Der politische Schwenk der »Weltbühne« 1918/19

von Günter Scholdt
PDF der Druckfassung aus Sezession 87/Dezember 2018

Die Main­stream-Geschichts­schrei­bung hat die Schuld­fra­ge hin­sicht­lich der Zer­stö­rung der Wei­ma­rer Repu­blik gelöst. Sie zielt dabei vor allem auf eine von Anfang an bestehen­de Feind­schaft zur neu­erstan­de­nen Repu­blik und Demo­kra­tie. Daß es der­ar­ti­ge Aver­sio­nen gege­ben hat, sei nicht bestritten.

Doch woher die­se Unver­söhn­lich­keit rühr­te oder ob sie nicht zu einem Gut­teil pro­vo­ziert war, ver­dient die­sel­be Auf­merk­sam­keit. Die fol­gen­de Dar­le­gung wid­met sich die­sem Pro­blem am Bei­spiel des wohl kul­tu­rell pro­fi­lier­tes­ten Wei­ma­rer Links­or­gans: der von Sieg­fried Jacob­sohn her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift Die Welt­büh­ne.

Die Unter­su­chung kon­zen­triert sich auf die Über­gangs­pha­se 1918/19 vom deut­schen Frie­dens­ge­such im Sep­tem­ber bis zum Abschluß des Ver­sailler Ver­trags. Denn seit die­sem mili­tä­risch-poli­ti­schen Umschwung prak­ti­zier­te Jacob­sohn das, was man als »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung 1« bezeich­nen könnte.

Ob er und sei­ne Mann­schaft für die­se radi­ka­le Moh­ren­wä­sche mora­lisch befugt waren, wur­de in zeit­ge­nös­si­schen Pole­mi­ken breit erör­tert. Dabei brauch­te sich Jacob­sohn für die Kriegs­num­mern sei­ner Zeit­schrift kei­nes­wegs zu schä­men. Sie boten viel­mehr, ohne regie­rungs­feind­lich zu sein, Raum für pazi­fis­ti­schen Ein­spruch und zeig­ten nicht sel­ten Courage.

Als Gegen­ge­wicht ent­hiel­ten sie aber zugleich ihr gehö­ri­ges Quan­tum Affir­ma­ti­on, so daß ihre nun schlag­ar­tig ein­set­zen­de ätzen­de Kri­tik an allem, was bis­lang zum patrio­ti­schen Kanon gehör­te, sich nicht von selbst ver­stand. Auch Kurt Tuchol­sky, Arnold Zweig, Rudolf Leon­hard, Juli­us Bab, Maxi­mi­li­an Har­den und sein Bru­der Richard Wit­ting hat­ten ihre (publi­zis­ti­schen) Lei­chen im Keller.

So knöpf­te sich etwa Karl Kraus in sei­nen Ent­hül­lungs­kam­pa­gnen auch etli­che Welt­büh­ne-Autoren vor. Beson­de­ren Anstoß erreg­te ein von der Frank­fur­ter Zei­tung preis­ge­krön­tes Pro­pa­gan­da­ge­dicht von Tuchol­sky, der noch am 25.9.1918 mit locke­rer Zun­ge zur Zeich­nung der Kriegs­an­lei­he aufforderte.

Einen eindringlichen Appell in glei­cher Sache brach­te die Welt­büh­ne gar noch am 17. Okto­ber (!). Tem­pi pas­sa­ti! Jetzt jeden­falls distan­zier­te sich die neue Morale­li­te radi­kal von allem, was frü­her unter »Burg­frie­den« lief. Neben Jacob­sohn schlug Tuchol­sky hier­bei ver­bal die schärfs­te Klinge.

Als Kon­se­quenz der Nie­der­la­ge ver­lang­te er die rück­sichts­lo­se »Aus­bren­nung« aller von ihm aus­ge­mach­ten staat­li­chen wie gesell­schaft­li­chen Übel (9.1.19). Am 28.3.19 setz­te er hin­zu, »Haß« sei das Ein­zi­ge, »die­sem Vol­ke zu hel­fen«, das nicht auf »ver­sipp­tes Cli­quen­tum und gehor­sa­me Lüg­ner« beschränkt blei­ben dürfe.

Durch Beschimp­fung der bis­lang reprä­sen­ta­ti­ven, »ent­ar­te­ten spe­ci­es der gens huma­na« lobe man das bes­se­re Deutsch­land. Wei­te Schich­ten sei­en Unter­ta­nen à la Hein­rich Mann (28.3.19), Spie­ßer und Gewaltanbe­ter (13.3.19):

Die mili­ta­ris­ti­sche Schan­de Deutsch­lands ist nur mög­lich gewe­sen, weil sie die tiefs­ten und schlech­tes­ten Instink­te des Vol­kes befrie­digt hat (20.2.19).

Die Wil­hel­mi­ni­schen Eli­ten kari­kier­te er in Grund und Boden als unter­ge­hen­de, dem Auf­stand und Gericht ver­fal­le­ne Welt, bevöl­kert von bel­li­zis­ti­schen Land­rä­ten und preu­ßi­schen Pro­fes­so­ren, nach Krieg grö­len­den »Obris­ten­frau­en«, »Koks­ba­ron, Mon­okel­trä­ger, Bür­ger­lamm und Kar­rie­re­jä­ger« (24./31.10.18; 26.12.18; 22.5.19).

Mit der Armee, der er nicht zuletzt Kor­rup­ti­on vor­hielt, rech­ne­te er in der sechs­tei­li­gen Serie Mili­ta­ria ab (9.1. bis 20.2.19). Einen (selbst schar­fer Kri­tik auf­ge­schlos­se­nen) Reform­of­fi­zier brüs­kier­te er (28.3.19); sei­ne Funk­ti­on sei »Mord«. Kein »wert­vol­ler Mensch« wer­de »die­ser küm­mer­li­chen Ange­le­gen­heit sein Leben wid­men« (5.6.19).

Ins sel­be Horn stie­ßen Arnold Zweig, Juli­us Bab und Rudolf Leon­hard, deren eige­ne exzes­si­ve Apo­lo­gien des Krie­ges in des­sen Anfangs­jah­ren nun bigot­ter Amne­sie ver­fie­len. Jetzt war von vier­jäh­ri­gem »ver­bre­che­ri­schen Gehor­sam« und »unver­ant­wort­li­cher Geduld« des Bür­gers die Rede (Zweig 16.1.19), von Deut­schen als »Söld­nern des Natio­na­lis­mus« (Leon­hard 20.2.19), von gerecht­fer­tig­ten revo­lu­tio­nä­ren Über­grif­fen als »not­wen­di­ge Reak­ti­on gegen die tau­send­mal unheil­vol­le­re Gewalt, die so vie­le Jah­re lang von einer Herr­scher­kas­te ver­übt wur­de« (Bab 28.11.18).

Auch Alfons Gold­schmidt beklag­te Deutsch­lands poli­ti­sche Unrei­fe (31.10.18). Gewiß war jetzt der Zeit­punkt gekom­men, schwe­re Defek­te des Wil­hel­mi­ni­schen Staats und sei­ner Gesell­schaft auf­zu­ar­bei­ten, und deren Eli­ten hat­ten sich ihrer Ver­ant­wor­tung zu stellen.

Aber eine manich­äi­sche Welt­sicht, die (deut­sche) Dienst­be­rei­te zu Ver­bre­cher- oder Knechts­na­tu­ren und ihre Oppo­nen­ten zu frei­heits­be­wuß­ten Phil­an­thro­pen erklär­te, för­der­te kaum eine zu schaf­fen­de Frie­dens­kul­tur. Nach­träg­li­che Recht­ha­be­rei kam hinzu.

Eine Zeit­schrift, die sich sonst um Stra­te­gie nicht scher­te, lan­cier­te nun, von Per­si­us bis Miles, gan­ze Seri­en, in denen kata­stro­pha­le mili­tä­ri­sche Irr­tü­mer oder Ver­säum­nis­se auf­ge­zählt und als sys­tem­be­dingt gedeu­tet wur­den. Zwar wim­melt die Kriegs­ge­schich­te aller Zei­ten und Län­der davon, und fast jede gro­ße Ope­ra­ti­on ent­hält sie als Begleiterscheinung.

Aber wo Ver­dam­mung ange­sagt war, unter­blieb Ver­ständ­nis: etwa dafür, daß Deutsch­land wie sei­ne Fein­de Macht­po­li­tik trieb oder sich man­che Fehl­ent­schei­dung aus einer Zwangs­la­ge erklärt. Das galt beson­ders für den unbe­schränk­ten U‑Boot-Krieg. Natür­lich war die­se Eska­la­ti­on höchst pro­ble­ma­tisch, wenn nicht gar kriegsentscheidend.

Aber war sie auch gänz­lich abwe­gig oder gar kri­mi­nell? Lag die Ten­denz eines rigo­ro­sen Vor­ge­hens gegen Eng­lands Ver­sor­gung nicht nahe ange­sichts einer völ­ker­recht­lich umstrit­te­nen bri­ti­schen Blo­cka­de, die eine knap­pe Mil­li­on Deut­sche an Unter­ernäh­rung ster­ben ließ?

Sei­ten­wei­se wur­den nun Namen und Zita­te von mili­tä­ri­schen und ande­ren »Unheil­stif­tern« publi­ziert (14./21.11.18), Kriegs­op­ti­mis­ten (aller­dings nur im geg­ne­ri­schen Lager) mit ihren Aus­sa­gen von 1914 kon­fron­tiert. Jeder, der den ver­schärf­ten See­krieg befür­wor­tet, ver­meint­li­che alli­ier­te Frie­dens­füh­ler über­se­hen, zu Real­po­li­tik gera­ten oder anti­eng­lisch argu­men­tiert hat­te, stand am Pran­ger (10./17.10.18; 7.11.18).

Man­che Kri­tik war berech­tigt, etwa gegen Richard Deh­mels und Wal­ter Rathen­aus Volks­sturm-Pro­jek­te, die das Kriegs­un­heil in letz­ter Minu­te nur noch ver­mehrt hät­ten (31.10.18). Doch befrem­det allein schon die mar­tia­li­sche Spra­che, deren sich allen vor­an Jacob­sohn plötz­lich bediente.

Am 24. Okto­ber droh­te er der Vater­lands­par­tei, bald wür­den ihre »Füh­rer und Ein­peit­scher was erle­ben, und es wird viel­leicht ihr letz­tes Erleb­nis sein«. Und am 31.10. hieß es auf Leser­kri­tik hin:

Sie bekla­gen sich über den Ton mei­nes Blat­tes? Da weiß ich Ihnen ein siche­res Mit­tel: befrei­en Sie mich von Ihrem Leser­tum, und das schnells­tens. Denn, unter uns: wenn Sie jetzt schon »pein­lich berührt« sind – es wird mit jeder Woche schlimmer.

Jetzt nimmt man, frei­wil­lig und lei­der auch unfrei­wil­lig, noch Rück­sich­ten. Aber soll­te die Schwei­ne­rei je zu Ende sein, und soll­te ich die­ses Ende erle­ben, so wird hier ein Ton gepfif­fen wer­den, ein Tön­chen, daß euch Hören und Sehen vergeht.

Es ist ein Wun­der, daß wir an all dem Jam­mer jeder Art, den wir all die­se Jah­re stumm hin­un­ter­wür­gen muß­ten, nicht unrett­bar erstickt sind – und da ver­lan­gen Sie, daß eine Stun­de län­ger, als unbe­dingt nötig, hin­un­ter­ge­würgt wird? O nein, lie­be Lise. […] Also, Lei­se­tre­ter und dei­nes­glei­chen: befreit mich von euerm Lesertum!

Zudem ver­tei­dig­te er die Zen­sur der neu­en Macht­ha­ber gegen­über natio­na­len Blät­tern. Denn man­che Bestra­fung sei »Luft­rei­ni­gung«: »zum Bei­spiel, daß man die schmut­zi­ge Hure des Ver­la­ges August Scherl von dem ehr­ba­ren Strich der Zim­mer­strich­stra­ße gejagt hat: der Ber­li­ner Lokal-Anzei­ger heißt bis auf wei­te­res ›Die rote Fahne‹.

Und daß man dem Genos­sen Bern­hard das Groß­maul gestopft hat: auf Befehl des Arbei­ter- und Sol­da­ten-Rates muß er in sei­nem Ver­bre­cher­blatt erklä­ren, es wer­de sich zunächst auf die Wie­der­ga­be von Nach­rich­ten beschrän­ken« (14.11.18).

Wer selbst »so lan­ge die öffent­li­che Mei­nung ver­ge­wal­tigt« habe, wer­de nun eben »selbst ver­ge­wal­tigt« (21.11.18). Georg Bern­hard von der Vos­si­schen Zei­tung sei vom Staats­ge­richts­hof zu bestra­fen (7.11.18) und Kri­tik vom Tür­mer wies er macht­be­wußt zurück: »Von dir nicht […]. Kusch!«
(26.12.18)

Tier­me­ta­phern wur­den gän­gig. All­deut­sche oder regie­rungs­freund­li­che Jour­na­lis­ten ver­glich Jacob­sohn mit »Preß­kö­tern«, »Blut­hun­den«, Wan­zen, die vom »Insek­ten­pul­ver« lei­der nicht ver­hin­dert wür­den, oder »pin­keln­den Hun­den« mit einem Unter­schied: »das Hundchen ist mit Geduld und Prü­gel zur Sau­ber­keit zu erzie­hen – ihr hin­ge­gen wer­det bei jeder Gele­gen­heit neue Fer­ke­lei­en bege­hen« (7./14.11.18; 6.12.18).

Arnold Zweig sah im Heer das »tie­rischs­te aller Knech­tungs­sys­te­me« (16.1.19). Tuchol­sky agi­tiert gegen »das Getier« von Ordens­rit­tern und Hei­mat­of­fi­zie­ren (28.11.18) oder wünsch­te, daß kei­ner mit reak­tio­nä­rem »Vieh« Erbar­men hät­te (17.4.19). Auch sei es völ­lig gleich­gül­tig, »ob Noske im guten Glau­ben« gehan­delt habe.

Er ist ein Schäd­ling, denn schlim­mer als die exploi­tie­ren­den Rei­chen sind ihre Hand­lan­ger (15.5.19).

Als Stei­ge­rung ver­ba­ler Ver­ro­hung blieb nur noch sein lite­ra­ri­sches Koket­tie­ren mit Lynch­jus­tiz, dem sich Leon­hard anschloß (10./17.10.18).

Noch fol­gen­rei­cher waren zeit­ge­schicht­li­che Ein­las­sun­gen. Denn die Welt­büh­ne zeich­ne­te ein Deutsch­land-Bild, das auf Bestä­ti­gung alli­ier­ter Vor­wür­fe und Kriegs­vor­wän­de hin­aus­lief und auch reform­wil­li­ge Kriegs­heim­keh­rer ver­stö­ren mußte.

Bereits am 14. Okto­ber schrieb Jacobsohn:

Zu glau­ben, daß die Welt sich drei sol­che Ver­bre­chen wie den Ein­bruch in Bel­gi­en, den U‑Boot-Krieg und den Bres­ter Frie­den gefal­len las­sen dürf­te und wür­de – das zu glau­ben, war eine Sache von ver­pes­te­ten Klein­ge­hir­nen, deren voll­stän­di­ge Ver­nich­tung jedem Ver­such zum Wie­der­auf­bau vor­an­zu­ge­hen hatte.

Den Scharf­ma­cher gab auch Richard Wit­tin­gali­as Wit­kow­ski, Bank­di­rek­tor, »Kai­ser­ju­de« gemäß Cha­im Weiz­manns Dik­ti­on, zu Kriegs­be­ginn stramm natio­nal, spä­ter Stich­wort­ge­ber der Wei­ma­rer Ver­fas­sung. Unter dem Pseud­onym Georg Metz­ler for­der­te er nun, Kai­ser Wil­helm und sei­ne Regie­rung sei­en vom Staats­ge­richts­hof abzuurteilen.

Er nann­te die »Phra­se« vom deut­schen Ver­tei­di­gungs­krieg eine »ver­ruch­te Lüge« und erstell­te Schuld­gut­ach­ten gegen Deutsch­land, als hät­te ihn die Entente beauf­tragt (28.11.18;9.1./13.2.19). Hein­rich Strö­bel sprach von deut­scher »Frie­dens­sa­bo­ta­ge« (3.7.19) und pole­mi­sier­te gegen das Weiß­buch der – inzwi­schen demo­kra­ti­schen! – Regie­rung zur Wider­le­gung der Kriegs­schuld (19.6.19).

Leon­hard sekun­dier­te und begrüß­te zugleich die Ankla­ge-Unter­su­chungs­kom­mis­si­on zur völ­ker­rechts­wid­ri­gen Behand­lung Kriegs­ge­fan­ge­ner in Deutsch­land (5.12.18). Im geis­ti­gen Schlepp­tau alli­ier­ter Greu­el­pro­pa­gan­da assis­tier­te ihm Tuchol­sky bezüg­lich Bel­gi­ens (3.4.19).

Ange­sichts der Frie­dens­be­din­gun­gen, die gera­de in Ver­sailles fest­ge­legt wur­den, muß­ten sol­che ten­den­ziö­sen Ana­ly­sen fast zwangs­läu­fig als Schüt­zen­hil­fe für rigi­de EntentePositionen ver­stan­den wer­den. Nega­tiv zu top­pen war das nur noch vom Münch­ner Revo­lu­tio­när Kurt Eis­ner, der – Höhe­punkt natio­nal­ma­so­chis­ti­scher Nai­vi­tät – Deutsch­land belas­ten­de diplo­ma­ti­sche Akten publi­zier­te, um dadurch (ver­geb­lich) das Wohl­wol­len der Alli­ier­ten für Bay­ern zu fördern.

Daß Tuchol­sky Eis­ner in einem Nach­ruf ver­klär­te, war gera­de­zu fol­ge­rich­tig (27.2.19). Ver­wun­dert es da noch, daß die­se Ree­du­ca­ti­on-Eli­te selbst den Ver­sailler Ver­trag bil­lig­te? Leon­hard lei­te­te ihn aus dem »Gewalt­frie­den« von Brest-Litowsk ab (14.11.18).

Hans Nato­nek (12.6.19) und Hein­rich Strö­bel (26.6.19) argu­men­tier­ten als Advo­ka­ten der Fran­zo­sen. Tuchol­sky inter­pre­tier­te das Dik­tat als »Heil von außen« (1.5.19), da Deutsch­land sonst nie sei­ner mili­ta­ris­ti­schen Fes­se­lung ent­kom­men wäre.

Auf­fal­lend war bereits sein Wort­ge­brauch, wonach er in deut­li­cher Distanz von Lands­leu­ten qua­si als Frem­den sprach: »Sie haben nichts dazu­ge­lernt«, hieß es etwa:

Und nur ein Frie­de kann uns ret­ten, / ein Frie­de, der dies Heer
zer­bricht, / zer­bricht die alten Eisen­ket­ten – / der Feind befreit
uns von den Klet­ten. / Die Deut­schen sel­ber tun es nicht.

Dem­ge­mäß zog er am 15.5.19 »Bilanz«:

Fühlt ihr, was die­ser Frie­de bedeu­tet? / Eine gro­ße stählerne
Glo­cke läu­tet / neue, ganz neue Zei­ten ein. / Morgenschein? /
Ich mag heu­te kei­nen Deut­schen läs­tern. / Doch der Kompro-
miß ist ein Ding von ges­tern. / Kip­peln – Wip­peln – wie weit!
wie weit! / Faust auf den Tisch! / Eine neue Zeit!

Wer sich sei­nen Lands­leu­ten gegen­über so empa­thie­los äußer­te, ver­hielt sich wie ein innen­po­li­ti­scher Sie­ger bzw. Kriegs­ge­win­ner, der sich vom Feind demo­kra­tisch beschenkt fühlt und dem Ver­dacht aus­setzt, die Nie­der­la­ge bil­li­gend in Kauf genom­men zu haben.

Damit hat­te man schlech­te Kar­ten in einem Land, das mit Schuld- und Bestra­fungs­ma­so­chis­men noch so wenig anfan­gen konn­te wie mit Apo­lo­gien des zwie­lich­ti­gen Außen­mi­nis­ter Greys oder Apo­theo­sen des »Wil­so­nis­mus«.

Die­sen Begriff, ver­kün­de­te Carl Mein­hard, müs­se man »mit der­sel­ben Andacht aus­spre­chen wie einen neu­en Glau­ben«. Denn die­sem »Völ­ker­füh­rer gebüh­ren alle Ehren« (19.12.18). Das pro­vo­zier­te, da die idea­lis­ti­schen Skru­pel des US-Prä­si­den­ten stets dann ver­stumm­ten, wenn ame­ri­ka­ni­sche Groß­macht- und Geschäfts­in­ter­es­sen berührt waren (z.B. durch ein­sei­ti­ge kriegs­ent­schei­den­de Waf­fen­lie­fe­run­gen) und des­sen Soft-Power-Rhe­to­rik samt Kriegs­ein­tritt die deut­sche Nie­der­la­ge besie­gelt hat.

Man über­treibt kaum, in sol­chen Lite­ra­ten nütz­li­che Idio­ten der Entente zu sehen. Selbst ein beson­ne­ner Zeit­ge­nos­se wie Arthur Schnitz­ler, der sich, vom Kriegs­rausch sei­ner­zeit fern­ge­hal­ten hat­te, notier­te am 3.6.1919 ange­wi­dert in sein Tage­buch: Tri­um­phe wie der von Ver­sailles müß­ten eben »aus­ge­kos­tet« werden.

Aber die beglei­ten­den »Phra­sen von Gerech­tig­keit und Völkerfrieden«seien neu­ar­tig, eine »Lüge, die sich im Augen­blick selbst, auch für den Blin­des­ten demas­kiert«. Und Ricar­da Huch schrieb ihrer Freun­din Marie Baum am 22.2.1919, »ein Volk, das sei­nen Fein­den mehr ver­traut als sei­nen Füh­rern, ist so per­vers, daß es unter­ge­hen muß, wenn auch hun­dert­mal die eige­nen Füh­rer schuld haben. Das Ver­trau­en der Deut­schen zu Wil­son usw. muß­te sich bestra­fen. Wir haben kein Selbst­be­wußt­sein mehr, also sind wir nichts mehr.«

Über­haupt ver­wech­sel­te man bei den nun inthro­ni­sier­ten Demo­kra­ten all­zu häu­fig Ursa­che und Wir­kung, indem man die Kriegsbereitschaft der Entente als Fol­ge eines angeb­li­chen deut­schen Bel­li­zis­mus inter­pre­tier­te, wäh­rend die kari­kie­ren­de Unter­stel­lung die­ser Gesin­nung viel­mehr eine ers­te psy­cho­lo­gi­sche Kriegs­maß­nah­me war.

Mehr noch: Man bestä­tig­te nach­träg­lich die dif­fa­mie­ren­de psy­cho­lo­gi­sche Kriegs­füh­rung der Anti-Deutsch­land-Koali­ti­on, die von Anfang an auf ein zivi­li­sa­to­risch rück­stän­di­ges, der Demo­kra­tie zuzu­füh­ren­des des­po­ti­sches Gebil­de abziel­te, mit einem Kai­ser als über­di­men­sio­nier­ter Hor­ror­fi­gur an der Spitze.

Tuchol­sky etwa, der sich mit alli­ier­ter Pro­pa­gan­da beschäf­tigt hat­te, wuß­te es eigent­lich bes­ser. Aber offen­bar dien­te auch sei­ne Deutsch­land-Kari­ka­tur, die Preu­ßen und Mili­tär zu demo­kra­ti­schen Unwor­ten stem­pel­te, nun ver­meint­lich höhe­ren Zwecken.

Kon­flikt­ver­schär­fend bis hin zu Pho­bien wirk­te der Umstand, daß Jacob­sohn und zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter Juden waren, und nun demons­tra­tiv den im August 1914 geleis­te­ten natio­na­len Rüt­li­schwur auf­kün­dig­ten. »Dem ver­bli­che­nen Deutsch­land«, schrieb Jacob­sohn, »nicht eine Trä­ne. Sein Geruch war Mord; und grö­ßer als sei­ne Bru­ta­li­tät war nur sei­ne Dumm­heit« (14.11.18).

Es wer­de ihm vor­ge­wor­fen, sekun­dier­te Tuchol­sky, er schmä­he sein Land (9.1.19): »Das ist nicht mein Land. Das ist nicht unser Deutsch­land, in dem die­se Köp­fe, die­se Hir­ne herr­schen durf­ten.« Man­che Juden sahen sich nun aus­schließ­lich als welt­bür­ger­li­ches Friedensvolk.

Jacob­sohns Pole­mik gegen Walt­her Rathen­au als »teu­to­ni­scher Mak­ka­bä­er« (10.10.18), gegen Jour­na­lis­ten wie Paul Gold­mann oder Georg Bern­hard als »Ver­rä­ter sei­ner Kas­te« grün­det in sol­cher Neueinschätzung:

Wir haben jeden Juden, der den Inha­bern einer mör­de­risch rohen Gewalt bewun­dernd nach­kroch, als Ver­rä­ter am Geist und am Men­schen­tum emp­fun­den (26.12.18).

Auch für Arnold Zweig hat­te Deutsch­land wie die Welt künf­tig am jüdi­schen Wesen zu gene­sen. Dem­ge­mäß fei­er­te er Rosa Luxem­burg und Spar­ta­kus (23.1.19). Deren Drang zur Macht erklär­te er mit der schnel­le­ren jüdi­schen Lage­er­kennt­nis, oppo­si­tio­nel­len Bega­bung und dem, »was dem Deut­schen fehl­te: Zivil­cou­ra­ge und Übung in Verantwortung«.

Juden, die »ihr trot­zi­ges und sozi­al emp­fin­den­des Blut in die Arbei­ter­par­tei getrie­ben« und den Sozia­lis­mus von Moses bis Gus­tav Land­au­er »in die Welt gebracht« hät­ten, »dien­ten der leuch­ten­den, gro­ßen, revo­lu­tio­nä­ren Sache mit ihrer gan­zen Kraft der Ver­ant­wor­tung« (17.4.19).

Das sahen Zeit­ge­nos­sen viel­fach anders. Sie regis­trier­ten bei nicht weni­gen, die sich jüngst noch for­ciert als Deut­sche pro­kla­miert hat­ten, die demons­tra­ti­ve Abkehr von der Nati­on in der Kri­se, ver­bun­den mit bedroh­li­chen Kom­mu­nis­mus-Sym­pa­thien, was bei­des hef­ti­ge Aggres­sio­nen entfesselte.

Vor sol­chen Fol­gen warn­te etwa Tho­mas Mann 1922 in sei­ner Rede »Von deut­scher Repu­blik«. Dar­in appel­lier­te er an die deut­sche Jugend, es gebe kei­nen Grund, »die Repu­blik als eine Ange­le­gen­heit schar­fer Juden­jun­gen zu emp­fin­den: Über­laßt sie ihnen nicht! Nehmt ihnen […] den repu­bli­ka­ni­schen Wind aus den Segeln!«

Was heu­te unge­heu­er­lich oder abwe­gig klin­gen mag, ent­hielt jedoch im Kern eher Prä­ven­ti­ves. Denn Mann spür­te, daß die Umer­zie­her für ihre ehr­gei­zi­gen Plä­ne eigent­lich ein ande­res Volk vol­ler »Neu­er Men­schen« such­ten und vie­len Deut­schen dabei als ideo­lo­gi­sier­te Prü­gel­päd­ago­gen galten.

Dabei ver­tra­ten jene radi­ka­len Links­in­tel­lek­tu­el­len kei­nes­wegs die deut­schen Juden schlecht­hin, son­dern wur­den ledig­lich wegen ihrer her­aus­ge­ho­be­nen öffent­li­chen Stel­lung und ihrer lite­ra­risch-publi­zis­ti­schen Aus­strah­lung für die Mehr­heit gehalten.

Die war jedoch deut­lich kon­ser­va­ti­ver und ver­trat etwa durch Reprä­sen­tan­ten wie Vic­tor Klem­pe­rer, dem Frei­korps-Kämp­fer Ernst Kan­to­ro­wicz oder dem Bibel-Nach­dich­ter Franz Rosen­zweig ande­re Vor­stel­lun­gen von Krieg, Revo­lu­ti­on oder einer soli­da­ri­schen Hal­tung im momen­ta­nen Schicksalskampf.

Einer, der gleich­falls nicht zu sowje­ti­schen Fun­da­men­ta­lis­men neig­te, war der Kunst­schrift­stel­ler Luci­an Fried­laen­der, Chef­kom­men­ta­tor der Welt­büh­ne als »Cunc­ta­tor« ali­as »Ger­ma­ni­cus« ali­as »Robert Breu­er«. Die­ser jüdisch-patrio­ti­sche Sozi­al­de­mo­krat hat­te wäh­rend des Kriegs mit bemer­kens­wer­tem Frei­mut die Regie­rung zu frie­dens­po­li­ti­scher Mäßi­gung und inne­ren Refor­men ermahnt und, als die Zeit­schrift die Klip­pen der Zen­sur zu durch­schif­fen hat­te, nicht sel­ten den Kopf für sei­nen Ver­le­ger hingehalten.

Im Zuge des Umschwungs ließ auch er sich kurz­fris­tig vom Bewäl­ti­gungs- und Säu­be­rungs-Furor anste­cken (17./24.10.18). Er sah nun die Chan­ce für einen gänz­li­chen repu­bli­ka­ni­schen Neu­be­ginn, bis ihn der Hexen­tanz der Uto­pis­ten und selbst­ge­rech­ten Revo­lu­ti­ons­di­let­tan­ten abstieß.

Für Friedländer/Breuer war eine Gren­ze über­schrit­ten, als die Welt­büh­ne die Kriegs­schuld­fra­ge in einer Wei­se erör­ter­te, die einer Legi­ti­mie­rung der Alli­ier­ten gleich­kam. Bereits am 28.11.18 wand­te er sich gegen die »Nai­vi­tät, als ob Mili­ta­ris­mus und Impe­ria­lis­mus zusam­men­ge­bro­chen seien«.

Das gel­te zwar für Deutsch­land, aber nicht für die Entente.Daher sei es »mehr als frag­lich, ob das deut­sche Pro­le­ta­ri­at Ursa­che hat, sich sei­nes Frei­heits­kamp­fes zu freu­en«, ohne Unter­stüt­zung der übri­gen Welt. Die Reak­ti­on des Ver­le­gers blieb nicht aus.

Jacob­sohn, Spi­ri­tus rec­tor des radi­ka­len Umer­zie­hungs­kur­ses, trenn­te sich Knall auf Fall von sei­nem lang­jäh­ri­gen Mit­ar­bei­ter, der soviel Staats­loya­li­tät besaß, sei­nem Ver­trau­ten Fried­rich Ebert spä­ter als stell­ver­tre­ten­der Pres­se­chef zu die­nen. Nun nahm er in einem offe­nen Brief vom 5. Dezem­ber 1918 ent­täuscht sei­nen Abschied:

Lie­ber Jacobsohn,
Sie sagen mir, daß Sie vor Ihrem Gewis­sen nicht län­ger mei­ne Wochen­be­trach­tun­gen ver­ant­wor­ten kön­nen. […] Es mang­le mir an Radi­ka­lis­mus, und mei­ne Lei­den­schaft für die Revo­lu­ti­on wäre zu kalt, mein Bestre­ben aber, Deutsch­land so schnell wie irgend mög­lich wie­der als eine wehr- und arbeits­fä­hi­ge Ein­heit zu fes­ti­gen, lie­ße einen Man­gel an inter­na­tio­na­ler, pazi­fis­ti­scher, anti­mi­li­ta­ris­ti­scher, repu­bli­ka­ni­scher und demo­kra­ti­scher Gesin­nung befürchten.

Lie­ber Freund, Sie haben ganz recht. Denn aller­dings schät­ze ich all die Tugen­den, die Sie an mir ver­mis­sen, sehr nied­rig ein in einer Zeit, da nichts weni­ger gefähr­lich ist, als gra­de mit ihnen zu prah­len. Poli­tisch han­deln heißt: das Not­wen­di­ge tun; ich fin­de, daß heu­te alles weit notwendiger ist, als geschlif­fe­ne Frech­hei­ten […] gegen die Trüm­mer einer längst nicht mehr vor­han­de­nen Macht zu spucken.

Er habe »lan­ge und laut genug gegen den Grö­ßen­wahn der deut­schen Welthe­ge­mo­nie gekämpft«, sehe aber kei­nen Fort­schritt dar­in, daß ein bol­sche­wis­tisch geschwäch­tes Deutsch­land zur Kolo­nie her­ab­sin­ke. Als Sozi­al­de­mo­krat wol­le er die Repu­blik und »die Ver­ge­sell­schaf­tung, soweit sie nicht die Wirt­schaft­lich­keit der Arbeit unter­höhlt«, aber nicht, »daß Nar­ren und Dilet­tan­ten uns, unsern Kin­dern und Kin­des­kin­dern jede Lebens­mög­lich­keit zerstören«.

Er »fin­de es fluch­wür­dig, zu über­se­hen«, daß das »ent­waff­ne­te und zur Welt­po­li­tik unfä­hig gemach­te Deutsch­land« wie­der fes­ten Blö­cken unter­wor­fen sei:

Ich fin­de es unwür­dig und kind­lich, Deutsch­land in ein Büßer­ge­wand zu zwän­gen und dem alten Revan­che­schrei­er Cle­men­ceau noch eini­ge Trümp­fe mehr in die Hand zu spie­len, damit er mit dem Schein der Gerech­tig­keit die Frie­dens­ver­hand­lun­gen zu einer Abstra­fung des bösen Tiers Deutsch­land machen kann.

Die Tat des Herrn Eis­ner ist der Gip­fel poli­ti­scher Bor­niert­heit. Ich weiß sehr wohl, daß der wil­hel­mi­ni­sche Barock das Her­auf­zie­hen des Krie­ges geför­dert hat. Ich bin auch davon über­zeugt, daß die all­deut­schen Fana­ti­ker den Krieg gewollt haben, aber ich weiß nur zu gut – und jeder­mann könn­te es wis­sen –, daß sogar dann, wenn Deutsch­land, was noch kei­nes­wegs fest­steht, den Krieg ent­fes­selt hat, Ruß­land, Frank­reich und Eng­land, ja selbst Ame­ri­ka an die­sem Krie­ge die glei­che Schuld tragen.

Ich ver­ach­te den Exhi­bi­tio­nis­mus ent­mann­ter Kna­ben. […] Was mich betrifft, so möch­te ich mei­nen, daß jetzt, da selbst die Säug­lin­ge mit Stei­nen schmei­ßen, die Zeit gekom­men ist, zu hei­len und zu pfle­gen. Zu erzie­hen und zu leuch­ten, damit Deutsch­land trotz der Fins­ter­nis, die auf ihm las­tet, das Ziel nicht aus den Augen ver­liert. Die­ses Ziel aber darf nicht das Cha­os aus Phra­sen und Toll­haus sein, son­dern ein neu­es Reich und ein neu­es Volk.

Stets der Ihre
Robert Breuer

Ein Abgang in Wür­de. Sein Nach­fol­ger, Lud­wig Jurisch, stell­te sich am 2. Janu­ar 1919 dem Welt­büh­ne-Publi­kum mit der Ansa­ge vor, die mensch­li­che Auf­wärts­ent­wick­lung erfor­de­re, »die Revo­lu­ti­on vorwärtszutreiben, mit Zuruf, wenn es aus­reicht, mit Ruten, wenn es nicht vom Fleck geht«, oder gar mit »Skor­pio­nen«.

Er ver­gaß dabei, daß Revo­lu­tio­nen häu­fig Kon­ter­re­vo­lu­tio­nen nach sich zie­hen. An der letz­ten und dem, was ihr folg­te, wür­gen wir noch heute.

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