150. Geburtstag von Alfred Adler

Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, beginge heute seinen 150. Geburtstag.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Der Publi­zist Alex­an­der Kluy hat ihm nun eine Bio­gra­phie gewid­met. Lei­der: ein man­gel­haf­tes Lesevergnügen.

Es ist inter­es­sant, wel­che Rol­le der The­ra­peut Alfred Adler (1870- 1937) rund um den psy­cho­lo­gi­schen Turn zu Zei­ten der Jahr­hun­dert­wen­de spiel­te. Damals brach­ten zuvör­derst Sig­mund Freud (1865- 1939) und sein spä­te­rer Ant­ago­nist Carl Gus­tav Jung (1875- 1961, sie­he Sezes­si­on 94) die See­len­kräf­te als wirk­mäch­ti­ge Agen­ten des mensch­li­chen Tuns und Las­sens ins Spiel. Wir wis­sen: Freud gab den früh­kind­li­chen Sexu­al­trie­ben das Pri­mat, Jung rief die „Arche­ty­pen“ ins Leben.

Adler mit sei­ner „Indi­vi­du­al­psy­cho­lo­gie“ war letzt­lich – nach zunächst all­sei­ti­ger Hofie­rung – bei bei­den wenig gelit­ten. In den heu­te gän­gi­gen (kas­sen­ärzt­lich erstat­ten) psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men hin­ge­gen dürf­ten am ehes­ten in Adlers Erkennt­nis­se eine Rol­le spielen.

Wer die 365 Sei­ten die­ser mehr schlecht als recht geord­ne­ten Bio­gra­phie (der gro­ße Rest ist „Zeit­ta­fel“ und „Anmer­kun­gen“) durch­ge­le­sen hat, kennt zahl­rei­che Eck­da­ten und Anek­do­ten. Die elter­li­chen Adlers zogen inner­halb Wiens ruhe­los fast jähr­lich um, man hielt gele­gent­lich Zie­gen und Kanin­chen im Unter­ge­schoß der Woh­nung. Über Vater Leo­pold Adler hören wir, er habe sei­nen Sohn dazu ange­hal­ten „stets kri­tisch zu sein und Men­schen nach ihrem Ver­hal­ten zu beur­tei­len, nicht nach ihren Worten.“

Das ist sehr schön, klar! Erich Käst­ner faß­te die­se Weis­heit ja wenig spä­ter ins Bon­mot „Es gibt nichts Gutes – außer, man tut es.“ Lei­der feh­len zu Adler sen. die Quel­len­an­ga­ben. Das wäre nicht schlimm, wenn hier einer frei flot­tie­rend und sou­ve­rän auf­schrie­be, was er ermit­telt hat.

Nur: Hier ist ein Fund­stück an ande­re geklebt. Die­ses Buch umfaßt drei­und­drei­ßig Kapi­tel. Jedes ein­zel­ne davon birst nur so von End­no­ten – zum Teil sind es über acht­zig. Zwi­schen­drin gibt es recht jäh einen Exkurs über Wil­helm Dil­they: drei Sei­ten mit zwei­und­zwan­zig End­no­ten. Das ist der blei­ben­de Ein­druck: Hier wur­de ein Zet­tel­kas­ten an Zita­ten und sons­ti­gen Fund­stü­cken von und über Adler aus­ge­schüt­tet und her­nach not­dürf­tig sor­tiert. Zita­te sind dut­zend- wenn nicht hun­dert­fach ein­ge­fügt, ohne daß im Fließ­text kennt­lich gemacht wür­de, wer hier eigent­lich sei­nen Senf abgab. Man muß müh­sam in den End­no­ten danach suchen.

Nicht, daß man hier nicht trotz­dem man­chen Fund mach­te! In fast jedem Hau­fen auf die­ser Welt fin­det sich eine Men­ge „Inter­es­san­tes“ – ohne Zwei­fel auch in die­sem Gedan­ken- und Fund­stel­len­wust zur frü­hen Psy­cho­lo­gie! Die Dis­kur­se zwi­schen den bei­den eher klein­wüch­si­gen jüdi­schen See­len­dok­to­ren Freud und Adler und dem Hünen C. G. Jung sind durch­aus der Rede und Betrach­tung wert.

Wie schrieb Freud, hier lei­der ohne Jahr, beschwich­ti­gend an einen jüdi­schen Kol­le­gen, der Jung kämp­fe­risch begeg­nen woll­te? „Sie ste­hen mei­ner intel­lek­tu­el­len Kon­sti­tu­ti­on durch Ras­sen­ver­wandt­schaft näher, wäh­rend er als Christ und Pas­to­ren­sohn nur gegen gro­ße inne­re Wider­stän­de den Weg zu mir fin­det.(…) Ich hät­te bei­na­he gesagt, dass erst Jungs Auf­tre­ten die Psy­cho­ana­ly­se der Gefahr ent­zo­gen hat, eine jüdi­sche natio­na­le Ange­le­gen­heit zu werden.“

Bereits 1913 kon­sta­tier­te Freud über den eins­ti­gen guten Kol­le­gen: „Reden wir deutsch. Er ist ein ekel­haf­ter Mensch.“ Die Gemenge­la­ge wäre eine Fundgrube!

Daß ein gro­ßes Ver­lags­haus wie DVA hier kei­ne ord­nen­de, nach­fra­gen­de, also lek­to­rie­ren­de Hand auf­ge­bo­ten hat, ist ein schwe­res Ver­säum­nis. Das gro­ße Durch­ein­an­der an Jah­res­zah­len, Zusam­men­hän­gen und Bezü­gen (zahl­rei­che Sach­la­gen und Bege­ben­hei­ten wer­den als „bekannt“ behan­delt, obwohl sie erst dut­zen­de Sei­ten spä­ter zur Spra­che kom­men) ist dabei nur das eine.

Ein ähn­li­ches Lese­hemm­nis berei­ten die unge­zähl­ten Sät­ze, die im skan­dal­träch­ti­gen BILD-Zei­tungs­stil als Ellip­sen enden: „So müßig wie sinn­los.“ „Dabei buch­stäb­lich leicht greif­bar ist und zugäng­lich.“ „Und Aus­strah­lung bis heu­te.“ „Die sozia­le Bezo­gen­heit des Organismus.“

Es bleibt übri­gens unklar, was Autor Kluy stu­diert hat. Nor­ma­ler­wei­se wird ein sol­cher Hin­weis ja wenigs­tens auf der Umschlag­klap­pe erwähnt. Kluy dürf­te wenig ver­traut sein mit einer aka­de­mi­schen Zitier­wei­se. Mir ist eben­falls nicht bekannt, wel­cher Lands­mann­schaft der Autor ange­hört. Sind es etwa Aus­tria­zis­men, derer er sich gespreizt beflei­ßigt? Kal­mie­rung, aus­öff­nen, sis­tie­ren, etc.: Sagt man so?

Adler hat es gewiß nicht ver­dient, daß ich die­se Bio­gra­phie der Lächer­lich­keit preis­ge­be. Allein, mir bleibt kaum ande­res übrig. Adler hat als Psy­cho­päd­ago­ge Wert­vol­les gelie­fert. Ihm ver­dan­ken wir unter ande­rem die Erkennt­nis über den „Min­der­wer­tig­keits­kom­plex“ als Ursa­che für vie­ler­lei Neu­ro­sen, die Bedeu­tung der Geschwis­ter­rei­hung, die Ansicht, daß Aggres­si­on nichts genu­in Dunkles/Dämonisches sei und über den „Sekun­där­ge­winn“, den neu­ro­ti­sches Ver­hal­ten beinhal­tet. Wer weiß schon, daß Karl Pop­per einst ehren­amt­lich in den Adler­schen Erzie­hungs­be­ra­tungs­stel­len wirkte?

Lei­der kommt der Bio­graph, statt dies alles zu einer ordent­li­chen Bio­gra­phie zu fügen, nie wirk­lich zum Punkt. Was trieb ihn an, die­se Arbeit zu ver­fas­sen? Was woll­te er ver­ste­hen, was sol­len wir ler­nen? Kluy über­schreibt die Kapi­tel gar mit Spruch­weis­hei­ten: „Der Mensch ist ein zu Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten nei­gen­des Lebe­we­sen“ (Odo Mar­quard) und „Der Mensch ist ein bio­lo­gi­sches Lebe­we­sen mit einer kom­ple­xen Psy­che.“ Prost, Mahlzeit.

Alex­an­der Kluy: Alfred Adler. Die Ver­mes­sung der mensch­li­chen Psy­che, Bio­gra­phie, Mün­chen: DVA 2019, 429 S., 28 €.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (17)

Maiordomus

8. Februar 2020 08:44

Über Alfred Adler, den Erfinder des "Minderwertigkeitskomplexes", womit zum Beispiel politisch eine Menge von individuellen und kollektiven "Psychosen" erklärt werden kann, zirkulieren unendlich viele Banalitäten. Zum Beispiel bei Werner Stangl, einem Autor von "Arbeitsblättern" : "Er (Adler MD) wurde Arzt und begriff den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist, und gilt somit als einer der Pioniere der Psychosomatik." Einfach lächerlich, wenn man nur schon bedenkt, wie Paracelsus bei der Beschreibung des Todes des Geisteskranken, beschrieben in St. Gallen 1531, genau diese drei Begriffe geschildert und korrekt für das Verständnis des Phänomens angewandt hat, erst noch auf viel älteren zum Teil antiken Grundlagen. Die "Psychosomatik" war insofern schon bei Hippokrates und Galen "begründet", erst recht bei den ältesten Theorien über den Krebs. Was Kositza hier nun als lesekompetente, an der Leserschaft orientierte und meines Erachtens immer "brauchbare" aufmerksame Buchkritikerin anführt, beschlägt eine uralte deutsche Akademikerkrankheit: mit Anmerkungsbelegen um sich werfen, weil man letztlich im eigenen Geist keine erzählbare klare Synthese geschafft hat. Ob es wirklich so schlimm sei, wie Kositza dartut, kann man dann freilich erst durch eigene Lektüre entweder bestätigen oder falsifizieren. Ich kann mir aber vorstellen, dass sich das Buch sicher nicht als leserfreundliche Biographie eignet, aber für den Verfasser einer solchen sich noch als nützlich erweisen könnte. Was Paracelsus betrifft, wurde eine zwar mehrfach preisgekrönte Biographie viel gelobt, jedoch selten zitiert, weil allzu narrativ. Es gab jedoch Leserinnen und Leser, die sich zumal darüber ärgerten, als die Hauptperson erst im 13. Kapitel geboren wird. Es ist so eine Sache mit den Biographien. Zu den besten Autoren gehörten antike Meister wie Sueton oder bei Heiligengeschichten die Verfasser der "Legenda aurea". Wirklich einprägsam, klassisch, aber natürlich holzschnittartig. Kritische Rückfragen zu solchen Darstellungen sind unbedingt erforderlich. Unter den Mozart-Biographien scheint mir bei allen Einschränkungen immer noch diejenige von Wolfgang Hildesheimer ein Meisterwerk.

buckliger versager

8. Februar 2020 10:25

Adler? Warum?

Zuerst Gómez Dávila (leider hier nur auf Englisch vorliegend):

"By believing that the wax figures fabricated
by psychology are alive, man has been gradually losing his knowledge of man."

"Sociologists, psychologists, psychiatrists, are experts in generalities.
When confrontedy by the bull’s horns of a concrete case, they all look like Anglo-Saxon bullfighters."

"Modern psychology renounced introspection, not so much to obtain more exact results as to obtain less disquieting results."

"Ever since Wundt, one of the classic places of 'disguised unemployment' is the experimental psychology laboratory."

"The psychological study of conversions only produces flowers of rhetoric.
God’s ways are secret."

"A sentiment is not sincere unless its manifestations deceive the professional psychologist."

"Systematic reductions to single terms (pleasure and pain, self-interest, economics, sex, etc.) fabricate likenesses of intelligibility that seduce the ignorant"

Usw. usf.

"Nichts genuin Dunkles/Dämonisches": das konnte der Adler nun wirklich nicht setzen, da ohne Gott -- waren ja alles Atheisten -- gut und böse ihre Bedeutung verlieren (Matthäus 19:17

Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. )

Ja, selbst V. E. Frankl hat Adlers plumpe "Lebensaufgaben" in Zweifel gezogen. Aus Manfred Adler: Vom Sinn und Ziel unseres Lebens:

„Zu mir wird ein etwa 60-jähriger Mann gebracht, der an einem Defekt- und Endzustand nach Schizophrenie leidet. Er hört Stimmen, halluziniert also akustisch, ist autistisch, tut den ganzen Tag nichts anderes als Papier zu zerreißen und führt solcherart ein scheinbar ganz und gar sinnloses Leben. Wollten wir uns an die Einteilung der Lebensaufgaben nach Alfred Adler halten, so erfüllt unser Patient – dieser ‚Idiot‘, wie er genannt wird – keine einzige der Lebensaufgaben: einer Arbeit geht er nicht nach, von der Gemeinschaft ist er soviel wie ausgeschlossen und das Geschlechtsleben, von Liebe und Ehe nicht zu sprechen, ist ihm versagt. Und dennoch: Welch eigenartiger, merkwürdiger Charme geht von diesem Menschen aus, vom Kern seiner Menschlichkeit, die von der Psychose unberührt geblieben ist: vor uns steht ein Grandseignur! Aus dem Gespräch ergibt sich, daß er mitunter jähzornig aufbraust, aber im letzten Moment sich zu beherrschen imstande ist. Da geschieht es, daß ich ihn von ungefähr frage: ‚Wem zuliebe beherrschen Sie sich dann doch?‘ und er antwortet mir: ‚Gott zuliebe …‘ Und da fallen mir die Worte von Kierkegaard ein: ‚Selbst wenn der Wahnsinn mir das Narrenkleid vor die Augen hielte — ich kann meine Seele noch erretten: wenn meine Liebe zu Gott in mir siegt.‘“

Wozu braucht man auch Psychotherapie und ähnliches, wenn man Glauben hat? Selbst "muflax" (Stephan Dorn; junger, unreifer atheistischer Blogger) kam zur Erkenntnis, daß wohl nichts besser gegen Depression hülfe, als Psychologen durch Priester zu ersetzen, da in religiösen Gemeinden weniger Psychosen, Depression und dergleichen auftreten.

Und Jung war in der Tat ein ekelhafter Mensch; ein "evil genius" höchstens. Siehe Bruce Charlton: The Genius Famine (kostenlos auf blogspot lesbar). Jung war sexbesessen und geil und nutzte seine Stellung hierfür aus. Selbst wenn er, nach Prof. Dr. Dr. Georg Huntemann (u. a. "Der Aufstand der Schamlosen", "Autorität oder Chaos") eher mit einem christlichen Welt- und Menschenbild vereinbar sei -- er nennt die Schrift "H. Schar: Religion und Seele in der Psychologie C. G. Jungs" --, ist mir offen ausgelebte Geilheit zuwider (daher ich nun auch Rudolf Borchardt verachte, nachdem man nun weiß, daß er allen Ernstes einen fast tausendseitigen pornographischen Schundroman mit über fünfzig [!] verfasste).
(Freud war natürlich nicht viel besser; seine Frau hätte Freuds Arbeit einfach als Pornographie bezeichnet, wäre er nicht ihr Gatte gewesen).

(Was soll auch die Abwertung von Körpergrößen? Habe mir meine Luschengenetik nicht ausgesucht und bin froh, wenn ich tot bin und mein "Stamm" mit mir ausstirbt. Den Dreck weitergeben, der meine Genetik ist, also das braucht's echt nicht. Bin ja nicht umsonst Eugenikbefürworter.)

Gómez Dávilas einziges Thema ist, nach einer Glosse, der Stolz; nicht umsonst eine der größten, wenn nicht der größten Sünde im Christentum. Staretz Silouan: „learn to be humble“, „keep thy mind in hell, and despair not“. Dann gäbe es auch weniger "Neurosen" und ähnliches.

Noch zum aktuellen Heft: da wird in "Es war einmal … ein Leseland" so getan, als wären Maschinenbau (und Medizin? Wieso?) der absolute Intelligenzbeweis. Der mittlere IQ der Absolventen wird wohl recht hoch sein, allerdings ist der verbale IQ der "Philosophen" (nach US-Daten, Mediziner nicht dabei, da dort gesondert getestet) am höchsten, und auch der quantitive über dem der Studenten von anderen nicht-mathmatischen Fächern.

Daher die Mathenote zwar stark mit dem IQ korreliert, allerdings Nietzsche dieser wegen sein Reifezeugnis nicht bekommen hätte, wenn sein Latein- und Griechischlehrer sich nicht für ihn eingestzt hätte (bester Schüler, den dieser je hatte).

Jedenfalls bringt einem das Lesen von Klassikern und Hochliteratur wenig, jedenfalls wirtschaftlich, und heute dreht sich ja fast alles um Geld -- und Sex. Zeichen des Niedergangs. Die Sexualität hat -- neben Gómez Dávila -- Andy Nowicki besonders schön abgewatscht, vor allem in seinen "Confessions of a Would-Be Wanker".

(Für Gómez Dàvila eher eine Strafe, für Nowicki ist Sex im Grunde " wicked. Beide waren bzw. sind Katholiken.)

(Nebenbei: "unser" Georg Immanuel Nagel hat te vor einiger Zeit eine [wohlwollende] Videoantwort auf Nowickis Kritik des Films Club der toten Dichter aufgenommen.)

Nowicki ist auch ein gutes Beispiel dafür, daß Sprachbegabung und Belesenheit heute wenig gelten, denn daß er -- sein Vater Stephen Nowicki ist Psychologie-Professor -- ein "low-status male" ist, kann man kaum glauben. Doch so ist's leider, und deshalb trennte sich seine Frau nun von ihm, wie er im neuesten Werk, A Final Solution to The Incel Problem, nicht ohne Scham gestehen muß (er sieht sich, wohl ein wenig humorvoll, als "born-again incel").

Daher es zwar schön und gut ist, Hochliteratur durchzunehmen -- Lesen ist neben meinem christlichen Glauben das einzige, das mich noch auf Erden hält --, man jedoch so ehrlich sein sollte und zugeben, daß man Homer und Vergil im Original lesen könnte -- und trotzdem unter der Brücke zu schlafen, oder wenigstens von Hartz IV zu leben hätte.

Sie sehen ja selbst, was für Trottel heute Bücher schreiben (das "Fitness-Buch", das auch rezensiert wurde), und wie plump bereits die Überschriften ("Sex haben" -- ernsthaft jetzt? Mir kommt's da schon hoch.)

Wie Spengler, in seinen persönlichen Aufzeichnungen, bereits bemerkte: Es ist keine Lust, heute zu leben.

Laurenz

8. Februar 2020 13:16

@Maiordomus .... Sie können Sich Einzelheiten gut merken, hier sind sie auch angebracht, und Ihr Beitrag ist interessant zu lesen. Es gibt viele gute Therapie-Formen, die Psycho-Analyse ist eher als langwierig, teuer und wenig effizient zu erachten.
Was mich tatsächlich am Artikel wunderte, ist dieses Zitat- Über Vater Leopold Adler hören wir, er habe seinen Sohn dazu angehalten „stets kritisch zu sein und Menschen nach ihrem Verhalten zu beurteilen, nicht nach ihren Worten.“
Das ist sehr schön, klar! Erich Kästner faßte diese Weisheit ja wenig später ins Bonmot „Es gibt nichts Gutes – außer, man tut es.“ -Zitatende

Ich kann mich täuschen, aber das war für mich zumindest Bibel-Inhalt, Johannes oder Matthäus, wenn ich mich recht erinnere ...
Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen.
In meiner Lebenserfahrung trifft das mehrheitlich auf Frauen zu, was aber auch daran liegen kann, daß es im Umgang mit Männern keine tatsächliche Rolle spielt.

Ratwolf

8. Februar 2020 14:15

Schade um die Zeit und die Mühe. Das Projekt scheint völlig aus den Fugen geraten zu sein.

Der Verlag DVA und der Autor Alexander Kluy sind die Falschen für eine Arbeit mit 429 Seiten und wissenschaftlichen Anspruch.

Beide sind bekannt für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen im Stile "psychologie heute" mit der Tendenz zu Alltagswahrheiten im Stile von Artikeln der Frauenzeitschrift "Brigitte".

Das soll diesen Bereich nicht abwerten, aber 429 Seiten und ein Berg von offensichtlich schlechten Quellenangaben sind zu viel für ein unterhaltsames Buch über Adler.

Vielleicht sollte man das Buch auf die besten Anekdote zusammenstreichen und unterhaltsam gestalten oder man stellt die Rechergearbeit von Kluy einem anderen Autor für die Veröffentlichung in einem wissenschaftlichen Verlag zur Verfügung.

Der Verdienst von DVA, Kluy und Frau Ellen Kositza ist es, den Focus auf diesen Psychologen gesetzt zu haben.

Seine Vorstellung von Freiheit in "Psychologie" bedient ein Versprechen der Aufklärung. Denn wie soll jemand den Kantschen Imperativ bedienen, wenn er sich nicht über sich selber im klaren ist?

Zudem macht es wenig Sinn, den "gestirnten Himmel über sich" durch einen abgöttisch verehrten Psychotherapeuten zu ersetzen.

Dem Patienten einen Werkzeugkasten in die Hand zu geben, auf das er sich quasi selber in voller Freiheit aus den Sumpf zu hiefen in der Lage ist, dass dürfte etwas sein, was den "allgemein Herrschenden" wenig gefallen dürfte.

So hat es denn dann wohl auch den "speziell Herrschenden", wie Freud & Jünger nicht gefallen, was Alfred Adler da final anstrebte. Es bedeutet Macht- und Bedeutungsverlust.

In diesem Rahmen sind auch die Anwürfe gegen Joel La Bruyère (Sekte, etc) oder die paranoiden Kommentare gegen Herrn Kubischeck (Lesen? Der will doch nur Geld verdienen) zu verstehen. Zahlreiche andere Innovatoren für die menschliche Freiheit haben sich solchen Angriffen stellen müssen, wenn es um den Machtverlust der "Herrschenden" geht.

Phil

8. Februar 2020 14:38

Ich mag als Psychologen Jung – von ihm habe ich u.a. gelesen "Zivilisation im Übergang"– und Dostojewski, aber Adler erscheint mir nicht unwichtig, gerade in pädagogischen Fragen.
Freue mich auf die neue Sezession "Lektüren".

Maiordomus

8. Februar 2020 16:42

@Laurenz. Wegen Kritik an anderer Stelle möchte ich Ihnen wie früher schon mal bestätigen, dass es von Ihnen immer wieder mal Beiträge gibt, die ihm wohltuenden Sinn "common sense" ausdrücken.

Laurenz

8. Februar 2020 17:42

Ab vom Thema ... Programmhinweis auf ARTE, 20:15 Uhr https://www.tvspielfilm.de/tv-programm/sendung/europa-wiege-der-menschheit,5e25da758189650c09152ecf.html

quarz

8. Februar 2020 17:59

@Laurenz

"Es gibt viele gute Therapie-Formen, die Psycho-Analyse ist eher als langwierig, teuer und wenig effizient zu erachten."

Vor allem ist sie in mehr oder weniger allen ihren Ausformungen theoretisch ruiniert, weil sie sich von der Fundamentalkritik Poppers und Grünbaums, der sie nicht viel mehr als Ausweichmanöver entgegensetzen konnte, nie wieder erholt hat. In der Sache ist am ehesten noch bei Jung was zu retten. Der Rest dürfte wissenschaftlich passé und nur noch von kulturgeschichtlichem Interesse sein.

Maiordomus

9. Februar 2020 07:24

@quarz. Ihre Meinung von Carl Gustav Jung in Ehren, aber auch dieser bedeutende Mann gehört, ebenfalls in Ehren, mit einem respektablen Platz ins Museum der Medizin, etwa in die Linie von Franz Anton Messmer, der auf seine Weise auch bereits ein bedeutender Psycho-Analytiker war. Im Sinne von Popper ist Jung wohl kaum wissenschaftlicher mit seinen auf Analogiedenken beruhenden Bildbegriffen, als es die genialischen Medizin-Visionäre Franz Anton Messmer, Samuel Hahnemann und Theophrastus von Hohenheim schon längst waren. Noch phantasievoll ein Aufsatz Jungs in einer parapsychologischen Zeitschrift vom 1950, womit er eine paranormale Ernährung (jenseits unserer herkömmlichen, von Paracelsus "adamitisch" genannten Nahrungsaufnahme) des Schweizer Landesheiligen nicht ausschloss. Mit einer solchen phantasievollen Theorie hat Paracelsus immerhin um 1530 das Prinzip der Mundverdauung entdeckt. Es bleibt aber dabei, dass zum Beispiel die visionäre Vorstellung einer "Ernährung durch die Augen" eher eine esoterische als eine wissenschaftliche Theorie ist. Dabei glaube ich durchaus, dass Carl Gustav Jung geistesgeschichtlich unweit etwa einem Rudolf Steiner zu sehen ist, was als Orientierung alles andere als Sektenniveau ist und vom erkenntnistheoretischen Niveau etwa ähnlich informativ wie die besseren Marxisten, also im Sinn eines "hölzernen Eisens" eine "wissenschaftliche Weltanschauung". Mit Wissenschaft im nominalistischen Sinn der gestrengen Logiker etwa im Umfeld der Frege, Scholz, Popper, Eccles, Heisenberg, Tarski, Quine, Thomas S. Kuhn oder wie sie alle heissen stehen diese Richtungen Wand an Wand, nur dass diese Wand keine Tür hat. Immerhin scheint mir, worauf schon Popper verwiesen hat, der reine Positivismus keine ausreichende Grundlage der Wissenschaft. Insofern wird man auch in Zukunft selbst in wissenschaftlichen Aufsätzen dann und wann mal Carl Gustav Jung zitieren können, zum Beispiel - mit Vorsicht zu gebrauchen - seine Vorstellung vom "kollektiven Unbewussten" oder, durchaus von phänomenologischem Rang, seine Typenlehre.

quarz

9. Februar 2020 13:55

@Maiordomus

Wenn ich schreibe, dass bei Jung "noch am ehesten was zu retten" sei, dann denke ich in erster Linie an neuere Forschungsresultate aus der Evolutionspsychologie, die in einem gewissen Einklang mit manchen strukturellen Gegebenheiten in Jungs Auffassung eines kollektiven Unbewussten stehen.

Diese Erkenntnisse konnte Popper zeitbedingt in seiner Kritik noch nicht berücksichtigen (wenn auch andere Kritikpunkte davon unberührt sind) und Grünbaum hat, soviel ich weiß, nach der Zeit seiner prominenten Auseinandersetzung mit der (primär Freudschen) Psychoanalyse die Sache nicht weiter im Lichte neuerer Entwicklungen verfolgt. Als ich ihn vor gut 15 Jahren sich diesbezüglich äußern hörte, hatte ich jedenfalls nicht den Eindruck, dass er seine Gedanken zum Thema weiter entwickelt hat.

Übrigens: auch der derzeit als Popstar der Psychologie gehandelte Jordan Peterson ist einerseits ein durchaus szientistisch orientierter Denker, zugleich aber ein glühender Jung-Fan.

Phil

9. Februar 2020 15:32

Wie szientistisch kann denn Seelenforschung überhaupt sein?

(Gewiss übernahmen Priester früher die Funktion heutiger Psychiater).

Maiordomus

9. Februar 2020 20:03

@quarz. Danke für diesen guten motivierenden Austausch. Man sollte diese Themenfelder nicht unterschätzen. Sie reichen oft weiter als tagespolitische Einschätzungen.

Maiordomus

9. Februar 2020 21:51

@Phil. Damit Sie mich nicht falsch verstehen. Mit dem grossartigen ausserzeitgeisten Arzt Joachim Bodamer, dessen Zeit die Fünfziger, Sechziger und vielleicht Siebziger-Jahre waren ("Sind wir überhaupt noch Menschen?"). teile ich die Meinung, dass unter nicht-szientischen Gesichtspunkten Jean Paul Friedrich Richter, genannt Jean Paul, der vielleicht fruchtbarste und tiefsinnigste deutsche Psychologe war. Selber schrieb sich der späte Friedrich Nietzsche diesen Rang zu.

PS. Bodamer war nicht ganz das Gegenteil von Christa Mewes, aber frei von deren missionarisch-geschwätzigen Zügen als "Psychagogin", fast hätte ich gesagt Demagogin.

RMH

10. Februar 2020 08:29

"Man sollte diese Themenfelder nicht unterschätzen."

Zumal mit der Entwicklung/Entdeckung/Beschreibung dessen, was man unter Tiefenpsychologie zusammenfasst, immer auch ein dunkler Weg des Versuchs der Instrumentalisierung, des Missbrauchs, der Steuerung und Kontrolle von Menschen etc. verbunden ist. Sei es recht banal zu Marketinggründen oder dann schon noch gravierender im Politischen, im Militärischen und bei Geheimdiensten oder sei es aktueller in der gesamten "Selbstoptimierungs"- "Trainer"- und "Coaching" Welle ...

In den aktuellen therapeutischen Ansätzen der Psychologie und Psychiatrie scheint die Tiefenpsychologie aus den Linien Freud, Jung, Adler, Reich hingegen kaum bis gar keine Rolle (mehr) zu spielen. Da wird eher medikamentös behandelt und therapeutisch die Verhaltenstherapie gepflegt (so mein Eindruck als Außenstehender).

Laurenz

10. Februar 2020 11:52

@quarz & RMH .... ich habe nichts gegen das Theoretisieren hier. Aber ist es nicht leichter, aus persönlicher Erfahrung zu sprechen?
Besteht die Mehrheit der deutschen Psychologen nicht aus Freudianern, vielleicht teils abgelöst durch Verhaltens-Therapeuten?
Um die Baustellen eines polarisierenden Charakters abzumildern, hatte ich einiges über die Jahrzehnte, auch aus schlichtem Interesse, ausprobiert, Körper-Therapie, Aufstellungen, Psycho-Therapie usw. und sofort.
Vor gut 10 oder 11 Jahren mit entsprechender Vorgeschichte gelangte ich, berufsbedingt, in das, was man heute eine Depression oder "Burn-out" nennt. Ich hatte einen Arzt gefunden, ein Tiefen-Psychologen, der mir mit Seiner 40jährigen Berufserfahrung tatsächlich aus der sogenannten Depression heraus half, später mir ab gestand, daß in meinem Falle eine Tiefen-Analyse völlig nutzlos sei, da mein Charakter viel zu festgefügt sei, um daran irgendetwas zu bewegen. Tatsächliche Veränderung in meinem Leben basiere rein auf meiner Freiwilligkeit. Ein Arzt kann also nur die möglichen Optionen aufzeigen. Es mag bei anderen Menschen, mit einer weniger gefestigten Charakter-Struktur, eher möglich sein, "günstige" Veränderungen vorzunehmen. Aber wer weiß das schon? Die Diagnose ist das schwächste Glied in der Psychologie, da immer nur Annäherungen diagnostiziert werden können. @Franz Bettinger wird keine Probleme haben, einen verstauchten Knöchel eindeutig zu diagnostizieren.
Die eigene Erfahrung ließ mich zum Castanedarianer werden, der das Bewußtsein als etwas phänomenal Körperliches beschreibt. Psychosen, das "Verrückt sein", wird in der Deutschen Sprache am besten kenntlich. Wie ein Möbelstück ist das Bewußtsein des Verrückten verrückt, an einem schmerzlichen Ort festgenagelt, und kommt von selbst nicht mehr an seinen alltäglichen Platz zurück. Das Ziel Castanedas für den Menschen ist es, zu allen möglichen Orten, Welten, mit dem Bewußtsein reisen zu können, ohne irgendwo kleben zu bleiben.

t.gygax

10. Februar 2020 12:05

@maiordomus
" geschwätzig-missionarische Züge bei Christa Meves"
Etwas mehr Wertschätzung bitte aus der Schweiz, die inzwischen auch den Bach runtergeht (Volksabstimmung über Diskriminierungsverbot.....)
C.M. war eine hoch engagierte Kämpferin für ihre Anliegen, die allesamt ehrenwert und unterstützenswert waren, und bei Leuten, die den Mut haben, aus dem Elfenbeinturm der Psychoanalytiker heraus sich dem niederen Volk zuzuwenden, darf man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Nebenbei zitierte sie häufig Rilke und Hesse und war-verglichen mit den heutigen Populärpsychologen- eine hochgebildete Frau.
Ich sehe heute manches bei ihr kritischer als in meinen jungen Jahren, als ich sie auf dem Hochschultag der PH Reutlingen 1977 wirklich in Spitzenform, auch rhetorisch, erlebte - und ihre Wendung hin zum Katholizismus ist mir fremd geblieben, aber was soll´ s. Im Alter werden alle katholisch ( Ernst Jünger) oder bekehren sich noch wie diverse Popgrößen ( Katja Ebstein, Donna Summer und viele andere....). Dies ist ein interessantes Phänomen......

Maiordomus

10. Februar 2020 17:05

t.Gygax. Hatte schon vor Ihrem Zwischenruf meine Meinung über Meves, übrigens auch Preisträgerin der Stiftung für abendländische Ethik und Kultur zu der Zeit, da solche Formate noch vermittelbar waren. Auch war ich es, der vor 35 Jahren gegen einen Hetzartikel gegen Meves Stellung bezog mit der Schlagzeile in den Luzerner Neusten Nachrichten "Neo-Nazianhängerin bildet Schweizer Lehrer weiter". Ich habe Meves auch mal selber für eine kath. Vereinigung zu einem Vortrag eingeladen. In den letzten 20 Jahren erwies sie sich aber mit der Zeit auch im Lager rechts der Mitte schwieriger vermittelbar. Hesse und Rilke zitieren ist ohnehin leider nur ein bisschen altmodisch-bildungsbürgerlich, dafür müssen Sie niemanden mehr extra aus Deutschland einladen. Ehrlich gesagt schiene mir Kositza (wenn sie nicht bloss als Aushängeschild von Schnellroda gelten würde) mit ihrem derzeitigen Horizont als eine der gebildetsten Frauen ihrer Generation eher in der Lage, bei einer jüngeren Generation allenfalls ein Aufhorchen zu vermitteln. Und Meves war auch in ihrer Generation, wenn man sie denn etwa dreimal gehört hatte, nicht gerade die Liga Ida Friederike Görres oder Gerl-Falkowitz, entschuldigen Sie. Ihre Verdienste zu ihrer Zeit bleiben indes schätzenswert.

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