Matteo Salvinis lombardische Tapete

von Eberhard Straub
PDF der Druckfassung aus Sezession 87/Dezember 2018

Nord­ita­li­en gehört noch zum kon­ti­nen­ta­len Euro­pa. Poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che, geis­ti­ge wie künst­le­ri­sche Bezie­hun­gen von Mai­land über Inns­bruck hin­auf nach Mün­chen und über Tri­ent und Graz hin­über nach Wien ver­dich­te­ten die man­nig­fa­chen Klein- und Son­der­for­men der Her­zog­tü­mer, Graf­schaf­ten und Städ­te zu einem beson­de­ren Lebens- und Kul­tur­raum, der in Deutsch­land bis nach Regens­burg, Frank­furt und Dres­den ausstrahlte.

Die berühm­tes­ten ursprüng­lich nord­ita­lie­ni­schen Fami­li­en in Deutsch­land und Öster­reich sind die sehr vor­neh­men, alta­de­li­gen Bren­ta­no di Tre­mez­zo mit ihren Dich­tern, Pro­fes­so­ren und Poli­ti­kern, sowie die Regens­bur­ger Fürs­ten von Thurn und Taxis, ursprüng­lich Tor­re e Tas­so, ver­wandt mit dem Dich­ter des »Befrei­ten Jeru­sa­lem«, Tor­qua­to Tas­so, des­sen ver­wor­re­ne Genia­li­tät und Ero­tik den römi­schen Goe­the, mit den Frank­fur­ter Bren­ta­no ver­traut, zu einem gro­ßen Künst­ler­dra­ma anregte.

Dar­über gerät man schon gleich hin­ein in das laby­rin­thi­sche Mit­tel­eu­ro­pa mit sei­nen süd­deutsch-öster­rei­chi­schen und nord­ita­lie­ni­schen Ver­zwei­gun­gen und Ver­mi­schun­gen, von denen Deut­sche wenig oder nichts mehr wis­sen, wäh­rend vie­le Nord­ita­lie­ner dar­auf kei­nes­falls ver­zich­ten wollen.

Der Mai­län­der Matteo Sal­vi­ni, vor dem Men­schen­freun­de in der sogenannten Qua­li­täts­pres­se uner­müd­lich als einem radi­ka­len Feind aller Frem­den und Ande­ren war­nen, kommt aus die­sem Raum mit immer weit geöff­ne­ten Türen, nie abge­schot­tet und selbstgenügsam.

Er besuch­te das huma­nis­ti­sche Eli­te­gym­na­si­um Ales­san­dro Man­zo­ni. Es gibt nur noch weni­ge Poli­ti­ker in Euro­pa, die mit den Spra­chen des euro­päi­schen Huma­nis­mus ver­traut sind und mit des­sen Geist, von Ita­lie­nern seit dem 13. Jahr­hun­dert auf Latein und seit Dan­te auch auf Ita­lie­nisch gepflegt und verfeinert.

Ales­san­dro Man­zo­ni ist der Ver­fas­ser des Natio­nal­ro­mans der Ita­lie­ner, Die Ver­lob­ten (1827). Doch die­ses Haupt­werk der natio­na­len Lite­ra­tur und der Kul­tur­na­ti­on, ist zugleich das herr­lichs­te Zeug­nis mai­län­di­scher Lebens­art und Eigen­art Die Nati­on als Idee fin­det nur in der Regi­on und in der jewei­lig begrenz­ten Urba­ni­tät zu einer wirk­li­chen, jeden ergrei­fen­den und bil­den­den Gestalt.

Der Roman spielt 1627 mit­ten in den vie­len inein­an­der ver­floch­te­nen Krie­gen, die bald auch auf das nahe Man­tua und Casa­le über­grif­fen. Mai­land gehör­te als Her­zog­tum zum Hei­li­gen Römi­schen Reich, wur­de aber seit Kai­ser Karl V. von Spa­ni­ern verwaltet.

Mai­land lag in der Mit­te der bei­den sich inein­an­der ver­schrän­ken­den Macht­kom­ple­xe des Hau­ses Öster­reich, der spa­ni­schen Mon­ar­chie und des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches. Hier lie­fen alle Wege zusam­men, um sich nach Straß­burg, Köln und Ant­wer­pen oder nach Prag und Dal­ma­ti­en zu verzweigen.

Mai­land war einer der wich­tigs­ten Orte im gesam­ten Abend­land. Das blieb es wei­ter­hin, als es 1713 wie­der unter kai­ser­li­che Ver­wal­tung kam, frei­lich als ein selb­stän­di­ges Her­zog­tum inner­halb der locke­ren Ord­nung des Deutsch-Römi­schen Rei­ches und der Mon­ar­chie des Hau­ses Österreich.

Maria The­re­sia, die Gat­tin des Kai­sers Franz, der auch Groß­her­zog der Tos­ca­na war, ach­te­te als Her­zo­gin von Mai­land – übri­gens wie sämt­li­che Habs­bur­ger flie­ßend ita­lie­nisch redend – sehr dar­auf, daß die­ses ihr beson­ders treue und ihr des­halb beson­ders nahe Her­zog­tum nicht in sei­nen Rech­ten und Gewohn­hei­ten ein­ge­schränkt werde.

Sie erfand den Staat, der funk­tio­nier­te: im Zusam­men­hang einer über­grei­fen­den Ord­nung den ein­zel­nen Regio­nen Frei­hei­ten zu las­sen und kei­ne das kon­kre­te Leben ersti­cken­de Gleich­för­mig­keit anzu­stre­ben oder gar zu erzwin­gen. Das Her­zog­tum Mai­land erleb­te unter solch welt­klu­ger Herr­schaft einen unver­ges­se­nen, gol­de­nen Herbst der Auto­no­mie, wel­che die Stadt einst mit der lom­bar­di­schen Liga Kai­ser Fried­rich Bar­ba­ros­sa 1177 abge­trotzt hatten.

Matteo Sal­vi­ni, der Vor­sit­zen­de der heu­ti­gen Lega, frü­her der Lega Nord, und jetzt ita­lie­ni­scher Innen­mi­nis­ter, ist gleich­sam ein Alt­ös­ter­rei­cher, der auf Ita­lie­nisch nach einem funk­ti­ons­tüch­ti­gen Gleich­ge­wicht zwi­schen dem Natio­nal­staat und den eigen­stän­di­gen Pro­vin­zen sowie der Euro­päi­schen Uni­on und deren sou­ve­rä­nen Mit­glie­dern sucht.

Jeder ist erst ein­mal ein ande­rer und Frem­der, denn jedes Indi­vi­du­um ist uner­schöpf­lich in sei­ner unver­wech­sel­ba­ren pro­prie­tas, in sei­nem Eigen-Tum. Das weiß Matteo Sal­vi­ni über die Katho­li­sche Kir­che, die den abs­trak­ten Men­schen in kon­kre­ten Per­so­nen erkennt und würdigt.

Staa­ten, Städ­te und ande­re poli­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen sind »gro­ße Indi­vi­du­en«, die sich als sol­che, selbst wenn von glei­cher Kul­tur und Spra­che, erheb­lich von­ein­an­der unter­schei­den, eben anders sind als die ande­ren. In die­sem Sin­ne wehrt sich Matteo Sal­vi­ni gegen jede Art von Zen­tra­lis­mus, in Öster­reich und Nord­ita­li­en auch als Jose­phi­nis­mus bekannt.

Denn Kai­ser Joseph II., der Sohn Maria The­re­si­as, woll­te als Sys­te­ma­ti­ker, nach über­schau­ba­rer Ein­heit stre­bend, eine Gleich­heit der Lebens­ver­hält­nis­se in sei­nen Kron­län­dern errei­chen, der die his­to­ri­sche Viel­falt der Gebräu­che und Rech­te sei­ner Völ­ker im Wege stand.

Er griff sche­ma­ti­sie­rend in die her­kömm­li­che Ver­fas­sung Mai­lands ein, die von den revo­lu­tio­nä­ren Fran­zo­sen als Besat­zungs­macht 1797 end­gül­tig umge­stürzt wur­de. Die­se voll­ende­ten das Werk des Kai­sers in einem ita­lie­ni­schen Zen­tral­staat, dem König­reich Ita­li­en mit sei­ner Haupt­stadt Mailand.

Der von der Revo­lu­ti­on ein­ge­rich­te­te, aus­ufern­de Inter­ven­ti­ons­staat, der sich dazu ermäch­tig­te, über­all har­mo­ni­sie­rend, also uni­for­mie­rend ein­zu­grei­fen, mach­te die Ita­lie­ner mit unhis­to­ri­schen, rein theo­re­ti­schen Kon­struk­tio­nen bekannt. Der neue Staat als zupa­cken­de Umer­zie­hungs­an­stalt ver­warf alles als unver­nünf­tig und will­kür­lich, was nicht in ihn paßte.

Ita­li­en wur­de 1814 von der Schre­ckens­herr­schaft der fran­zö­si­schen Ver­nunft befreit. Die Idee der natio­na­len Ein­heit, ein­mal zur Wirk­lich­keit gewor­den, war dadurch nicht für alle als unprak­tisch wider­legt. Seit­her pla­gen sich Ita­lie­ner damit ab, ange­mes­se­ne For­men zu fin­den, die dem Wil­len zur natio­na­len Ein­heit genü­gen und doch die his­to­risch legi­ti­mier­te Man­nig­fal­tig­keit der Städ­te und Land­schaf­ten mit ihrem Lokal­pa­trio­tis­mus berücksichtigen.

Wäh­rend des risor­gi­men­to, der Wie­der­ge­burt des mit dem spät­an­ti­ken Römi­schen Reich unter­ge­gan­ge­nen Ita­li­en, setz­ten sich die fran­zö­sie­ren­den Zen­tra­lis­ten und Natio­na­lis­ten durch gegen die Föde­ra­lis­ten, die auf eine Uni­on der ita­lie­ni­schen Völ­ker und Städ­te und Staa­ten hofften.

Wer für einen locke­ren Bund stritt – meist katho­li­sche und his­to­risch rück­sichts­vol­le Patrio­ten von Anto­nio Ros­mi­ni, Vin­cen­zo Gio­ber­ti, Car­lo Cat­ta­neo bis hin zu Gio­ac­chi­no Ven­tura und Don Stur­zo, dem Vorbereiter einer Christ­li­chen Demo­kra­tie in Ita­li­en – war kein bor­nier­ter Provinzler.

Vin­zen­zo Gio­ber­ti for­der­te unab­läs­sig den Pri­ma­to d’Italia, zuerst und vor allem Ita­li­en! Die­se Devi­se ent­sprach dem zur glei­chen Zeit for­mu­lier­ten deut­schen Auf­trag, nicht Preu­ßen, Öster­reich oder Bay­ern über alles, son­dern das in sich eini­ge Deutsch­land vie­ler Vaterländer!

Deut­sche und Ita­lie­ner hat­ten ja das glei­che Ziel vor Augen, eine Ein­heit in Viel­falt zu ver­wirk­li­chen. Für föde­ra­lis­ti­sche Ita­lie­ner war dafür ein Vor­bild der Deut­sche Bund seit 1815 oder näher lie­gend die Öster­rei­chi­sche Mon­ar­chie, zu der seit 1814 die im König­reich Lom­bar­do-Vene­ti­en zusam­men­ge­faß­ten Tei­le Nord­ita­li­ens gehörten.

Eine föde­ra­lis­ti­sche Lösung ent­sprach der ita­lie­ni­schen Geschich­te und einer stol­zen Ver­gan­gen­heit der ein­zel­nen Stadt­re­pu­bli­ken, König­rei­che und Her­zog­tü­mer, die in der euro­päi­schen Geschich­te eine glän­zen­de Rol­le gespielt hatten.

Für den straf­fen Natio­nal­staat sprach, daß nur ein so geein­tes Ita­li­en nicht wei­ter Gefahr lief, wie eh und je unter den bestim­men­den Ein­fluß frem­der Mäch­te, vor allem der Deut­schen oder Fran­zo­sen, zu gera­ten, daß sich in ihm am bes­ten die inne­ren Gegen­sät­ze abschwä­chen lie­ßen, und nur in ihm der Kir­chen­staat auf­ge­ho­ben und die welt­li­che, poli­ti­sche Macht der Päps­te in Ita­li­en ein­ge­schränkt wer­den konnten.

Unter dem Druck der »Preu­ßen Ita­li­ens«, der Pie­mon­te­sen, wur­den die Ita­lie­ner, vie­le wider­stre­bend, auf die­sen Weg gedrängt. Sehr bald mach­ten sich über­all, nicht nur im Süden, das unter den Zwän­gen libe­ra­ler und anti­kle­ri­ka­ler Ent­wick­lungs­hil­fe in bür­ger­kriegs­ähn­li­che Unord­nung geriet, Ver­druß und schlech­te Lau­ne bemerkbar.

Im Nor­den, im ehe­ma­li­gen Reichs­ita­li­en bis 1806, blie­ben – trotz allem frü­he­ren Ärger über jose­phi­ni­sche Rück­sichts­lo­sig­kei­ten in Wien – bei vie­len die Vor­tei­le im Gedächt­nis, die der bevor­zug­te Umstand mit sich brach­te, einer gro­ßen euro­päi­schen Uni­on anzu­ge­hö­ren und nicht nur der ita­lie­ni­schen Kul­tur­na­ti­on, die danach trach­te­te, ein Staat zu werden.

Öster­reich sperr­te sich ja gar nicht gegen ita­lie­ni­sche Ein­flüs­se. Kai­ser Franz I. von Öster­reich, bis 1806 als deutsch-römi­scher Kai­ser Franz II., war in Flo­renz gebo­ren, dort auf­ge­wach­sen und blieb zeit sei­nes Lebens ein gründ­li­cher und begeis­ter­ter Ken­ner der ita­lie­ni­schen Literatur.

Er wur­de in Wien als Kai­ser zum Ver­fech­ter einer gemä­ßigt jose­phi­ni­schen Poli­tik, die ein­zel­nen Kron­län­der unter Wie­ner Ver­mitt­lung ein­an­der wenigs­tens anzu­nä­hern, also ihre his­to­ri­schen Frei­hei­ten auf ein für das gro­ße Gan­ze bekömm­li­ches Maß einzuengen.

Immer­hin gewähr­ten die Wie­ner Minis­ter ihren Ita­lie­nern Insti­tu­tio­nen regio­na­ler Reprä­sen­ta­ti­on und för­der­ten umsich­tig eine kul­tu­rel­le Auto­no­mie, sel­ber völ­lig ver­traut mit ita­lie­ni­scher Musik, Kunst und Spra­che. Im eini­gen Ita­li­en mit sei­nen Unzu­läng­lich­kei­ten waren es gera­de Nord­ita­lie­ner, die zag­haft am Habs­bur­ger­my­thos einer stren­gen, aber gerech­ten Ord­nung zu bas­teln begannen.

Nörd­li­che Patrio­ten im unei­ni­gen-eini­gen Ita­li­en beob­ach­te­ten mit gewis­sem Neid, wie es Öster­rei­chern gelang, im Viel­völ­ker­staat Eigen­tüm­lich­kei­ten, eben die man­nig­fa­chen Ungleich­hei­ten, immer wie­der in ver­söhn­te Ein­tracht zu bringen.

In Ita­li­en brach­te hin­ge­gen eine phan­ta­sie­los regle­men­tie­ren­de Ver­wal­tung sämt­li­che Ita­lie­ner gegen­ein­an­der auf, nicht nur Süd gegen Nord! Beni­to Mus­so­li­ni und die Faschis­ten hoff­ten end­lich dem Auf­trag zu genü­gen, den Mas­si­mo d’Azeglio for­mu­liert hatte:

Ita­li­en haben wir neu gegrün­det, jetzt müs­sen wir den Ita­lie­ner schaffen.

Sie beschwo­ren das Römi­sche Reich der Römer und Ita­li­ker, ein Viel­völ­ker­reich, das unge­ach­tet der welt­um­span­nen­den Lati­ni­sie­rung den Völ­kern Eigen­wil­lig­kei­ten und Son­der­we­ge gestat­te und damit die Con­cor­dia wahr­te bei man­cher­lei Unstim­mig­kei­ten in unter­ge­ord­ne­ten Angelegenheiten.

Sie legi­ti­mier­ten auf die­se Wei­se auch den inner­ita­lie­ni­schen Plu­ra­lis­mus. Aber das alte Rom und der Römi­sche Mythos waren seit dem Unter­gang der Alten Welt schon oft in ganz ande­ren Zusam­men­hän­gen auf­ge­ru­fen worden.

Schließ­lich waren die Deut­schen die Erben des Römi­schen Rei­ches und des­sen Forst­set­zer, die Herr­scher der Dop­pel­mon­ar­chie, die Völ­ker und nicht so sehr Staa­ten »viri­bus unitis« – mit ver­ein­ten Kräf­ten – ver­ban­den und zwi­schen ihnen eine elas­ti­sches Ver­hält­nis von Eifer­sucht und Über­ein­stim­mung ermöglichten.

In einem wei­te­ren, neu­en Ita­li­en und Natio­nal­staat nach Krieg und Bür­ger­krieg mit sei­nen Kata­stro­phen ab 1943 ließ sich viel ein­fa­cher ein Sehn­suchts­land erfüll­ter Mög­lich­kei­ten in der Welt von Ges­tern ent­de­cken, im auf­ge­lös­ten und ver­gan­ge­nen Öster­reich, mit dem Ita­lie­ner Jahr­hun­der­te lang im leb­haf­ten Aus­tausch gestan­den hatten.

Das bis 1918 wirk­li­che Öster­reich wur­de zu einem sehr ita­lie­ni­schen Mythos. Denn dort sahen Ita­lie­ner als gelun­gen, wonach sie ver­lang­ten: einen Bund, in dem jeder blei­ben kann, was er ist, und sich nicht gleich­schal­ten las­sen muß, um als Funk­ti­ons­ele­ment für Zwe­cke ver­wer­tet zu wer­den, die nichts mit den Beson­der­hei­ten sei­ner pic­co­lo mon­do, sei­ner Hei­mat und dem klei­nen Vater­land, zu tun haben.

Der Tri­es­ti­ner Clau­dio Magris schil­der­te 1963 Öster­rei­chern und Ita­lie­nern den habs­bur­gi­schen Mythos, so wie er von Grill­par­zer bis zu Hof­manns­thal und Dode­rer in immer neu­en Varia­tio­nen ent­wor­fen wur­de, in des­sen Bann er wäh­rend des Ana­ly­sie­rens und Betrach­tens sel­ber geriet.

Sein schöns­ter Bei­trag zum öster­rei­chi­schen Mythos und sei­nem Wei­ter­le­ben ist eine Geschich­te der Donau, der Lebens­ader der Donau­mon­ar­chie. Ganz unab­hän­gig von die­sen weit­ge­spann­ten geis­ti­gen Exkur­sio­nen ent­wi­ckel­te sich in Fri­aul, das jahr­hun­der­te­lang zu Österreich gehört hat­te, ein Heim­weh nach Mitteleuropa.

Ein ande­rer Mythos trat dem öster­rei­chi­schen zur Sei­te, der mit­tel­eu­ro­päi­sche. Die Friu­la­ner woll­ten nicht auf eine Ita­lia­ni­tà beschränkt wer­den, son­dern wie­der sein, was sie immer waren, »mit­tel­eu­ro­pei«, geprägt von der civil­tà Mitteleuropa.

Genuß­voll wur­de mit Kirsch­knö­deln oder Wie­ner Schnit­zel am 18. August Kai­sers Geburts­tag gefei­ert. In den Kir­chen san­gen ergrif­fen ita­lie­ni­sche Neuös­ter­rei­cher im Geis­te auf die Melo­die der Kai­ser­hym­ne sakra­le Tex­te und hei­lig­ten auf die­se Art die Erin­ne­rung an Franz Joseph, den Kai­ser von Got­tes Gnaden.

In Mez­zo­co­ro­na bei Tri­ent bil­de­ten sich wie­der Schüt­zen­ver­ei­ne. Welsch­ti­ro­ler Schüt­zen berie­fen sich mit den übri­gen Tiro­lern ganz selbstverständlich auf den Volks­hel­den aller Tiro­ler, auf Andre­as Hofer und erinnerten dar­an, daß alle gemein­sam 1809/10 gegen die feind­li­chen Ein­dring­lin­ge im Diens­te der Fran­zo­sen, gegen die Bay­ern, gekämpft hatten.

Öster­rei­chi­sche The­men fan­den ein brei­tes Publi­kum, und fin­den es wei­ter­hin. Ein ergrei­fen­des Kla­ge­lied stimm­te 1979 Caro­lus Cer­go­ly – auch wie­der aus Tri­est – in sei­nem ele­gi­schen Roman zum Comp­les­so dell’Imperatore (»Im Ban­ne Kai­sers«) an: ein Vater­land gehabt zu haben, in dem drei­zehn Völ­ker und Spra­chen ein­an­der ergänz­ten und das
unbe­re­chen­ba­ren Natio­nen und Bar­ba­ren aus­ge­lie­fert wor­den war.

Die Stim­me des Kai­sers mahn­te wie in der Oper über den Wol­ken: Mei­ne Völ­ker, erin­nert Euch auf­rich­tig der ver­gan­gen Zei­ten. Der slo­we­nisch-unga­risch-deutsch-ita­lie­ni­sche Dich­ter emp­fahl allen, die wie er ihre viel­ge­stal­ti­ge Welt ver­lo­ren haben, ihr Leben so zu füh­ren, als wäre es ein Leben in der Welt von gestern.

Caro­lus Cer­go­ly erei­fert sich für die Völ­ker gegen den Staat, der alles Beson­de­re aus­tilgt, aus Per­so­nen Num­mern macht und alle übri­gen Ein­zel­for­men so zurecht­stutzt, bis sie ihre cha­rak­te­ris­ti­schen Merk­ma­le eingebüßt haben. Das war die Furcht vie­ler Regio­na­lis­ten, die sich 1984 zur Lega Nord zusam­men­schlos­sen gegen die Anma­ßung des Natio­nal­staa­tes, der mit Theo­rien gegen das bun­te Leben angeht, ihm alle Far­ben raubt und in der Farb­lo­sig­keit und Mono­to­nie den Staats­zweck erkennt, nicht von der fest­ge­leg­ten Norm abzuweichen.

In die­ser Atmo­sphä­re wuchs Matteo Sal­vi­ni auf. Die Regio­na­lis­ten waren gar kei­ne Antii­ta­lie­ner, sie waren nur auf ihre eige­ne Art Ita­lie­ner, wie der Staats­recht­ler und poli­ti­sche Rat­ge­ber Umber­to Bos­sis, des Grün­ders der Lega, Gian­fran­co Miglio von Mai­land und Como aus immer wie­der erläuterte.

Sie waren und sind auch gar nicht gegen den Staat über­haupt, son­dern gegen einen Staat, der alles an sich reißt und das Lebens­prin­zip der Sub­si­dia­ri­tät miß­ach­tet. Und es ist nicht nur der Staat. Der His­to­ri­ker Ste­fa­no Bru­no Gal­li aus Mai­land notier­te 2012:

Der Bür­ger ist ein Ver­brau­cher gewor­den, die Sou­ve­rä­ni­tät – ver­stan­den als ein nur den Staa­ten zuste­hen­des Vor­recht – wird von über­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen wie der EU, von Mei­nungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, vom Ter­ro­ris­mus und von der inter­na­tio­na­len Finanz aus­ge­höhlt … Das Ter­ri­to­ri­um – die ein­zi­ge Grö­ße der poli­ti­schen Ord­nung, die wäh­rend der Kri­se der Glo­ba­li­sie­rung stand­hielt – rückt daher als neue Idee in den Vor­der­grund der Politik

(Le radi­ci del fede­ra­lis­mo. Viag­gio nella sto­ria ideo­lo­gi­ca del fen­ome­no Lega, Mila­no 2012).

Der Vor­wurf, Ter­ri­to­ri­a­li­tät und Beson­der­heit zu miß­ach­ten, gilt auch der Euro­päi­schen Uni­on, die mit ihren Appa­ra­ten eine öde Ein­falt erzwingt, und jede Impul­si­vi­tät und Impro­vi­sa­ti­on, jedes Abwei­chen von der Norm mit Sank­tio­nen bestraft.

Für die Euro­päi­sche Uni­on – kein frei­er Ver­band Gleich­be­rech­tig­ter mehr – ist daher die natio­na­le Oppo­si­ti­on unent­behr­lich. Die Nati­on über­nimmt in ihr die Rol­le der Regio­nen im Natio­nal­staat als Quäl­geist, der eine Ord­nung nach Men­schen­maß ver­langt, um die Unord­nung glo­ba­ler Kon­zep­te mög­lichst aufzuhalten.

Es geht um die Sou­ve­rä­ni­tät des Men­schen, so wie er ist, an der sich die Men­schen­freun­de ver­grei­fen, die welt­weit Men­schen, Völ­ker und Staa­ten einer Theo­rie tota­ler Uni­for­mi­tät anpas­sen möch­ten. Die Regio­na­lis­ten, die an Geschich­te, Her­kom­men und an einem gro­ßen Bei­spiel für Euro­pa anknüp­fen wie Öster­reich-Ungarn, sind kei­ne radi­ka­len Fremdenfeinde.

Ganz im Gegen­teil, sie weh­ren sich gegen die radi­ka­len Kräf­te, die danach stre­ben, sie selbst von sich, ihrer Regi­on, ihrer Nati­on und einem Euro­pa der Völ­ker in der Einen Welt mit dem einen Men­schen zu entfremden.


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