#IStandWithGreece
76.358. Diese Zahl gaben die türkischen Behörden am Sonntag morgen an die Weltöffentlichkeit aus. 76.358 Migranten hätten in den vergangenen Tagen ungehindert den türkischen Grenzübergang in Edirne passiert und seien jetzt auf den Weg nach Griechenland und Bulgarien. 76.358 Migranten seien auf dem Weg nach Europa.
Ob die Zahlen stimmen ist einstweilen irrelevant; die UN-Organisation für Migration (IOM) meldet die Ankunft von 13.000 Einwanderungswilligen an der griechischen Grenze, die Griechen sprechen von 10.000 verhinderten Grenzübertritten – das reicht in jedem Fall aus und die Bilder sprechen für sich: Während auf der türkischen Seite Züge, Busse und sogar Taxis für einen stetigen Zufluß von Migranten ins Grenzgebiet sorgen, sind in Griechenland inzwischen mehr als 10.000 Polizisten und Soldaten im Einsatz, um die Grenze zu halten.
Wir wissen: Die Krise kommt mit Ansage und war bereits in der DNA des Flüchtlingsdeals von 2017 angelegt, der zwar Europa eine vermeintliche Ruhepause bescherte, der türkischen Regierung und damit Erdogan aber gleichzeitig jene mächtige Migrationswaffe in die Hand legte, die er jetzt auf Griechenland gerichtet hält.
Während der Sommer 2015 indes in vielem an Szenen aus Jean Raspails Dystopie „Das Heerlager der Heiligen“ gemahnte, ist die Optik der momentanen Vorgänge an der griechisch-türkischen Grenze eine andere: Die Zeiten, in denen vermeintliche und tatsächliche Flüchtlinge ihr Elend als ihre einzige Waffe vor sich hertrugen, scheinen vorbei.
Bei aller Rücksichtnahme darauf, daß es natürlich im berechtigten Interesse der Türken liegt, die Vorkommnisse so dramatisch wie möglich zu orchestrieren, lassen die Szenen vor den Grenzzäunen kaum eine andere Assoziation zu, als die eines Frontalangriffs auf die Außengrenze Europas. Die Bilder, die im Moment aus Edirne um die Welt gehen, sehen tatsächlich aus, wie jene düsteren Schreckensvisionen, die sich mancher in den vergangenen Jahren – nicht ohne eine gewisse Krisenlust – ausmalte.
Die griechischen Grenzposten sehen sich seit Tagen einem Regen aus Steinen, Metallstücken, Feuerwerkskörpern und (unbestätigten Berichten zufolge) sogar türkischen Tränengasgranaten gegenüber, auf den sie ihrerseits mit dem Einsatz von Reizgas, Wasserwerfern und inzwischen scharfen Warnschüssen antworten. Wie in diesem Video zu sehen ist, setzen einzelne Migrantengruppen sogar improvisierte Rammböcke ein, um die Grenzanlagen zu überwinden – audiovisuell untermalt durch den erhobenen Zeigefinger und die allgegenwärtigen Lobpreisungen Allahs.Durch die aktive Unterstützung der Türken, die derweil im ganzen Land Migranten einsammeln und zur Grenze kutschieren, erhält die seit Beginn des Jahres andauernd latente Migrationsdynamik eine kanalisierte Richtung und damit eine neue, bisher ungekannte Qualität.
Die Ausgangslage der sich jetzt am Horizont abzeichnenden Einwanderungswelle ist dabei in Griechenland eine andere als noch 2015. Insbesondere die Bewohner der ägäischen Inseln, im Grund genommen aber alle Griechen haben in den vergangenen fünf Jahren die Auswirkungen der kontinuierlich weiterfließenden Migrationsströme massiv zu spüren gekriegt.
Eine staatlich bemühte, geförderte, ja forcierte „Willkommenskultur“, für die sich damals manche noch begeistern ließen, wird 2020 nicht ohne unmittelbaren Zwang durchsetzbar sein. Bereits jetzt stehen die Zeichen im Mittelmeer auf Sturm: Auf Lesbos vertrieben die Inselbewohner erst vor wenigen Tagen mehrere Einheiten der Bereitschaftspolizei, die den Bau eines neuen Abschiebelagers auf der Insel durchsetzen sollten.
Die Unerbittlichkeit mit der die Insulaner gegen die Sicherheitskräfte vorgingen ist dabei für uns kaum vorstellbar: Neben dem obligatorischen Hagel aus Wurfgeschossen und Molotow-Cocktails wurden in mindestens zwei Fällen Schrotflinten eingesetzt, um die Beamten zurückzudrängen; als bekannt wurde, in welchem Hotel die Einheiten untergebracht waren, stürmten wütende Demonstranten die Zimmer und prügelten deren überraschte Bewohner die Treppe hinunter.
Nachdem es den Insulanern in der Nacht schließlich gelungen war, die Polizisten unter „Griechenland den Griechen“-Rufen in einer Kaserne einzukesseln, kapitulierte die Regierung in Athen und zog die eigens eingeschifften Verbände wieder von der Insel ab.
Ohnehin scheint man auf der Insel nun wild entschlossen, weitere Einwanderungsbewegungen notfalls eigenhändig zu verhindern: Im Netz kursieren Videos, die aufgebrachte Einwohner bei der Blockade von Bussen zeigen, die Migranten in das mit 21.000 Insassen heillos überfüllte Zentrallager auf der Insel überführen sollen, das den düsteren Namen „Moria“ trägt. Am Sonntag vormittag verwehrten Demonstranten zudem den Insassen eines Schlauchbootes den Ausstieg am Kai und wiesen sie an, wieder zurück in die Türkei zu fahren.
Es scheint also so, als ob nicht nur die griechische Regierung gewillt sei, ihre Grenzen zu schützen, auch die griechische Bevölkerung ist offenbar bereit, das Notwendige zu tun, um Europa vor der nächsten Einwanderungswelle abzuschirmen. Es bleibt abzuwarten, was sich in den nächsten Tagen auf dem politische Parkett tut, für den Moment steht aber fest: Es sind die Griechen, die allmählich die Angst vor den unangenehmen Bildern der Fernsehkameras und ihren Folgen ablegen. Es sind die Griechen, die seit Jahren die Hauptlast einer verfehlten europäischen Grenzpolitik tragen und sich für die Erfüllung ihrer Grenzschutzpflichten auch noch den Vorwurf unverhältnismäßiger Grausamkeit anhören müssen. Es sind die Griechen, die sich trotzdem heute, wie schon unzählige Male zuvor, zwischen Europa und die Bedrohung von Außen stellen. Dafür gebührt ihnen Dank und Solidarität!
Franz Bettinger
"Wenn endlich die Wut die Angst übersteigt...", ja, die ortsansässigen Griechen auf den Inseln sind würdige "Sonntagshelden".