Die Saar und Europa

von Günter Scholdt
PDF der Druckfassung aus Sezession 86/Oktober 2018

2015 hielt ich in Saar­brü­cken einen Vor­trag im Rah­men der Ring­vor­le­sung »Die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­jah­re 1815, 1935 und 1955 an der Saar«. 1814 hat­ten näm­lich Saar­brü­cker Patrio­ten dage­gen pro­tes­tiert, im Ers­ten Pari­ser Frie­den Frank­reich zuge­schla­gen zu wer­den, was 1815 im zwei­ten Frie­dens­ver­trag kor­ri­giert wurde.

1935 und 1955 gab es jeweils Abstim­mun­gen, die direkt oder indi­rekt zur Rück­glie­de­rung des Saar­lands an Deutsch­land führ­ten. Mein The­ma beschäf­tig­te sich mit der Pro­pa­gan­da-Rol­le der Schrift­stel­ler bei den drei Anläs­sen. Ich mus­ter­te außer­dem die Ereig­nis­se aus heu­ti­ger Euro­pa-Sicht und die Wer­tungs­prä­mis­sen (vor allem saar­län­di­scher His­to­ri­ker) im Wan­del der Zei­ten: Als ich vor fünf Jahr­zehn­ten an die Saar kam, galt das mehr­heit­li­che Bekennt­nis zum Vater­land weit­hin als natür­li­che Ent­schei­dung, und die weni­gen Gegen­stim­men rubri­zier­ten fast noch unter »Vater­lands­ver­rat«.

Knapp zwei (Historiker-)Generationen spä­ter schei­nen eher pro­deut­sche Bekun­dun­gen als recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig. Als frü­her Euro­pa-Begeis­ter­ter, der 1962 in den Genuß des deutschfranzösischen Jugend­aus­tauschs gekom­men war, sah und sehe ich zwi­schen dem Bekennt­nis zu Euro­pa und dem zum Vater­land kei­nen Widerspruch.

Auch de Gaul­le hat­te sich schließ­lich in die­sem Sin­ne aus­ge­spro­chen. Alles For­cier­te und Zwang­haft-Tech­no­kra­ti­sche trans­na­tio­na­ler Ver­ei­ni­gung schien mir hin­ge­gen wenig zukunfts­träch­tig, bis hin zu den auf­ge­bläh­ten Macht­ge­bil­den der Gegen­wart. Doch ist mir bewußt, daß der­glei­chen Beden­ken aktu­ell als dubi­os gel­ten und offi­zi­ell uner­wünscht sind.

Daher zöger­te ich im Vor­feld­ge­spräch zum erwähn­ten Vor­trag mit mei­ner Zusa­ge. Schließ­lich wis­se ich, was man quasi
auf­trags­ge­mäß mit die­ser Ver­an­stal­tung wol­le, bei der sich als Geld­ge­ber auch noch die Lan­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung anbot.

In einem knapp ein­stün­di­gen Tele­phon­ge­spräch wider­sprach man mei­nen angeb­lich gegen­stands­lo­sen Zwei­feln hef­tig. Geschichts­for­schung lebe gera­de vom Wider­spruch, von den Quer­den­kern, die neue Per­spek­ti­ven eröff­ne­ten, usw. usf. Schließ­lich mach­te ich die Pro­be aufs Exem­pel und refe­rier­te, um dann als Novum in mei­ner fast fünf­zig­jäh­ri­gen For­scher­vi­ta erfah­ren zu müs­sen, daß mei­ne Aus­füh­run­gen für den Sam­mel­band untrag­bar seien.

Quod erat demonstran­dum. Glück­li­cher­wei­se gibt es Alter­na­ti­ven. Im fol­gen­den lesen Sie den Schluß­teil mei­nes Vortrags.

1815–1935–1955: Saar­län­di­sche Schick­sals­jah­re und die Schriftsteller

[…] Ich kom­me zu einem Fazit, bezo­gen auf das Gesamt­the­ma die­ser Ring­vor­le­sung, die sich für Zäsu­ren und Kon­ti­nui­tä­ten inter­es­siert.  Durch­gän­gig kenn­zeich­net alle drei Daten

  • der ver­nehm­ba­re Pro­test betrof­fe­ner Volks­tei­le gegen die frag­wür­di­ge Pra­xis, daß fer­ne Poli­tin­stan­zen über deren Gebiet ver­fü­gen, unge­ach­tet eth­nisch-sprach­li­cher Identitäten,
  • ein kon­fron­ta­ti­ves Span­nungs­feld zwi­schen dem Bewußt­sein natio­na­ler Zuge­hö­rig­keit und diver­sen Staats- oder Mensch­heits-Prin­zi­pi­en, die man jeweils für höher­wer­tig erklär­te: 1815 die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung (auf mon­ar­chi­scher Basis), 1935 Libe­ra­lis­mus und Anti­fa­schis­mus mit star­kem kom­mu­nis­ti­schem Akzent, ab 1955 die Europa-Idee,
  • der letzt­lich erfolg­lo­se bzw. auf­ge­ge­be­ne Ver­such, das natio­na­le Selbst­ver­ständ­nis zu igno­rie­ren oder zurückzudrängen.

Spre­chen wir auch über Zäsu­ren. Die wich­tigs­te ergab sich 1935 – zunächst vor­nehm­lich im Bewußt­sein einer Min­der­heit von meist Linksintellektuellen und jüdi­schen Ver­folg­ten. Die­se Über­zeu­gungs­ba­sis hat sich bis heu­te erheb­lich verbreitert.

Denn zuvor wur­de Frei­heit als Volks­wil­le ganz selbst­ver­ständ­lich mit natio­na­ler Selbst­be­stim­mung ver­bun­den. 1815 geschah dies im Rah­men der erstreb­ten deut­schen Ein­heit, 1935 flan­kiert durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus, der sich als Frei­heits­be­we­gung defi­nier­te, 1955 in Ver­bin­dung mit öko­no­mi­schen und bür­ger­recht­li­chen Erwar­tun­gen, wäh­rend die Unter­stüt­zung durch bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Lite­ra­ten uner­heb­lich blieb.

Zwei Gene­ra­tio­nen danach zün­det Schil­lers »Ans Vater­land, ans teu­re, schließ dich an« (zumin­dest im Main­stream) kaum noch als Losung. Gebe es doch Wich­ti­ge­res als die Nati­on: Mensch­heit und Men­schen­rech­te, Frie­den und Welt­bür­ger­tum oder Euro­pa respek­ti­ve des­sen gegen­wär­ti­ge Ver­wirk­li­chungs­form EU.

Bis 1989 stand viel­fach sogar noch Kom­mu­nis­mus auf der Agen­da. Dies blieb nicht ohne Fol­gen für die Ein­schät­zung der hier behan­del­ten Schick­sals­jah­re. In dem Maß, wie die neue Autoren- oder His­to­ri­ker-Gene­ra­ti­on Ver­la­ge, Redak­tio­nen und Fern­seh­sta­tio­nen erober­te, beein­fluß­te sie zuneh­mend auch die heu­te gän­gi­ge Geschichts­er­zäh­lung bzw. den ihr zugrun­de­lie­gen­den Denk­stil, wonach die Nati­on nur mehr als rück­stän­di­ges oder ana­chro­nis­ti­sches Polit­ob­jekt figu­riert, als eine Art ideel­le Alt­last, die man irgend­wie ent­sor­gen müsse.

Den Lösungs­schlüs­sel bot danach z.B. die EU. Denn fal­len ohne Natio­nen nicht umge­hend auch alle Natio­nen-Kon­flik­te fort? Dem­ge­mäß deu­te­te man nun auch die Abstim­mungs­er­geb­nis­se von 1935 bzw. 1955 als regres­si­ve oder wenigs­tens retar­die­ren­de Ent­schei­dun­gen. Und die (schnel­le) Deutsch­land-Opti­on gerät zuneh­mend unter Ideologieverdacht.

Sol­cher Para­dig­men­wech­sel reizt mich, die momen­tan unter­re­prä­sen­tier­te Gegen­er­zäh­lung zu ver­tre­ten und dabei zuge­stan­de­ner­ma­ßen etwas Was­ser in den Wein der poli­tisch so erwünsch­ten wie ver­brei­te­ten Erfolgs­sto­ry eines 200-jäh­ri­gen Wegs nach Euro­pa zu gießen.

Ob es sich um eine eher unspek­ta­ku­lä­re Anti­the­se han­delt oder das argu­men­ta­ti­ve Wider­spiel eines Advo­ca­tus Dia­bo­li, las­se ich offen. Zumin­dest ent­schlei­ern sich so die den gän­gi­gen Urtei­len zugrun­de­lie­gen­den geschichts­po­li­ti­schen Vorgaben.

I. Pro­ble­ma­tisch am retro­spek­ti­ven Euro­pa-Nar­ra­tiv erscheint mir näm­lich die heu­te ver­brei­te­te Ten­denz, stän­dig etwas mora­lisch zu skan­da­li­sie­ren, was im Sin­ne der jewei­li­gen Epo­che schlicht selbst­ver­ständ­lich war. Ins­be­son­de­re hal­te ich die von zeit­ge­nös­si­schen Gege­ben­hei­ten abs­tra­hie­ren­de Fra­ge, war­um die Saar­län­der jeweils so abstimmten, wie sie es taten, mit dem Hin­weis, »weil sie nun mal Deut­sche waren«, im Kern für beant­wor­tet. Zwar soll­ten Zeit­dia­gnos­ti­ker auch dem schein­bar Evi­den­ten durch­aus einen zwei­ten Blick schenken.

Aber die vom Auf­wand her hyper­tro­phe Insis­tenz und ahis­to­ri­sche Schwer­punkt­set­zung, mit der man bis in die jüngs­ten Tage hin­ein NS-bezo­ge­ne Vor­wür­fe prüft, recht­fer­tigt sich kaum durch For­schungs­de­fi­zi­te. Viel­mehr ver­weist es auf tages­po­li­ti­sche respek­ti­ve volks­päd­ago­gi­sche Dienst­bar­kei­ten unse­res Fachs, das par­tout nicht his­to­ri­sie­ren, son­dern Geschich­te zur Legi­ti­ma­ti­on der Gegen­wart nut­zen soll.

II. Ergie­bi­ger als eine Ver­tie­fung des ver­meint­lich so erklä­rungs­be­dürf­tig Beson­de­ren scheint mir die Suche nach Gemein­sam­kei­ten mit der heu­ti­gen Zeit. Dazu gehört die Kon­ti­nui­tät von immer­glei­chen Illu­sio­nen, auf deren Basis seit Jahr­hun­der­ten euro­päi­sche Belan­ge geord­net wer­den bzw. wer­den sollen.

Wer bedau­ert, was in Zusam­men­ge­hö­rig­keits­de­mons­tra­tio­nen von 1814, 1935 oder 1955 zum Aus­druck kam, zeigt einen auf­fal­lend tech­no­kra­ti­schen Hang zur Lösung von Bevöl­ke­rungs­fra­gen am Reiß­brett der Poli­tik- und Geschichts-Kon­struk­teu­re, ver­bun­den mit einer pro­ble­ma­ti­schen Nei­gung, über kon­kre­te Inter­es­sen­la­gen vie­ler Men­schen hin­weg­zu­se­hen bzw. ‑zuge­hen. Sol­che »Fortschritts«-Gesinnung – wir erle­ben aktu­ell kaum ande­res – zeigt sich stets aufs Neue über­rascht durch die Zäh­le­big­keit schein­bar obso­le­ter geschichts­be­stim­men­der Fak­to­ren wie Nati­on, Reli­gi­on, Geschlecht, Eth­nie oder geo­po­li­ti­sche Zwänge.

Sie gel­ten man­chen als belie­big umformbare Kon­struk­te, ohne zu berück­sich­ti­gen, daß sich inter­na­tio­na­le Iden­ti­täts­stif­tun­gen oder die unter­stell­te glo­ba­le Inter­es­sen­ge­mein­schaft und ‑soli­da­ri­tät erheb­lich kon­stru­ier­ter und illu­sio­nä­rer ausnehmen.

III. In die­ser Sicht tri­um­phier­ten in den Schick­sals­jah­ren im jewei­li­gen Volks­wil­len schlicht Emo­tio­nen gegen die Ratio. Doch dies war selbst 1935 nicht so sim­pel, wie eine mora­lis­tisch ver­eng­te Betrach­tung uns lehrt, die meist vie­les aus­klam­mert, was die dama­li­gen Saar­län­der zu einer heu­te miß­bil­lig­ten Ent­schei­dung führte.

Denn war­um eigent­lich soll­ten sie sich von Hit­ler in der Früh­pha­se des Regimes weit beun­ru­hig­ter zei­gen als zahl­rei­che aus­län­di­sche Staats­män­ner, die ihm erste Erfol­ge zuschanz­ten? Wel­che Serio­si­tät ver­bürg­te das über­ra­schen­de Anti-Hit­ler-Bünd­nis ehe­ma­li­ger poli­ti­scher Erz­fein­de um das Zen­trums-Mit­glied Hoff­mann, den Sozi­al­de­mo­kra­ten Braun und den Kom­mu­nis­ten Pfordt?

Ange­sichts mil­lio­nen­fa­cher sowje­ti­scher »Säu­be­run­gen« sprach selbst die inter­na­tio­na­le Staats­ter­ror-Bilanz kei­nes­wegs dafür, aus­ge­rech­net kom­mu­nis­ti­scher Agi­ta­ti­on gegen ein »Heim ins Reich« zu fol­gen. Und deren plötz­li­che »Lie­be« zum Vati­kan im Wahl­kampf war gewiß nicht glaub­wür­di­ger als die der SA zum Hei­li­gen Rock in Trier.

Das agi­ta­to­ri­sche Kurio­sum, wonach nun aus­ge­rech­net die KP als Sach­wal­ter der Reli­gi­ons­frei­heit auf­trat, glos­sier­te der Exi­lant Gus­tav Reg­ler im auto­bio­gra­phi­schen Rückblick:

Sie lei­te­ten ihre Leit­ar­ti­kel plötz­lich mit Bibel­ver­sen ein. ›Einigt euch, der Papst will es‹, lau­te­te die Über­schrift eines Wahl­ar­ti­kels […]. Als in einem Dorf das Kind eines bekann­ten Kom­mu­nis­ten starb, erhielt der rote Füh­rer den Befehl, den Pfar­rer um die kirch­li­che Beer­di­gung zu bit­ten […]. In den Redak­ti­ons­stu­ben der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei aber konn­te man die neu­en Chris­ten sich befrei­en hören mit iro­ni­schem Gruß: Gelobt sei Jesus Christus.

Auch zog öko­no­mi­sche Schwarz­ma­le­rei (Alfred Kerr: »Deutsch­land starrt von hung­ri­gen Hor­den«) nicht so recht. Viel­mehr begann im »Reich« gera­de so etwas wie ein Wirt­schafts­wun­der, zumin­dest im Ver­gleich zum sta­gnie­ren­den Frank­reich. Zudem waren Befürch­tun­gen, daß jet­zi­ge Anti-Anschluß-Wäh­ler spä­ter von Genf ver­schau­kelt wür­den, kei­nes­wegs abwegig.

Selbst der jüdi­sche Sati­ri­ker Kurt Tuchol­sky fand die Völ­ker­bund-Erklä­rung, ob bei einem Wahl­sieg der Hit­ler-Geg­ner eine spä­te­re Neu­ab­stim­mung gesi­chert sei, pro­vo­zie­rend unklar:

Ich, der ich mir schmei­che­le, von Spra­che etwas zu ver­ste­hen, ich ver­ste­he das nicht, so leer ist das.

Der ent­spre­chen­de Pas­sus lau­tet übri­gens sybillinisch:

Aus der Tat­sa­che, daß in dem hier behan­del­ten Fall der Völ­ker­bund zum Inha­ber der Sou­ve­rä­ni­tät über das Gebiet wer­den wird, geht auch her­vor, daß er in der Zukunft das Recht haben wird, über die­se Sou­ve­rä­ni­tät Ver­fü­gun­gen in dem Maße zu tref­fen, in dem das mit den Bestim­mun­gen des Ver­tra­ges ver­ein­bar ist, und in dem Maße, in dem es übereinstimmt mit den Prin­zi­pi­en, auf deren Basis die Sou­ve­rä­ni­tät über das Gebiet ihm über­tra­gen wor­den ist und von ihm aus­ge­übt wer­den muß.

Ich habe in mei­nem Bekann­ten­kreis auch unter juris­tisch Gebil­de­ten bis­lang noch nie­man­den getrof­fen, der hier­aus zwei­fels­frei eine Neu­ab­stim­mung hät­te fol­gern kön­nen. Auch für 1955 hält sich viel­fach das Erklä­rungs­mus­ter vom Sieg der Emo­tio­nen über die Ratio – ein recht simp­les Urteil.

Denn gehen wir ein­mal davon aus, daß kei­nes der poli­ti­schen Lager die Chan­cen wie Risi­ken sei­nes Han­delns völ­lig abse­hen konn­te, fragt sich, ob es tat­säch­lich so viel ver­nünf­ti­ger war, sein Ver­trau­en in die nebu­lö­se Euro­pa-Uto­pie und eine unei­gen­nüt­zi­ge, zukunfts­wei­sen­de fran­zö­si­sche Part­ner­schaft zu set­zen als in die kon­kre­te­re Visi­on einer bal­di­gen Rückgliederung.

Gelang es Paris doch nicht ein­mal, den EVG-Ver­trag zu rati­fi­zie­ren, und – um ein beson­ders popu­lä­res Anschau­ungs­bei­spiel anzu­füh­ren – schaff­te es nicht ein­mal Gou­ver­neur Grand­val, den 1. FC Saar­brü­cken an der fran­zö­si­schen Fuß­ball­meis­ter­schaft teil­ha­ben zu lassen.

War also der Ver­dacht abwe­gig, das frü­he Euro­pa-Expe­ri­ment sol­le allein auf Kos­ten eines von Deutsch­land iso­lier­ten Saar­lands bestrit­ten wer­den? Bereits kurz nach der für Frank­reich des­il­lu­sio­nie­ren­den Abstim­mung hat Chris­ti­an Pineau, Sozia­list und mehr­fa­cher Minis­ter, in Le Franc Tir­eur (Paris) vom 27. Okto­ber 1955 selbst­kri­tisch eingestanden:

War­um haben wir nicht begrif­fen, daß die Nie­der­la­ge unaus­weich­lich war? Kann man ver­nünf­ti­ger­wei­se eine Bevöl­ke­rung auf­for­dern, zwi­schen Deutsch­land und Euro­pa zu wäh­len, da das letz­te­re durch unse­re Feh­ler ein­fach nicht existiert?

War es somit poli­tisch klein­gläu­big, oder zeig­te es sogar einen robus­te­ren Rea­li­täts­sinn der Saar­län­der, sich dage­gen zu weh­ren? Und wenn der saar­län­di­sche Minis­ter­prä­si­dent Hoff­mann sich in sei­nen Memoi­ren dar­über beklag­te, die Oppo­si­ti­on habe die vor­ge­se­he­ne Fra­ge­stel­lung in die nach der Zuge­hö­rig­keit zu Deutsch­land »umge­fälscht«, so war dies gewiß kein irra­tio­na­ler Vor­gang, son­dern eher eine ent­schei­dungs­be­zo­ge­ne Zuspitzung.

Mit Recht ließ sich auf den lar­moy­an­ten Vor­wurf ant­wor­ten, nun erst sei die jah­re­lang durch Repres­si­on ver­hin­der­te, die Bevöl­ke­rung aber nach wie vor auf­wüh­len­de eigent­li­che Fra­ge zur Abstim­mung gelangt.

Setzt man aber das Risi­ko sehr hoch an, das zu jener Zeit im Nein der Mehr­heit gele­gen habe, so mag man sich am Bei­spiel der ost­eu­ro­päi­schen Wen­de von 1989 ver­an­schau­li­chen, ob wir uns stets jene Art poli­ti­scher Ratio­na­li­tät von Völ­kern wün­schen sol­len, die über Jahr­zehn­te hin­weg glo­ba­le Macht­struk­tu­ren ohne ech­te Mit­wir­kung der Betrof­fe­nen zementierte.

Im Sin­ne heu­ti­ger Saar-His­to­ri­ker war es viel­leicht »unver­nünf­tig«, was Polen, Tsche­chen, Ungarn und schließ­lich auch Ost­deut­sche taten, aber welch per­ver­ser Art von poli­ti­scher Ver­nunft hat­ten sie jahr­zehn­te­lang gehorcht bzw. gehor­chen müssen?

IV. Was die nati­ons­kep­ti­schen Geschichts­bild-Pro­du­zen­ten kri­ti­sie­ren, fällt auf sie selbst zurück. Ima­gi­nie­ren sie doch stets eine Welt, die vor­nehm­lich aus (Zukunfts-)Projektion oder soge­nann­ten höhe­ren Gesichts­punk­ten besteht. Kon­kre­te Befind­lich­kei­ten spie­len dar­in kei­ne Hauptrolle.

Sie igno­rie­ren bestän­dig, was etwa in Afri­ka ange­rich­tet wur­de, wo man auf eth­ni­sche Fak­to­ren kei­ne Rück­sicht nahm. Und heu­te wird Euro­pa in einem Tem­po eta­bliert, dem ein beacht­li­cher Teil sei­ner Bür­ger nicht folgt. Hier agie­ren macht­be­wuß­te Schul­meis­ter, unter­stützt von »Intel­lek­tu­el­len-Pries­tern«, wie sie Schelsky nann­te, indem sie ver­meint­li­che Rück­stän­dig­kei­ten definieren.

Gemein­sam ist auch die poli­ti­sche Men­ta­li­tät der Han­deln­den oder Getrie­be­nen bzw. der visio­nä­re Denk­stil der sie fei­ern­den Schrift­stel­ler oder His­to­ri­ker. Letz­te­rer mag sei­ne Grö­ße haben, aber auch bemer­kens­wer­te Schwä­chen. Begrei­fen oder akzep­tie­ren die­se Visio­nä­re doch viel zu sel­ten, wie die, über die sie stän­dig reden und für die sie angeb­lich spre­chen, wirk­lich empfinden.

Und wenn etwa unse­re polit­me­dia­le Klas­se in Sachen EU tat­säch­lich ein­mal mit ganz ande­ren Emp­fin­dun­gen kon­fron­tiert wird, zieht sie blitz­schnell die Denun­zia­ti­ons­kar­te und gesteht güns­tigs­ten­falls Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me ein. Inter­pre­tiert sie doch unan­ge­neh­me Rea­li­tä­ten in der Regel aus einer Par­al­lel- und Pro­pa­gan­da­welt, wenn nicht gar aus einem Par­tei­en- oder Meinungsghetto.

V. Auch das hat Tra­di­ti­on. Denn schon immer sahen Pro­pa­gan­dis­ten einer One world fast nur ihr End­ziel. Reg­lers kurz vor der Abstim­mung am 13. Janu­ar 1935 erschie­ne­ner Roman Im Kreuz­feu­er ent­hält einen höchst bezeich­nen­den Satz aus der Per­spek­ti­ve von Jungkommunisten:

Manch­mal begreift man nicht, daß wir nicht jetzt schon gesiegt haben, daß die­ser Janu­ar noch kom­men mußte.

Er spie­gelt exem­pla­risch, mit wel­chen Illu­sio­nen Anti-Anschluß-Kämp­fer an der Saar agi­tier­ten oder aus der Fer­ne urteil­ten. Man den­ke an Bert Brechts »Saar­lied« vom Okto­ber 1934 (»Da wer­den sie sich ren­nen / An der Saar die Köp­fe ein«), an Paul Zech, Oskar Maria Graf, Ilja Ehren­burg, Rudolf Olden, an Hein­rich, Klaus, Golo und Tho­mas Mann, an Tuchol­sky oder den bedeu­ten­den Repor­ter, Roman­cier und Essay­is­ten Arthur Koestler.

Er zumin­dest hat im Rück­blick, scho­nungs­los selbst­kri­tisch, sei­ne völ­li­ge Lage­ver­ken­nung als sym­pto­ma­tisch begrif­fen: »Ein Drit­tel der Saar, schrieb ich, sei geschlos­sen anti­na­zis­tisch, ein ande­res Drit­tel unent­schie­den; die anti­hit­le­ri­sche Stim­men­zahl wer­de daher zwi­schen drei­ßig und sech­zig Pro­zent betra­gen [tat­säch­lich betrug sie 9,2]. Ich glaub­te natür­lich an die­se Schät­zung, sonst hät­te ich sie nicht publi­ziert. Bevor ich in die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei ein­trat, war ich ein hoch­be­zahl­ter und recht erfolg­rei­cher poli­ti­scher Jour­na­list; das kata­stro­pha­le Ver­sa­gen mei­nes poli­ti­schen Instinkts, das die­se Geschich­te zeigt, ist ein Bei­spiel für die Fol­gen des Lebens inner­halb eines ›geschlos­se­nen Systems‹.«

VI. Die Sym­pa­thie, mit der man durch­weg das cou­ra­gier­te Anti-Hitler-Engagement an der Saar kom­men­tiert, darf aller Verdienste zum Trotz nicht über eine gewis­se Blind­heit respek­ti­ve Stur­heit hin­weg­täu­schen, einen Kampf über­haupt zu begin­nen, den die Oppo­si­ti­on nie gewin­nen konn­te, ja, in des­sen Ver­lauf sie schein­bar das bestä­tig­te, was die Geg­ner ihr stän­dig vor­hiel­ten: »vater­lands­lo­se Gesel­len« zu sein. Denn unver­kenn­bar hat gera­de die Her­aus­for­de­rung durch die den Anschluß ableh­nen­de anti­fa­schis­ti­sche »Ein­heits­front« Saar­län­der dem Natio­nal­so­zia­lis­mus näher­ge­bracht, deren Par­tei noch 1932 ja hier nicht einmal sie­ben Pro­zent Zustim­mung erfah­ren hatte.

VII. Eine gewis­se Blick­ver­en­gung cha­rak­te­ri­siert auch man­che His­to­ri­ker. In Ger­hard Pauls gewich­ti­ger Stu­die Deut­sche Mut­ter – heim zu Dir! wird vom Ver­fas­ser wie von Eike Hen­nig im Vor­wort nach­drück­lich gefragt, war­um das Saar-Votum die Hit­ler-Oppo­si­ti­on und wahl­so­zio­lo­gi­sche Erwar­tun­gen auf faschis­mus­re­sis­ten­tes Ver­hal­ten so bit­ter ent­täuscht habe.

Die Ant­wort fie­le leich­ter, wenn nicht das Wünsch‑, son­dern das his­to­risch Erwart­ba­re den Erklä­rungs­maß­stab bil­de­te. Ken­ne ich doch kei­nen Modell­fall der neue­ren Welt­ge­schich­te, in der sich eine Bevöl­ke­rung weni­ge Jah­re nach der gewalt­sa­men Tren­nung vom staat­li­chen Gesamt­kom­plex (ein­schließ­lich der gewohn­ten Sprachund Kul­tur­zu­ge­hö­rig­keit) nicht für schnellst­mög­li­che Rück­glie­de­rung aus­ge­spro­chen hätte.

Inso­fern ist demo­sko­pisch gar nichts Über­ra­schen­des gesche­hen. Denn man durf­te als For­scher natür­lich nie­mals die Ergeb­nis­se der Saar-Wahl von 1932 zugrun­de­le­gen und dar­aus schlie­ßen, welch unvor­her­seh­ba­re Mei­nungs­er­o­si­on sich voll­zo­gen habe.

Von 33 Pro­zent Stim­men für Kom­mu­nis­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten aus­zu­ge­hen, ein gutes Drit­tel der 43 Pro­zent fürs Zen­trum zu addie­ren und dar­aus auf eine Mehr­heit gegen Deutsch­land zu spe­ku­lie­ren, war schlicht eine Milchmädchenrechnung.

Denn das 1932er Resul­tat betraf ja Par­tei­prä­fe­ren­zen, aber kei­ne natio­na­le Schick­sals­sfra­ge, bei der selbst Par­tei­mit­glie­der nie­mals einer Deutsch­land-skep­ti­schen Füh­rung gefolgt wären. Ver­nünf­ti­ger geht man von einer fast hun­dert­pro­zen­ti­gen Zustim­mung zum Anschluß aus, die bis zum 13. Janu­ar 1935 auf 91 Pro­zent abschmolz.

Mehr zu erhof­fen, hät­te gera­de­zu sen­sa­tio­nell güns­ti­ge Pro­pa­gan­da­vor­aus­set­zun­gen erfor­dert. Daß es dar­an fehl­te, weist Pauls Stu­die ja über­zeu­gend nach.

VIII. Auch das Refe­ren­dums­er­geb­nis 1955 wird mitt­ler­wei­le nicht mehr als die Selbst­ver­ständ­lich­keit bewer­tet, die es ist. Schließ­lich pro­du­zier­te selbst die gro­ße Wie­der­ver­ei­ni­gung 1989 bei nicht weni­gen Intel­lek­tu­el­len erheb­li­ches Bauch­grim­men, allen vor­an Gün­ter Grass, von DDR-Nost­al­gi­kern ganz abgesehen.

Völ­lig unvor­be­rei­tet, und ent­spre­chend panisch fie­len denn auch etli­che Reak­ti­on aus: Kapu­zi­nerpre­dig­ten, weil das »tum­be Volk« ihren Rat­schlä­gen und Prä­mis­sen nicht folg­te. Die hei­mi­sche Dis­kus­si­ons­folk­lo­re bringt es mit sich, daß dabei auch das dis­kurs­aus­gren­zen­de Tot­schlag-Argu­ment »Faschis­mus« nicht feh­len durfte.

Auch das ein Moment deut­scher Kon­ti­nui­tät – aller­dings eine hier nicht zu ver­tie­fen­de ande­re Sto­ry. Ich hal­te inne und rela­ti­vie­re mei­ne Anti­the­se ein wenig selbst: Denn der Wider­spruch gegen den Anschluß an NS-Deutsch­land scheint mora­lisch zwin­gend und inkom­pa­ti­bel mit dem, was gegen­wär­tig (zumin­dest von Regie­rungs­sei­te) offen­bar frei über Euro­pa ver­ein­bart wurde.

Und das Natio­nen­rech­te beschrän­ken­de Gemein­schafts­pro­jekt liegt nicht auf der glei­chen Ebe­ne wie nach Krie­gen ver­füg­te Gebiets­ab­tren­nun­gen, selbst wenn kein Gerin­ge­rer als Hans Magnus Enzens­ber­ger die EU als »sanf­tes Mons­ter« klassifizierte.

Ver­gleich­bar ist den­noch eine zumin­dest schlei­chen­de Ent­rech­tung der jewei­li­gen Bevöl­ke­rung, die erlebt, wie nie­mals ple­bis­zi­tär, son­dern ledig­lich in dubio­ser Reprä­sen­ta­ti­vi­tät über ihre wich­tigs­ten Anlie­gen ver­fügt wird. Pro­phe­tie gehört gewiß nicht zu den genui­nen Auf­ga­ben des His­to­ri­kers. Gleich­wohl wage ich die Pro­gno­se, daß die gegen­wär­ti­ge dis­kur­si­ve Beer­di­gung der Nati­on – es sei denn, man befas­se sich mit Kunst­ge­bil­den wie der Ukrai­ne – zu früh erfolgt.

Des­glei­chen, daß es nicht genü­gen wird, den Welt­staat oder die EU schlicht von Glo­bal-Play­er-Eli­ten her aus­zu­ru­fen und alle gegen­läu­fi­gen Emp­fin­dun­gen in bemer­kens­wer­ter argu­men­ta­ti­ver Schlicht­heit als »Popu­lis­mus« zu ver­teu­feln. (Letz­te­rer übri­gens, sofern denun­zia­to­risch ver­wen­det, ein gera­de­zu ver­rä­te­ri­scher Begriff. Zeigt er doch, wie pein­lich der poli­ti­schen Klas­se die Rück­kop­pe­lung zum »Volk« erscheint.)

Wer dies­be­züg­lich von einem »Ende der Geschich­te« träumt, wird noch man­che Über­ra­schung erle­ben wie jene, die den Fak­tor Reli­gi­on all­zu früh mar­gi­na­li­siert hat­ten, weil sie selbst nur glo­ba­len zivil­re­li­giö­sen Direk­ti­ven folgen.


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