Wenn die immense Schäden auslösende Dynamik global griff, erklärt sich das neben der technischen Möglichkeit des Netzes einfach aus der Angst, die kollektive Obsessionen steigert. Die medizinischen Experten riefen nach der Exekutive, und die Exekutive wiederum bediente sich zur Machtübernahme der Argumente der Experten. Innerhalb des herrschenden Alarmismus fiel kaum auf, wie über Gewaltenteilung und Recht hinwegregiert wurde. Eine Bevölkerungsmehrheit setzte unkritisch voraus, alles geschähe sicherlich guten Willens und wäre vermutlich genau so notwendig.
Furcht greift tief: Man frage einen Bekannten, ob er sich seinen ihm lang vertrauten Leberfleck an der Wange neuerlich genau angesehen hätte, der wiese doch ein paar Verfärbungen auf und sei, nun ja, nicht so ganz symmetrisch, sogar etwas ausgezackt, wie es scheine, so daß besser mal ein Hautarzt konsultiert werden sollte, schwarzer Hautkrebs wäre nun mal von hundertprozentiger Mortalität.
Mit diesem Impuls wird ein bisher unbeachteter Leberfleck plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken und argwöhnisch beobachtet – mit der Wahrnehmung, so ganz normal sähe er „tatsächlich“ nicht aus. Erst setzt Besorgnis ein, dann Angst, schließlich wird der Leberfleck zum Zentrum des Daseins und endlich wird abgeklärt, was nicht dringlich abgeklärt werden müßte.
Natürliche Furcht um das eigene Leben sollte nicht in panische Angst, darf aber schon gar nicht in Würdelosigkeit umschlagen. Mag sein, die Religion vermittelte früher wirksamen Trost, aber überhaupt zeigte man aus Erziehung oder Fatalismus in harten Zeiten Haltung und riß sich zusammen. Notfalls half immer noch Hiob oder tröstete bitter die Theodizee.
In unserer Gegenwart jedoch reagierten die Menschen schon lange vorm Auftreten des Wuhan-Virus hypochondrisch empfindlich, litten an unzähligen Unverträglichkeiten und Allergien, die sie wie Persönlichkeitsmerkmale herausstellten. Lactoseintoleranz und Glutenunverträglichkeit hatten etwas Besonderes, gerade wenn einem sonst wenige Besonderheiten zueigen waren, und schienen jedenfalls von hoher Empfindsamkeit zu zeugen. In der sterilen Sagrotan-Kultur der Überhygiene wurde die Natur überhaupt zum Feind, sogar Brot und Milch, nicht erst mit dem „neuartigen Corona-Virus“ von einem chinesischen Tierquälermarkt.
Keimfreiheit gilt als Mindestvoraussetzung, seitdem es die baulichen und chemischen Möglichkeiten dafür gibt. Daß sich dadurch multiresistente Erreger bildeten, nahm man in kauf, obwohl an ihnen weit mehr Menschen starben als am Corona-Virus. – Aber man wischte nicht immer so gründlich durch.
Und der Garten vorm Haus wurde erst in den letzten Jahren zur bereinigten Schotterfläche mit Trockengewächsen. Man desinfizierte sich im vorigen Jahrhundert außerhalb der Ärzteschaft nicht die Hände, sondern wusch sie einfach, wenn sie schmutzig waren. Das Deutsche Reich – in welcher Existenzform auch immer – hätte wegen der grassierenden Tuberkulose oder anderer Schübe von Infektionskrankheiten, die eine Menschheitsgeißel sind und bleiben, nicht Schlüsselbereiche seiner Wirtschaft und dazu das soziale Zusammenleben abgeschaltet, sondern Strukturen und Institutionen eher gestärkt.
Das wilhelminische Kaiserreich würde sich nicht mal so wie die vermeintliche Demokratie der Bundesrepublik das Recht genommen haben, derartig exekutiv mit furchtsamen Zustimmungsparlamenten oder gar über sie hinweg durchzuregieren. Die damalige Opposition, insbesondere die Arbeiterbewegung, hätte das gar nicht zugelassen.
Es geht nicht darum, unhygienische Zustände zu romantisieren. Aber ebensowenig wie früher allgegenwärtige Krankheitskeime können gegenwärtige Lebensgewohnheiten als „gesund“ gelten. Eine Einbauküche bedarf nicht der Sterilität eines OP-Saales. Und der Tod macht vorm Mundschutz nicht halt.
Heute klänge es zynisch, sagte man: Ja, der Mensch stirbt eben an Krankheiten. Einfache Tatsache! Daß jetzt diese Angst herrscht, ist nicht zuletzt das Ergebnis der Verdrängung der Allgegenwart des Todes. Spürbar gilt wieder: Memento mori! Wir sind zwar mit Bewußtsein, gar mit Geist gesegnet oder damit geschlagen, aber wir bleiben fragile Lebewesen. Luther: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Nach dem alten Kirchenlied „Media vita in morte sumus.“
„Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nötig, daß das ganze Weltall sich wappne, ihn zu zermalmen, ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Aber selbst wenn das Weltall ihn zermalme, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, daß er stirbt und kennt die Überlegenheit, die das Weltall über ihn hat, das Weltall aber weiß nichts davon. Unsere ganze Würde besteht also im Denken.“
So Blaise Pascal (1623–1662), der Mathematiker, Physiker und Philosoph, der übrigens sein Leben lang starke Schmerzen litt und sie aushielt. – Das Nachdenken, Einordnen, das Herstellen von Kontexten und Zusammenhängen, überhaupt das gründliche Analysieren und Kritisieren hätten auch diesmal wirksamer geholfen als der Mundschutz. Sapere aude! Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und nicht allein auf all die Verlautbarungen zu warten. Und darüber hinaus: Demut und Gelassenheit! Dinge hinnehmen, die man nicht ändern kann, das ändern, was man ändern kann, und die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.
Jetzt, da wirklich Gefahr in Verzug zu sein schien, war allzu vielen Leuten plötzlich alles, was über den Schutz des eigenen Lebens hinauswies, nahezu egal, politische Freiheitsrechte als erstes. Der wackere volltönende Citoyen schrumpfte mal wieder zum kleinen Bourgeios, der Erwachsene zum Kind, das sich vor allem Schutz wünschte und dafür Gehorsam gelobte. Was bislang als „unveräußerlich“ galt, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit etwa, hoben die Exekutiven und die ihnen plötzlich nachgeordneten Jasager-Parlamente sogleich auf.
Unterm Beifall der ängstlichen Bürger, die in Wochenfrist auf das verzichteten, was in der Neuzeit an Freizügigkeiten sehr langfristig und mühevoll errungen worden war. Verstöße gegen Bewegungseinschränkungen wurden sogleich denunziert, rigorose Überwachung mittels Big Data eingefordert, allumfassenden Tests verlangt und die öffentliche Identifizierung und Isolierung Infizierter so dringlich gewünscht, daß man mit dem Wort Quarantäne schon an Lager denken mußte, ganz zu schweigen von der propagandistisch-erzieherischen Bevormundung, die diese unheimliche Hygiene-Diktatur mit sich brachte.
Die didaktische Art der Staatsräson, der Nanny-Staat, wie es vor der Krise beinahe liebenswert hieß, war allerdings längst angelegt, mit einer sich als wohlwollend verstehenden Aufklärung zu Ernährungs- und überhaupt Lebensgewohnheiten, die bis ins Private hineinzuregieren versuchte. Mit Corona wurde die Nanny dann zur Domina.
Mit den kraft Angst widerspruchslos durchgesetzten Einschränkungen erlebte man, wie treffend Carl Schmitts Definition von Souveränität gerade für die Bunderepublik galt, die sich stets so liberal gegeben hatte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Man hatte den Eindruck, endlich war die Regierung ganz bei sich, und das tendenziell absolutistische Durchsetzen all der Maßnahmen erfolgte mit ernster Lust am Administrieren. Wir wissen noch gar nicht, was an Rechten noch abgeräumt werden wird.
Die Blockparteien von links bis Mitte sind mit der Corona-Krise als Demokraten weitgehend diskreditiert. Die wenigen Kritiker galten ihren Parteifreunden als völlig verantwortungslos. Weil das Robert-Koch-Institut noch jeden „positiv Getesteten“ für die Berechnung seiner exponentiellen Infektions- und Sterbekurven auf das Konto des „neuartigen Virus“ schlug und daher gar nicht genug testen konnte, verfügte die Regierung scheinbar über einen Autoritätsbeweis von „Experten“, um vormundschaftlich entscheiden zu können. Die Legislative trug Mundschutz und blieb zu Hause, weil ja angeblich nur so Leben gerettet werden konnten.
Nie war „Courage“ so einfach. Man brauchte nur auf die Regierung hören, schon galt man als tapferer Lebensretter. Weil die Bürger ebenfalls mehr von kleinmütiger Angst als vom Virus befallen waren, ließen sie alles zu, was sie Tage zuvor für gar nicht denkbar gehalten hatten, fühlten sie sich doch Anfang März noch mutvoll und engagiert – gegen rechts und mit Greta wie überhaupt. Plötzlich kuschten sie vor allen Entscheidungen, weil sie meinten, ihr Leben hinge daran.
Endlich mal so richtig durchziehen zu können, das vitalisierte insbesondere die sedierten und früher weitgehend funktionslosen Länderregierungen. Mediokre Machtmenschen wie der mecklenburgisch-vorpommersche Innenminister Lorenz Caffier, früher technischer Leiter einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, waren auf einmal hellwach und konnten „in der Krise“ endlich die Polizei mobilisieren und die Grenzen des Landes gegen Touristen absperren.
Man tat etwas und fühlte sich heroisch, während man früher immer nur verwalten durfte und nicht mal Außengrenzen meinte schließen zu können. Jetzt lösten Polizisten sogar Grillpartys auf und brieten den Teilnehmern Bußgelder über.
Daß schließlich die USA zum „Epizentrum der Pandemie“ avancierten, machte die Entscheidungsträger hierzulande erst richtig kirre und legitimierte die Ausweitung der nationalen Quarantäne. Man sollte jedoch nicht nur relativierend bedenken, wie das Gesundheitswesen in den USA beschaffen ist, sondern sich auch daran erinnern, daß dort gerade im Verlaufe der letzten Jahre massenhaft synthetische Opioide schon gegen Zahnschmerzen und Rückenbeschwerden verschrieben worden waren – mit dem Ergebnis einer ärztlich ausgelösten Drogenabhängigkeit Hunderttausender.
Eine Opioid-Epidemie, die den Staat aber nicht so aus der Ruhe brachte wie das Virus. Man starb ja nicht gleich dran, sondern „verhausschweinte“ auf dem Trip weiter.
Rilkes Schlußstück ist ein Schlußwort:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Monika
„Ich erwähnte bereits, dass Mama - soweit Derartiges möglich ist - keine Furcht vor dem Tod kannte. Heiter und bereitwillig sprach sie über den Tod und schilderte gern die letzten Augenblicke von Personen, die sie gekannt hatte. Da sie bei vollem Bewusstsein sterben wollte, und trotz ihrer Gallensteine, die häufig äußerst schmerzhafte Koliken auslösten, lehnte sie es strikt ab, dass man ihr irgendwelche Narkotika verabreichte . Sie hatte mir das Versprechen abgenommen, ihr - selbst wenn sie in letzter Minute sehr leiden sollte - unter keinen Umständen eine Morphiumspritze geben zu lassen, die sie bewusstlos machen würde. Dieses Versprechen nagte an mir, aber glücklicherweise stellte sich dieses schmerzhafte Problem nicht. Mama entschlief sanft, ohne zu leiden.“
Tatiana Alberti über den Tod ihrer Mutter Tatiana Suchotin-Tolstoi 1950 in Rom -
Tatiana Suchotin Tolstoi war das zweite der dreizehn Kinder Leo Tolstois