegnen wollte? „Sie stehen meiner intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher, während er als Christ und Pastorensohn nur gegen große innere Widerstände den Weg zu mir findet.(…) Ich hätte beinahe gesagt, dass erst Jungs Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine jüdische nationale Angelegenheit zu werden.“
Bereits 1913 konstatierte Freud über den einstigen guten Kollegen: „Reden wir deutsch. Er ist ein ekelhafter Mensch.“ Die Gemengelage wäre eine Fundgrube!
Daß ein großes Verlagshaus wie DVA hier keine ordnende, nachfragende, also lektorierende Hand aufgeboten hat, ist ein schweres Versäumnis. Das große Durcheinander an Jahreszahlen, Zusammenhängen und Bezügen (zahlreiche Sachlagen und Begebenheiten werden als „bekannt“ behandelt, obwohl sie erst dutzende Seiten später zur Sprache kommen) ist dabei nur das eine.
Ein ähnliches Lesehemmnis bereiten die ungezählten Sätze, die im skandalträchtigen BILD-Zeitungsstil als Ellipsen enden: „So müßig wie sinnlos.“ „Dabei buchstäblich leicht greifbar ist und zugänglich.“ „Und Ausstrahlung bis heute.“ „Die soziale Bezogenheit des Organismus.“
Es bleibt übrigens unklar, was Autor Kluy studiert hat. Normalerweise wird ein solcher Hinweis ja wenigstens auf der Umschlagklappe erwähnt. Kluy dürfte wenig vertraut sein mit einer akademischen Zitierweise. Mir ist ebenfalls nicht bekannt, welcher Landsmannschaft der Autor angehört. Sind es etwa Austriazismen, derer er sich gespreizt befleißigt? Kalmierung, ausöffnen, sistieren, etc.: Sagt man so?
Adler hat es gewiß nicht verdient, daß ich diese Biographie der Lächerlichkeit preisgebe. Allein, mir bleibt kaum anderes übrig. Adler hat als Psychopädagoge Wertvolles geliefert. Ihm verdanken wir unter anderem die Erkenntnis über den „Minderwertigkeitskomplex“ als Ursache für vielerlei Neurosen, die Bedeutung der Geschwisterreihung, die Ansicht, daß Aggression nichts genuin Dunkles/Dämonisches sei und über den „Sekundärgewinn“, den neurotisches Verhalten beinhaltet. Wer weiß schon, daß Karl Popper einst ehrenamtlich in den Adlerschen Erziehungsberatungsstellen wirkte?
Leider kommt der Biograph, statt dies alles zu einer ordentlichen Biographie zu fügen, nie wirklich zum Punkt. Was trieb ihn an, diese Arbeit zu verfassen? Was wollte er verstehen, was sollen wir lernen? Kluy überschreibt die Kapitel gar mit Spruchweisheiten: „Der Mensch ist ein zu Meinungsverschiedenheiten neigendes Lebewesen“ (Odo Marquard) und „Der Mensch ist ein biologisches Lebewesen mit einer komplexen Psyche.“ Prost, Mahlzeit.
Alexander Kluy: Alfred Adler. Die Vermessung der menschlichen Psyche, Biographie, München: DVA 2019, 429 S., 28 €.
Maiordomus
Über Alfred Adler, den Erfinder des "Minderwertigkeitskomplexes", womit zum Beispiel politisch eine Menge von individuellen und kollektiven "Psychosen" erklärt werden kann, zirkulieren unendlich viele Banalitäten. Zum Beispiel bei Werner Stangl, einem Autor von "Arbeitsblättern" : "Er (Adler MD) wurde Arzt und begriff den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist, und gilt somit als einer der Pioniere der Psychosomatik." Einfach lächerlich, wenn man nur schon bedenkt, wie Paracelsus bei der Beschreibung des Todes des Geisteskranken, beschrieben in St. Gallen 1531, genau diese drei Begriffe geschildert und korrekt für das Verständnis des Phänomens angewandt hat, erst noch auf viel älteren zum Teil antiken Grundlagen. Die "Psychosomatik" war insofern schon bei Hippokrates und Galen "begründet", erst recht bei den ältesten Theorien über den Krebs. Was Kositza hier nun als lesekompetente, an der Leserschaft orientierte und meines Erachtens immer "brauchbare" aufmerksame Buchkritikerin anführt, beschlägt eine uralte deutsche Akademikerkrankheit: mit Anmerkungsbelegen um sich werfen, weil man letztlich im eigenen Geist keine erzählbare klare Synthese geschafft hat. Ob es wirklich so schlimm sei, wie Kositza dartut, kann man dann freilich erst durch eigene Lektüre entweder bestätigen oder falsifizieren. Ich kann mir aber vorstellen, dass sich das Buch sicher nicht als leserfreundliche Biographie eignet, aber für den Verfasser einer solchen sich noch als nützlich erweisen könnte. Was Paracelsus betrifft, wurde eine zwar mehrfach preisgekrönte Biographie viel gelobt, jedoch selten zitiert, weil allzu narrativ. Es gab jedoch Leserinnen und Leser, die sich zumal darüber ärgerten, als die Hauptperson erst im 13. Kapitel geboren wird. Es ist so eine Sache mit den Biographien. Zu den besten Autoren gehörten antike Meister wie Sueton oder bei Heiligengeschichten die Verfasser der "Legenda aurea". Wirklich einprägsam, klassisch, aber natürlich holzschnittartig. Kritische Rückfragen zu solchen Darstellungen sind unbedingt erforderlich. Unter den Mozart-Biographien scheint mir bei allen Einschränkungen immer noch diejenige von Wolfgang Hildesheimer ein Meisterwerk.