Konturen einer gefühlten Krise

PDF der Druckfassung aus Sezession 87/Dezember 2018

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

Deutsch­land gilt als eines der wohl­ha­bends­ten Län­der der Welt; seit Jah­ren boomt die Wirt­schaft auf einem Niveau, das vie­le mitt­ler­wei­le für selbst­ver­ständ­lich hal­ten. Trotz eines in der deut­schen Geschich­te wohl ein­zig­ar­ti­gen Wohl­stands­ni­veaus hat sich eine Kri­sen­stim­mung aus­ge­brei­tet, die das Land »spal­tet«, um es im heu­ti­gen Medi­en- und Poli­ti­ker­jar­gon zu sagen.

»Spal­ter« sind vor allem die soge­nann­ten Popu­lis­ten, die angeb­lich mit Halb- oder Unwahr­hei­ten Haß und Zwie­tracht unter den Deut­schen säen und das gewünsch­te Bild einer »welt­of­fe­nen Gesell­schaft« in Fra­ge stel­len. Deutsch­lands Anse­hen in der Welt wer­de damit, so die Ansicht füh­ren­der Ver­tre­ter von Poli­tik, Wirt­schaft und Medi­en, »beschä­digt«.

Vie­le Bun­des­bür­ger, die des­sen unge­ach­tet Anzei­chen einer schwe­len­den Kri­se orten, sehen sich in einen Zustand getrie­ben, der mit dem Begriff der kogni­ti­ven Dis­so­nanz umschrie­ben wer­den kann. Psy­cho­lo­gen mei­nen damit einen Gefühls­zu­stand, den Men­schen ver­spü­ren, wenn sie mit­ein­an­der unver­ein­ba­ren Wahr­neh­mun­gen, Gedan­ken oder Mei­nun­gen aus­ge­setzt sind.

Die­se Dis­kre­panz wird um so stär­ker emp­fun­den, je mehr Erkennt­nis­se gewon­nen wer­den, die nicht mit den eige­nen Ein­stel­lun­gen in Über­ein­stim­mung zu brin­gen sind. Die mensch­li­che Reak­ti­on auf die­se Situa­ti­on besteht in der Regel dar­in, die­se gegen­sätz­li­chen Ten­den­zen mit­ein­an­der ver­ein­bar zu machen.

Not­falls wer­den dafür auch Über­zeu­gun­gen und Wer­te ver­än­dert, was sich poli­tisch unter ande­rem in einem grund­sätz­lich ande­ren Wahl­ver­hal­ten arti­ku­liert. Die Aus­lö­ser kogni­ti­ver Dis­so­nanz in Deutsch­land sind man­nig­fal­tig. Selbst die aktu­ell wirt­schaft­lich gute Lage steht auf schwan­ken­dem Grund.

So ist Deutsch­land zwei­fels­oh­ne einer der Haupt­pro­fi­teu­re der Geld­druck- und Nied­rig­zins­po­li­tik der Euro­päi­schen Zen­tral­bank. Dadurch kommt es aller­dings zu Fehl­ent­wick­lun­gen, an denen die Deut­schen noch lan­ge knab­bern wer­den: Gemeint sind damit unter ande­rem die dra­ma­ti­sche Ent­eig­nung der Spa­rer und die Fehl­al­lo­ka­tio­nen der Geld­flüs­se in Immo­bi­li­en- und Akti­en­bla­sen, die in einer Kri­se schwe­re Ver­lus­te ver­ur­sa­chen könnten.

Auch der Rekord­stand an Erwerbs­tä­ti­gen, mit dem die Poli­ti­ker der eta­blier­ten Par­tei­en hau­sie­ren gehen, erweist sich bei nähe­rem Hin­se­hen als Schi­mä­re. Der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Gun­nar Hein­sohn hat hier die Gegen­rech­nung auf­ge­macht: Von den rund 40 Mil­lio­nen Erwerbs­tä­ti­gen (Stand 2016) in Deutsch­land erhiel­ten 13 Mil­lio­nen mehr zurück, als sie an Steu­ern zahlten.

Von den ver­blei­ben­den 27 Mil­lio­nen Net­to-Steu­er­zah­lern wür­den zwölf Mil­lio­nen direkt oder indi­rekt aus Staats­töp­fen bezahlt. Net­to-Steu­er­zah­ler sind also nur die­je­ni­gen, die mehr Steu­ern und Abga­ben zah­len, als sie an staat­li­chen Umla­gen oder Leis­tun­gen zurück­er­hal­ten – 15 Mil­lio­nen Net­to-Steu­er­zah­ler in Deutsch­land also.

Sie nun hät­ten ihr Geld gegen natio­na­le und inter­na­tio­na­le Kon­kur­renz zu ver­die­nen. Acht Mil­lio­nen davon, unter 44 Jah­re alt und in inter­na­tio­na­ler Kon­kur­renz ste­hend, wür­den von den glo­ba­len Wett­be­wer­bern umwor­ben. Wer die­se zehn Pro­zent Leis­tungs­trä­ger der Nati­on nur als »Duka­ten­esel« sehe, ver­spie­le nach Hein­sohn die Zukunft.

Der anhal­ten­de »brain drain« von Leis­tungs­trä­gern aus die­sem Seg­ment ins kon­kur­rie­ren­de Aus­land sei des­halb mehr als ein Alarm­si­gnal. Die Ein­wan­de­rungs­po­li­tik der Wett­be­wer­ber Deutsch­lands, sei­en es die ang­lo­säch­si­schen Staa­ten, aber auch zum Bei­spiel die Schweiz, hat die­se Leis­tungs­trä­ger im Blick.

Sie müs­sen in die­sen Län­dern nur 25 Pro­zent ihres Ver­diens­tes als Steu­ern abge­ben, anstatt 50 Pro­zent hierzulande. Die Anrei­ze für die Zuwan­de­rung Bil­dungs­fer­ner wird dort erschwert, sodaß eine Ein­wan­de­rung in die Sozi­al­sys­te­me weit­ge­hend unter­bun­den ist.

Die­se Län­der sind im wei­te­ren skep­tisch im Hin­blick auf eine »päd­ago­gi­sche Ver­bes­se­rung der Neu­an­kömm­lin­ge«. Dem­ge­gen­über hängt die deut­sche Poli­tik wei­ter der Illu­si­on an, durch Inte­gra­ti­ons­maß­nah­men aller Art (»Will­kom­mens­kul­tur«) jeden belie­bi­gen Zuwan­de­rer in die deut­sche Gesell­schaft ein­glie­dern zu können.

Indi­ka­to­ren, an dem die kri­sen­haf­te Stim­mung abge­le­sen wer­den kann, sind »popu­lis­ti­sche« Strö­mun­gen und Par­tei­en, aber auch die sozia­len Medi­en. Was sich dort abspie­le, so Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er in der Zeit, erin­ne­re ihn mitt­ler­wei­le an die Miß­ach­tung und Ver­ächt­lich­ma­chung der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen in der Wei­ma­rer Demokratie.

Die erreg­ten Aus­brü­che in den sozia­len Medi­en, aber auch in den Kom­men­tar­funk­tio­nen eta­blier­ter Medi­en im Netz, ste­hen pars pro toto für die tief­grei­fen­de Ver­un­si­che­rung eines Gemein­we­sens, das sich seit der Mer­kel­schen Grenz­öff­nung im Sep­tem­ber 2015 sei­ner selbst nicht mehr gewiß ist.

Sozi­al­wis­sen­schaft­ler aller Cou­leur bemü­hen sich seit Jah­ren, die­ses Phä­no­men auf den Begriff zu brin­gen. »Post­de­mo­kra­tie« ist einer die­ser Begrif­fe, mit dem man das sich aus­brei­ten­den­de Unbe­ha­gen zu erfas­sen ver­sucht. Der bri­ti­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und Sozio­lo­ge Colin Crouch hat die­sen Begriff bekannt gemacht.

In sei­nem 2008 ins Deut­sche über­setz­te gleich­na­mi­ge Buch defi­niert er »Post­de­mo­kra­tie« als »Gemein­we­sen, in dem zwar nach wie vor Wah­len abge­hal­ten wer­den«, in dem aller­dings »kon­kur­rie­ren­de Teams von PR-Exper­ten die öffent­li­che Debat­te wäh­rend der Wahl­kämp­fe so stark kon­trol­lie­ren, daß sie zu einem rei­nen Spek­ta­kel verkommen«.

Es wür­de nur noch über die Pro­ble­me dis­ku­tiert, die die Exper­ten zuvor aus­ge­wählt hät­ten. Die Demo­kra­tien west­li­chen Zuschnitts näher­ten sich dem Zustand der »Post­de­mo­kra­tie« immer wei­ter an, was zur Fol­ge habe, daß der »Ein­fluß pri­vi­le­gier­ter Eli­ten« zunehme.

Der Fokus aller­dings, den Crouch gewählt hat, ist bei wei­tem nicht umfas­send genug, um die Kon­tu­ren des heu­ti­gen Kri­sen­ge­fühls abzu­bil­den und zu deu­ten. Crouchs Per­spek­ti­ve ist eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche, sein Feind­bild der soge­nann­te Neoliberalismus.

Der lin­ke Publi­zist Robert Misik hat­te rich­tig erkannt, Crouch hät­te vor allem der »euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie Selbst­be­wußt­sein geben« und ihr »Klar­heit über ihre Auf­ga­ben ver­schaf­fen« wol­len. Nicht zuletzt die aktu­el­len desas­trö­sen Wahl­er­geb­nis­se der SPD aber zei­gen, daß Crouchs Intentionen ins Lee­re gelau­fen sind. Sei­ne Lage­ana­ly­se ist offen­bar unzureichend.

Statt­des­sen erle­ben »popu­lis­ti­sche« Strö­mun­gen und Par­tei­en Zulauf. Die­ser Zulauf läßt die Ver­or­tung der unter­schwel­li­gen Kri­se in eine ganz ande­re Rich­tung ange­zeigt erschei­nen. Ihr ist der in Eng­land leh­ren­de unga­risch­stäm­mi­ge Sozio­lo­ge Frank Fure­di auf der Spur.

Fure­di dia­gnos­ti­ziert einen grund­le­gen­den Kon­flikt, den er als euro­päi­schen Krieg der Kul­tu­ren und Wer­te bezeich­net und der mit den Kate­go­rien links und rechts nicht mehr zu fas­sen sei. Das, was heu­te unter den Begriff »Popu­lis­mus« sub­su­miert wer­de, sei die mora­li­sche Schul­dig­spre­chung oppo­si­tio­nel­ler auto­chtho­ner Euro­pä­er durch ihre Eliten.

Popu­lis­ten sei­en frem­den­feind­lich, ras­sis­tisch, reak­tio­när, irra­tio­nal und Ver­tre­ter einer Lebens­wei­se, die von den Ver­tre­tern der »Eli­ten« in der Regel als »rück­wärts­ge­wandt« denun­ziert wird. Die­se »popu­lis­ti­sche« Kli­en­tel wie­der­um ist durch ihre kla­re Absa­ge an die Kul­tur und Wer­te der west­li­chen (=trans­at­lan­ti­schen) Eli­ten gekennzeichnet.

Hier­zu gehö­ren der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, die Glo­ba­li­sie­rung und das, was Fure­di »Iden­ti­täts­po­li­tik« nennt. Zur Gene­se und aktu­el­len Bedeu­tung der »Iden­ti­täts­po­li­tik« hat sich Fure­di unter ande­rem in der Neu­en Zür­cher Zei­tung aus­führ­li­cher geäu­ßert; in die­sem Bei­trag wird deut­lich, wie die­se Poli­tik zu einem Fak­tor des heu­ti­gen Kri­sen­be­wußt­seins wer­den konnte.

Die Poli­ti­sie­rung der Iden­ti­täts­fra­ge im spä­ten 18. Jahr­hun­dert war, so Fure­di, zunächst eine »Reak­ti­on kon­ser­va­ti­ver Kräf­te auf die Auf­klä­rung und ins­be­son­de­re auf deren Bekennt­nis zum Uni­ver­sa­lis­mus«. Die Kon­ser­va­ti­ven setz­ten dage­gen, daß die ein­zig bedeut­sa­me Iden­ti­tät »die­je­ni­ge spe­zi­fi­scher Völ­ker und Grup­pen« sei.

Nach und nach sicker­te die­se Vor­stel­lung »distink­ter kul­tu­rel­ler Prä­gun­gen in den Dis­kurs des Natio­na­lis­mus ein«. All dies stand, so Fure­di, »dem Geist der Auf­klä­rung dia­me­tral ent­ge­gen«. Wie konn­te es nun dazu kom­men, daß Iden­ti­täts­po­li­tik zum Anlie­gen der Lin­ken wer­den konnte?

Fure­di und aus­führ­lich der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Mathi­as Hil­de­brandt in sei­ner Arbeit Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und Poli­ti­cal Cor­rect­ness in den USA, zeich­nen nach, wie sich auf Sei­ten der Lin­ken der Fokus vom Klas­sen­kampf auf die Iden­ti­täts­fra­ge ver­scho­ben hat.

Die Unter­stüt­zung von Befrei­ungs­be­we­gun­gen in der Drit­ten Welt, aber auch der Bür­ger­rechts­be­we­gung in den USA (ins­be­son­de­re die der Afro­ame­ri­ka­ner) wur­de für die Lin­ke in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren zur »Haupt­quel­le radi­ka­ler Identität«.

Damit ver­bun­den war eine »Abkehr von gesell­schaft­lich breit abge­stütz­ten Inter­es­sen und die Hin­wen­dung zu par­ti­ku­lä­ren Anlie­gen«. Fure­dis zen­tra­le The­se lau­tet nun, daß sich der »schrump­fen­de Erwar­tungs­ho­ri­zont der Lin­ken«, deren neu­es Selbst­ver­ständ­nis sich mehr und mehr in der »kul­tu­rel­len Wen­de« fokus­sier­te, zuneh­mend zu einer Distan­zie­rung von ihrem Kern­an­lie­gen, der »gesell­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät«, führte.

Die bedeut­sams­te Fol­ge die­ser Ent­wick­lung war eine »Sakra­li­sie­rung der Iden­ti­tät«. Die Idea­le der »Dif­fe­renz« und der »Diver­si­tät« (Viel­falt) ver­drän­gen das der Soli­da­ri­tät. Die­se Iden­ti­täts­fo­kus­sie­rung lud sich in den 1970er Jah­ren durch die Poli­ti­sie­rung der Opfer­rol­le wei­ter auf; gan­ze Grup­pen mach­ten sich die­sen Sta­tus zu eigen.

Die Opfer­rol­le ist mit einer Immu­ni­sie­rung ver­bun­den. Opfer sind »a prio­ri schuld­los«; ihnen wächst »mora­li­sche Auto­ri­tät« zu. Ein mar­kan­ter Wesens­zug heu­ti­ger Iden­ti­täts­po­li­tik ist ihre Ten­denz zur Abschot­tung und Individualisierung.

Zu beob­ach­ten ist eine stän­di­ge Zunah­me von Grup­pen, die sich auf Iden­ti­tät beru­fen, von der »Mehr­heits­ge­sell­schaft« sepa­rie­ren und damit die Frag­men­tie­rung des Gemein­we­sens beför­dern. Poli­tisch wird die­se Frag­men­tie­rung mit dem Begriff »Diver­si­tät« (Viel­falt) über­tüncht, der sich, ange­sto­ßen von der EU, seit Ende der 1990er Jah­re zur Unter­schei­dung und Aner­ken­nung von Grup­pen- und indi­vi­du­el­len Merk­ma­len ein­ge­bür­gert hat.

»Diver­si­tät« müs­se, so deren Pro­pa­gan­dis­ten, als gesell­schaft­li­che und beson­ders als öko­no­mi­sche »Res­sour­ce« betrach­tet wer­den. Tat­säch­lich ist sie Aus­druck einer immer wei­ter vor­an­schrei­ten­den gesell­schaft­li­chen Hete­ro­ge­ni­tät und Frag­men­tie­rung, die das Gemein­schafts­ge­fühl zuneh­mend erodiert.

Befeu­ert wird die­se Ent­wick­lung durch eine unre­gu­lier­te Migra­ti­ons­po­li­tik, die zum Treib­satz gesell­schaft­li­cher Spal­tung gewor­den ist; inso­fern han­delt es sich hier tat­säch­lich um die »Mut­ter aller Pro­ble­me«, wie Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer feststellte.

Daß ein Groß­teil der Migran­ten nicht mehr aus Grün­den ras­si­scher, poli­ti­scher oder reli­giö­ser Ver­fol­gung nach Euro­pa und ins­be­son­de­re nach Deutsch­land drängt, son­dern aus ande­ren Moti­ven, ist mitt­ler­wei­le evi­dent. Sie kämen, so resü­mier­te der öster­rei­chi­sche Publi­zist Andre­as Unter­ber­ger auf sei­nem Blog, zum einen um Arbeit zu fin­den (die es für vie­le auf­grund man­geln­der Qua­li­fi­zie­rung nicht gebe), zum ande­ren, weil die Aus­sicht auf Sozi­al­leis­tun­gen aller Art locke oder drit­tens, weil sie kri­mi­nel­le Absich­ten hätten.

Daß der deut­sche Staat die­sem Zustrom kaum etwas ent­ge­gen­setzt, hat maß­geb­lich zu einer unter­schwel­li­gen Kri­sen­stim­mung geführt, die das Auf­kom­men »popu­lis­ti­scher« Strö­mun­gen begüns­tigt hat. Die­se Stim­mung wird durch die sich aus­brei­ten­de orga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät wei­ter ange­facht, die das Sicher­heits­ge­fühl vie­ler Bür­ger ins­be­son­de­re in den Groß­städ­ten immer wei­ter beeinträchtigt.

Min­des­tens eben­so schwer wögen nach Unter­ber­ger die gra­vie­ren­den Fehl­ent­wick­lun­gen auf EU-Ebe­ne, sei­en es nun die Miß­ach­tung eige­ner Beschlüs­se oder Geset­ze, die Grie­chen­land-Ret­tungs­po­li­tik, Über­re­gu­lie­rung, die expan­si­ve Geld­po­li­tik der EZB und ande­res mehr.

Die­se Fehl­ent­wick­lun­gen ste­hen in direk­ter Kor­re­la­ti­on zur Kri­se der Par­tei­en­de­mo­kra­tie; die lan­ge herr­schen­den Volks­par­tei­en wir­ken ange­sichts der kom­ple­xen poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen über­for­dert. Das hängt auch mit dem poli­ti­schen Per­so­nal zusam­men, das bes­ten­falls die per­so­na­li­sier­te Mit­tel­mä­ßig­keit ihrer Par­tei­en repräsentiert.

Der Exis­tenz­kampf der SPD ist ein signi­fi­kan­ter Aus­druck die­ser Kri­se; aber auch schrump­fen­de Mit­glie­der­zah­len und zuneh­men­de Über­al­te­rung. Letzt­lich sind auch die aktu­el­len Wahl­er­fol­ge der Bünd­nis­grü­nen ein Aus­druck die­ser Kri­se, reprä­sen­tie­ren sie in Deutsch­land doch am stärks­ten kos­mo­po­li­ti­sche Positionen.

Sie ste­hen für die Über­be­to­nung indi­vi­du­el­ler Rech­te, offe­ne Gren­zen, für eine per­mis­si­ve Zuwan­de­rungs­po­li­tik, kul­tu­rel­len »Plu­ra­lis­mus« und für einen Umwelt­schutz ohne Maß und Ver­stand. Die­se Posi­tio­nie­rung ist mehr oder weni­ger auch das Cre­do der kos­mo­po­li­ti­schen Eli­ten in Wirt­schaft, Staat und Medi­en. Der »poli­ti­sche Dis­kurs der Herr­schen­den«, so kon­sta­tiert der Ber­li­ner Poli­to­lo­ge Wolf­gang Mer­kel, sei »zum herr­schen­den Dis­kurs gewor­den«. Daß die Kri­tik an die­sem Dis­kurs häu­fig »mora­lisch dele­gi­ti­miert« wer­de, habe den Rechts­po­pu­lis­ten den Kampf­be­griff der »poli­ti­schen Kor­rekt­heit« geliefert.

Mer­kel sieht die »popu­lis­ti­sche Revol­te« vor allem von der männ­li­chen Unter- und (unte­ren) Mit­tel­schicht getra­gen, und zwar als Reak­ti­on auf den »über­schie­ßen­den Kos­mo­po­li­tis­mus und Mora­lis­mus des Main­streams und der Bessergestellten«.

Mer­kel kri­ti­siert in die­sem Zusam­men­hang auch das funk­tio­na­lis­ti­sche »Pri­mär­ar­gu­ment« der Kos­mo­po­li­ten, die Welt sei mitt­ler­wei­le »so stark ver­netzt«, daß »trans­na­tio­na­le Pro­ble­me« nur natio­nal­staats­über­grei­fend bekämpft wer­den könnten.

Je »grö­ßer und kom­ple­xer aber die poli­ti­schen Räu­me« sei­en, um so weni­ger lie­ßen »sie sich demo­kra­tisch regie­ren«. Die Kos­mo­po­li­ten sind blind für die Ursa­chen der »popu­lis­ti­schen Revol­te«; sie haben kein Sen­so­ri­um für den Wert des Natio­nal­staa­tes, für die Angst vor dem Ver­lust von Hei­mat oder einer ver­trau­ten Lebens­welt, die sie, so Mer­kel, »als mora­lisch insuf­fi­zi­ent aus unse­ren Debat­ten ausgrenzen«.

Das gilt beson­ders im Hin­blick auf die Migra­ti­ons­po­li­tik und deren gesell­schafts- und kul­tur­ver­än­dern­de Fol­gen. Die hier­mit ver­bun­de­nen gra­vie­ren­den Ver­än­de­rungs­pro­zes­se brach­te der deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Yascha Mounk wie folgt auf den Punkt:

Es ist ein his­to­risch ein­zig­ar­ti­ges Expe­ri­ment, eine Demo­kra­tie zu neh­men, die die­se mono­eth­ni­sche Vor­stel­lung von sich sel­ber hat­te, und sie in eine mul­ti­eth­ni­sche Gesell­schaft umzuwandeln.

Nach Mounk gebe es »gro­ße Bevöl­ke­rungs­tei­le, ich zäh­le mich da hin­zu, die das will­kom­men hei­ßen, die das wun­der­bar« fän­den. Aber natür­lich gebe es »auch Tei­le der Gesell­schaft, denen das Ängs­te berei­tet und die sich dage­gen aufbäumen.«

Das müß­ten wir »offen aner­ken­nen«. Unge­ach­tet des­sen stellt Mounk in sei­nem Buch Der Zer­fall der Demo­kra­tie ein­sei­tig den »Rechts­po­pu­lis­mus« ganz im Sin­ne der kos­mo­po­li­ti­schen Eli­ten als »Gefahr für unse­re Demo­kra­tie« an den Pranger.

Es gibt der­zeit kei­ne Anzei­chen dafür, daß die kos­mo­po­li­tisch gestimm­ten Eli­ten die von Mounk ange­spro­che­nen »Ängs­te« aner­ken­nen könn­ten. Statt­des­sen wird den Prot­ago­nis­ten des »Popu­lis­mus« vor­ge­wor­fen, Feind­se­lig­kei­ten über­haupt erst zu erzeu­gen, »Ängs­te zu schü­ren« und »Haß« zu wecken.

Der Alt­his­to­ri­ker Egon Flaig hat die­se dar­aus fol­gen­de Argu­men­ta­ti­ons­me­cha­nik auf den Punkt gebracht:

Der hege­mo­nia­le Poli­tik­stil in den west­li­chen­Ge­sell­schaf­ten sucht nach einer dop­pel­ten Abhil­fe; zum einen soll das Recht die Kon­flik­te exem­pla­risch lösen oder unter­drü­cken; zum ande­ren soll eine mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­sche Leit­idee an die Stel­le der Ori­en­tie­rung auf Men­schen­rech­te und Demo­kra­tie treten.

Daß dar­aus Kon­flik­te erwach­sen, die sich admi­nis­tra­to­risch oder öko­no­misch nicht mehr befrie­den las­sen, hat Botho Strauß bereits vor 25 Jah­ren vor­aus­ge­se­hen, als er ankündigte:

Zwi­schen den Kräf­ten des Her­ge­brach­ten und denen des stän­di­gen Fort­brin­gens, Abser­vie­rens und Aus­lö­schens wird es Krieg geben.

Hier liegt der Kern einer Kri­se, die exis­ten­ti­el­ler Natur ist. Es ist eine Kri­se, die die Zukunft der Deut­schen nach­hal­tig ver­än­dern wird. Es hängt auch vom Erfolg der »popu­lis­ti­schen Revol­te« ab, ob im »euro­päi­schen Krieg der Kul­tu­ren und Wer­te« so etwas wie eine »natio­na­le Iden­ti­tät« erhal­ten wer­den kann.

In dem Maße, in dem sich die kos­mo­po­li­ti­schen Eli­ten einer grund­le­gen­den Kor­rek­tur ihrer gesell­schafts­po­li­ti­schen Kon­zep­te ver­wei­gern und jeg­li­che Kri­tik als ille­gi­tim aus­gren­zen, wird sich die schwe­len­de Kri­se wei­ter vertiefen.

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

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