»Elf Freunde müßt ihr sein, dann könnt ihr das Spiel gewinnen.« Dieser Spruch, seine Herkunft ist nicht genau zu eruieren, hing vormals zuweilen über Kabinentüren. Waren es nun »elf Freunde«, die für Deutschland jüngst bei der Fußball-Weltmeisterschaft auf dem Platz standen? Die Frage ist im Blick auf die Leistung und das Zusammenwirken der Akteure der Fußballnationalmannschaft (seit einigen Jahren firmiert sie unter dem offiziellen und rudimentären Etikett »Die Mannschaft«) eher rhetorischer Natur.
Man ist diesmal so früh wie noch nie, in der Gruppenphase, aus dem Turnier geschieden. Im Geflecht der Gründe spannten nicht nur die Sattheit und Schlaffheit derjenigen, die schon alles gewonnen hatten, was es zu gewinnen gibt, ihre Fäden, sondern als mißstimmiger Dauerton durchpulste auch die mal plakative, mal subtile politische Instrumentalisierung des Ereignisses und seines Umfelds die Szenerie.
Nun ist die Weltmeisterschaft beendet, und der Blick der Fußballinteressierten wendet sich wieder dem Vereinsfußball zu. Selbst die Elite hat noch eine Spitze, sie tritt in der »Championsleague« an. Dort bannen die Spiele seit Jahren die Massen, je Ereignis zwei Stunden lang unter gut zweitausend Lux gleißenden Kunstlichts, einerlei von Moskau bis Lissabon und von Malmö bis Neapel, Ausdruck nivellierender und artifizieller Moderne. Die Nacht wird zum Tag, nachdem der Tag schon Unrast war, und ein zum Philosophen gewordener Meßkircher Mesnerbub würde die Vermeidung solchen Tuns empfehlen.
Die Gründe für die Faszination, welche der Spitzenfußball auf die Massen ausübt, können hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden:
Kompensation ist das Schlüsselwort. Karl Jaspers etwa sah in seinem Werk Die geistige Situation der Zeit schon vor über einem Dreivierteljahrhundert im Sport einen »Rest von Befriedigung unmittelbaren Daseins, in Disziplin, Geschmeidigkeit, Geschicklichkeit.«
Fußball ist außerdem ein originäres Betätigungsfeld für Männer, bei dem – ganz im Gegensatz zur politisch konsequent und unablässig exerzierten, den Zeitgeist mittlerweile deutlich prägenden Feminisierung so gut wie aller Bereiche des öffentlichen Lebens – sie einen Bezirk finden, in dem sie ihre Kräfte ausschließlichaneinander selbst messen können, zum Zwecke der Stärkung des Selbstverständnisses. Muskeln sind gespannt, Gesichter gezeichnet. Im Ganzen
erinnert das Geschehen an eine kämpferische, sich gut zum Männlichen fügende Auseinandersetzung, die dem Mars nahe, der Venus fernsteht.
Hinzu kommt, daß im Spitzenfußball nur eine sehr kleine Auslese von Sportlern mithalten kann: Männer, die in jeder Hinsicht auf die Auseinandersetzung hin optimiert, also in Form gebracht werden und sich diesem Vorgang proteushaft unterwerfen. Vielleicht liegt auch hier ein Grund für die Faszination, die solche Ereignisse auf die Massen ausüben: Das Verlangen nach dem Außerordentlichen in einer Welt, in der seit Jahrhunderten und in wohl zunehmendem Maße Kräfte wirken, die das einzigartig und unterschiedlich im Menschen Hervortretende ins Gleichförmige zu richten suchen.
In den Spielen solcher Spitzenmannschaften treffen mittlerweile Spieler aus manchmal einem Dutzend Nationen aufeinander. Dem herkömmlichen Zeitgenossen wird nun ein kritisches Licht auf das Diktum der auf einen Ort verdichteten Vielvölkerschaft nicht behagen. Die multiethnische Ausrichtung der Gesellschaft und
damit eben auch der Fußballkader sei nun einmal das, was sie sei, nämlich eine Tatsache, die jetzt eben gelte und der man sich zu beugen habe.
So könnte seine Antwort lauten. Der dahinterstehende Gedanke ist in diesem Fall so sehr zur Norm avanciert und hat die Vorstellungskraft derart in Beschlag genommen, daß er gewöhnlich nicht mehr auffällt und hinterfragt wird. Er hat sich ins Selbstverständliche eingefleischt. Bereits Arnold Gehlen hatte ja in Die Seele im technischen Zeitalter einen »Faktenpositivismus« attestiertet, in dem »die Welt voller Fakten mit ihren ebenso faktischen Erklärungsgründen einen Zusammenhang bildet, der, durch sein bloßes Dasein und seine tatsächlichen Eigenschaften legitimiert, sich selbst genügt.«
Den rechtlichen Auslöser für die forcierte Internationalisierung markierte das »Bosmann-Urteil«, das 1995 vom Europäischen Gerichtshof ergangen war und das im Sinne der Freizügigkeit die Beschränkung der Zahl von Spielern aus anderen EU-Ländern aufgehoben hatte. Zudem wurde die Notwendigkeit von Transferzahlungen für einen Spieler nach Auslauf eines Vertrags aufgehoben. In der Folge kam es zu einer starken Steigerung der Zahl ausländischer Akteure in den Profimannschaften in der EU.
Eine Rückblende auf den Kader aus dem ersten Jahr des FC Bayern in der Fußball-Bundesliga, der Spielsaison 1965/66, zeigt, daß die Nachnamen oftoberdeutschen, ja bayerischen Klang (Brenninger, Kroiß, Kunstwadl, Maier) aufweisen. Für Aufsehen sorgte noch 1973 die Verpflichtung von Jupp Kapellmann, der damals vom Rhein (1. FC Köln) intranational an die Isar kam. Als die Mannschaft ihre ganz hohe Zeit hatte, Anfang bis Mitte der Siebziger Jahre, rekrutierten sich von den Spielern des engeren Kaders (Beckenbauer, Breitner, Dürnberger, Hoeneß, Maier, Müller, Roth, Schwarzenbeck) fünf aus Oberbayern und drei aus dem
bayerischen Schwaben.
Eine solche Betrachtung wirkt angesichts der heutigen Verhältnisse anachronistisch, freilich ist auch der damals durchschlagende Erfolg dieser Konstellation nicht zu bestreiten. Der Vereinsname Bayern München bezog sich also nicht nur, was die Übungs- und Heimspielstätte der Mannschaft betraf, auf die Stadt und auf das umgebende Land, sondern er traf auch weitgehend auf die Herkunft der Spieler, die selbstredend die Ingredienz schlechthin des Spiels sind, zu.
In der Saison 2017/18 gehörten dem Kader der engeren, hauptsächlich spielenden Mannschaft bei 21 Akteuren dann noch neun Spieler mit deutschem Paß an. Innerhalb eines halben Jahrhunderts also hat sich die Zusammensetzung der 1. Mannschaft des FC Bayern München von einer vornehmlich bayrisch-deutschen
in eine solche stark multiethnischer Prägung verwandelt – im Grunde ein Spiegel der Vielvölkerschaft der Stadt München. Die dortige Stadtverwaltung verkündet denn auch in ihrem Internetauftritt, es lebten derzeit »in München Menschen aus 180 Nationen«, und sie alle machten »die Stadt zu einer vielfältigen und toleranten Metropole.«
Daß der FC Bayern München was die Multiethnizität angeht, auf dem Parkett der europäischen Spitzenmannschaften keine Ausnahme, sondern die Regel darstellt, ließe sich leicht demonstrieren. Die einheimische Nationalität erscheint dabei dann nicht mehr als das maßgebende, sondern nur noch als ein den Ausgleich
bewerkstelligendes Glied in der Spielerkette Babels, in die sich der Autochthone integriert.
Und es erscheint wie ein Akt der Kompensation, wenn der Verein die tragende »Rolle« des Spielers Thomas Müller, des letzten originären Bayern in der
Stammformation, hervorhebt. Austauschbarkeit läßt freilich die Zahl ins Spiel kommen, die numerische Potenz wächst und das quantitativ nicht zu fassende Eigene verschwindet.
»Schwund an Originalität«. Der Ausdruck stammt von Ernst Jünger, der 1965 auf einer Schiffsreise in Hongkong an Land ging und in seinem Tagebuch dazu eine »Verstimmung, im Vorgefühl … auf einen der großen Mischkessel zu kommen« vermerkt hatte. Vorher nimmt er in Manila bereits einen »Schwund an Originalität, wie überall auf der Welt« wahr. Hier treten unvermittelt Äußerungen der mit durchdringender ethnischer Heterogenität an einem Ort konfrontierten Psyche auf den Plan. Es ließe sich dabei doch die Frage aufwerfen, inwieweit in einem »melting pot« der Ethnien Vertrauen zueinander als eine Grundvoraussetzung
für Entwicklung und Lebensqualität entstehen und aufrechterhalten werden kann. In einschlägigen Aktionen demonstrativ zur Schau getragenes Miteinander verstärkt hier den Zweifel eher, als daß es ihn mildert.
Wie stark internationaler Spitzenfußball nicht nur als Vehikel für das Propagieren von Multiethnizität, sondern ganz allgemein für Gleichheitskonstruktionen benutzt wird, ließe sich an einer Vielzahl von Beispielen veranschaulichen, die sich dem trotz ständigen medialen Trommelns noch aufmerksamen Beobachter zeigen. So wird man etwa in der Halbzeitpause der Übertragung von ChampionsleagueSpielen gern mit bekannter »No to racism!«-Werbung der UEFA konfrontiert, bei der im flotten Takt jeweils eine gegenwärtig Weltklasse spielende Idolfigur nach der anderen in ihrer Landessprache entschieden und eindringlich eben diesen Appell aufsagt, das zuweilen martialisch anmutende Gesicht dabei in frontaler Nahaufnahme in die Kamera gerichtet.
Dem Rassismus wird dabei zwar medial und an die Millionen gerichtet eine scheinbare Absage erteilt, als bloße »Anti«-Version tritt er über die Hintertüre unweigerlich und postwendend aber wieder ins Zimmer der aufdringlichen Inszenierung herein. Er wird also gerade nicht ausgehebelt, sondern in einem Spiegelbild bestätigt und zudem durch mantrahaftes Wiederholen noch potenziert.
Zurück zum Spiel. Die Strahlkraft und die gesellschaftliche Relevanz des Spitzensports, in Europa speziell des Fußballs, ist so stark, daß sich bereits 1974 anläßlich des Endspiels der Fußball-WM in München der damalige Bundeskanzler Schmidt und Bundespräsident Scheel auf der Tribüne einfanden. Die Erreichbarkeit der Vielen, die seither auch noch viel mehr geworden sind, hat sich deutlich gesteigert. Damit einher geht die mediale Wirksamkeit und die Möglichkeit, politische Botschaft einflußnehmend zu transportieren.
Ihr heutiger Inhalt könnte lauten: »Seht, hier ist nun unsere Vision der Einen Welt funktionierende Wirklichkeit geworden.« Professioneller Fußball als Ereignisraum progressiver Postulate, so könnte eine Kurzformel das Geschehen näherungsweise fassen.
Was bleibt? In die Asche blasen und den Äther trüben? Nein, unverdrossen spielen, entbunden von roboterhafter Mechanik, dem Vermessen von Laufkilometern und diätetischer Lebenshaltung, barfuß auf Stoppeln eben gemähter Wiesen, fernab der Kameras und Mikrophone.
Es braucht wenig und hat doch Anlage zu einer ganzen und gesünderen Welt. Das Spiel ist zurück und mit ihm etwas von Originalität und »Sphären rollender« Schillerscher Freude.