Kaum ein Ereignis der Zeitgeschichte wird bis heute aus so vielen Perspektiven betrachtet wie das Ende des Ersten Weltkriegs. Das liegt zum einen daran, daß sich die Ereignisse in den Novembertagen des Jahres 1918 überschlugen und eine Vielzahl von Entscheidungen provozierten, deren Folgen erst langfristig sichtbar wurden: Der Waffenstillstand ging in Deutschland einher mit einer Revolution und der Abdankung sämtlicher gekrönten Häupter; die rasch aus der Taufe gehobene Weimarer Republik stand immer im Schatten von Versailles.
Bereits innerhalb Deutschlands waren damals zahlreiche Perspektiven möglich, je nachdem, wie man zu den Ereignissen stand, ob man sie als Unglück oder Glück empfand. International wird die Palette der Bewertungen noch breiter und reicht vom empfundenen Sieg des Guten über das Böse bis zum Anfang vom Ende der europäischen Hegemonie.
Die alliierte Seite hat bis heute den Vorteil, daß sie an ihren grundlegenden Wertungen festhalten konnte, obwohl der von ihr kreierten Nachkriegsordnung größtes Unglück folgte, deren Ursachen man aber bei anderen zu finden meint.
In Deutschland hat sich die Perspektive auf 1918 dagegen dramatisch verschoben. Bedeutete damals der »Frieden« den Anfang von Rechtlosigkeit und daraus notwendig folgendem Chaos, hatte sich die akademische Klasse später darauf geeinigt, daß damals die »Richtigen« die Sieger gewesen seien und das 20. Jahrhundert unblutiger verlaufen wäre, wenn Deutschland dies bereits 1918 und nicht erst 1945 eingesehen hätte.
Das hundertjährige Jubiläum des Kriegsendes bietet genügend Anlaß, diese merkwürdige Kausalkette noch einmal zu überdenken. Besonders genau wollte es der in Freiburg lehrende Historiker Jörn Leonhard mit seinem mehr als 1500 Seiten umfassenden Buch Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923 (München: C.H. Beck 2018) wissen.
Allerdings beansprucht er darin auch nicht weniger, als eine Globalgeschichte einer Zeitenwende abzuliefern, die er zwischen den Jahren 1918 und 1923 stattfinden läßt. Er beginnt allerdings schon bei den Kriegszieldebatten des Jahres 1916 und versucht dann immer wieder die Zeiten zwischen den bekannten Ereignisse zu beleuchten, die dabei zu langen Anläufen werden: zum Kriegsende, zum Versailler Vertrag und schließlich zur halbwegs gefestigten Zwischenkriegsordnung nach 1923.
Allerdings betont Leonhard immer wieder, daß die Geschichte offen gewesen sei, ohne dies, über die Binsenweisheit hinaus, belegen zu können. Fairerweise läßt er den Leser gleich eingangs wissen, warum dieses Dogma so wichtig sei: weil wir nicht vom zweiten »Dreißigjährigen Krieg« sprechen sollen, was die Geschichte auf eine reine Kette der Alternativlosigkeit reduzieren würde.
Das waren diese Jahre sicher nicht. Aber waren sie offen in einem Sinne, daß sich der Versailler Vertrag einfach in Luft hätte auflösen können? Solch einer Idee kann im Grunde nur anhängen, wer die Geschichte durch die Brille unsere Gegner sieht und ausblendet, welche Interessen die Alliierten verfolgten.
Dabei zeigt Leonhard ziemlich genau, welchen Zwängen die Alliierten an der Heimatfront ausgesetzt waren. Insofern waren die Akteure in Versailles nicht frei, was Leonhards Ausgangsforderung natürlich widerspricht. Sein selektiver Blick setzt sich bei den Quellen fort, wenn es heißt: Wer die Erinnerungen der Zeitgenossen »isoliert und gegen das bessere Wissen der historischen Forschung wendet, der macht sich nachträglich, gewollt oder ungewollt, zum Vertreter der zahllosen Verratsnarrative, die am Ende des Krieges entstanden«.
Dieses Wort Leonhards paßt ziemlich exakt auf seinen Düsseldorfer Kollegen Gerd Krumeich, der sich nämlich genau dieser Ursünde, im fortgeschrittenen Alter allerdings, schuldig gemacht hat und entsprechend angefeindet wird.
Krumeich zeigt in seinem Buch Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik (Freiburg i.B.: Herder 2018), daß die Dolchstoßlegenden eben nicht nur Erfindungen der bösen Rechten waren, die damit von ihrer Verantwortung abzulenken versuchten, sondern daß es eine ganze Menge Indizien gibt, die zumindest die faktische Kapitulation als übereilt und vor allem als durch die wankenden Heimatfront verursachte nahelegen.
Krumeich ist dabei nicht so naiv, lediglich die Überraschung der Zeitgenossen über das plötzliche Kriegsende als Indiz zu nehmen, die ja bis dahin keine direkten Kriegsauswirkungen zu spüren bekommen hatten. (Krumeich nennt das Phänomen den »Fernen Krieg«.)
Bei den Alliierten rechnete niemand mehr mit dem Frieden im Jahr 1918, und Deutschland stand immer noch in Frankreich und beherrschte ein Gebiet, das bis weit in den Osten reichte. Sicherlich waren der Abgang der Österreicher und das Erscheinen der Amerikaner ein so großes Problem, daß Deutschland diesen Krieg niemals mehr mit einem Siegfrieden hätte beenden können.
Aber daraus folgt eben noch lange nicht, daß man so sehr am Ende war, um eine de facto bedingungslose Kapitulation unterschreiben zu müssen. Diese Gemengelage breitet Krumeich nachvollziehbar aus, ohne allzu oft ins Spekulative ausweichen zu müssen.
Zu diesem Mittel, insbesondere der psychologischen Spekulation, muß der Bremer Historiker Lothar Machtan in seinem aktuellen Buch Kaisersturz (Darmstadt: wbg Theiss 2018, 350 S., 24 €) an einigen Stellen greifen, da es ihm um das Scheitern im Herzen der Macht (so der weitere Titel seines Buches) geht.
Dazu widmet er sich vor allem drei Protagonisten: Wilhelm II., der bei ihm als Autokrat firmiert, obwohl er faktisch bereits entmachtet war, Prinz Max von Baden, den letzten Kanzler, der eigentlich die Monarchie retten wollte, und Friedrich Ebert, der spätere Präsident, der bei Machtan einfach »Fritz« heißt.
Es geht Machtan um die Tage zwischen August 2018, als die deutschen Truppen auf die Siegfriedlinie zurückgenommen werden mußten, und dem 10. November 2018, als Kaiser Wilhelm ins holländische Exil ging. Machtans Buch ist nicht ohne Grund vergleichsweise simpel gestrickt: Es ist die Vorlage für die ZDF-Dokusoap Kaisersturz, die diese undifferenzierte Interpretation der Ereignisse dramaturgisch auf die Spitze trieb.
Ein ernsthaftes Bemühen, die Ereignisse verständlich zu machen, ist bei Machtan nicht vorhanden, weil er die Protagonisten lieber vorführt und ihre Möglichkeiten und Beschränkungen nicht auslotet. Obwohl es Machtan um den Kaisersturz geht, kommt bei ihm eine Frage, die eigentlich im Zentrum stehen müßte, viel zu kurz: Warum wollte der amerikanische Präsident Wilson unbedingt den Kaiser weghaben?
Daß Wilson die treibende Kraft in dieser Frage war, die sonst kaum jemanden interessierte, wird auch bei Machtan deutlich. Doch er hat so großes Verständnis für dieses Anliegen, daß er es nachgerade für selbstverständlich hält, daß man mit einem Gegner erst Frieden schließt, wenn der seine Regierung ausgetauscht hat.
Der FAZ-Journalist Andreas Platthaus hat in seinem bereits im März veröffentlichten Buch Der Krieg nach dem Krieg. Deutschland zwischen Revolution und Versailles 1918/19 (Rowohlt Berlin 2018, 444 S., 26 €) den direkten Zugriff gewählt und läßt in seiner Geschichte der Phase zwischen Kriegsende und Versailles, die in all den Büchern mit dem Begriff »Traumland«, den Ernst Troeltsch damals prägte, in Verbindung gebracht wird, immer wieder Zeitgenossen zu Wort kommen.
Da er als Journalist schreibt, muß ihn das Verdikt von Leonhard nicht kümmern, allerdings kommt er auch auf diesem Weg an keiner Stelle in Versuchung, gegen die Maßgaben der historischen Korrektheit zu verstoßen. Bei seinen Zeugen handelt es sich nicht um Politiker, die ihr eigenes Vorgehen rechtfertigen müssen, sondern um Künstler, Journalisten oder Wissenschaftler, die teilweise eine Bewertung der Ereignisse vornehmen, die sich bei der Masse erst nach 1945 durchsetzen konnte.
Unterhaltsam und facettenreich ist Platthaus’ Blick auf den Versailler Vertrag, bei dem er einige Dilemmata und Absonderlichkeiten hervorhebt, die andernorts kaum eine Rolle spielen, wie die Sondervereinbarungen, die ganz konkrete Verluste der Alliierten betrafen, so u.a. einen »Schädel des Sultans Makua« aus Ostafrika, der an die Briten übergeben werden sollte (aber erst 1953 gefunden wurde, ohne daß die Echtheit geklärt worden wäre).
Das 550-Seiten-Buch Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt (München: Siedler 2018, 30 €) von Eckart Conze beschließt den Reigen der deutschen Neuerscheinungen zu unserem Thema. Auch ihm geht es, ähnlich wie Leonhard, um eine Neubewertung von Versailles, und auch er zieht die Linien weit aus, zeitlich und geographisch.
Die Frage nach der Entstehung des Ersten Weltkriegs handelt er in wenigen Zeilen ab, um zu dem salomonischen Schluß zu kommen, daß offenbar Einigkeit darüber herrsche, daß die Entwicklungen, die zum Ersten Weltkrieg führten,»äußerst komplex« waren.
Das ist die Rückzugslinie für Leute, die innerlich immer noch der Fischer-These anhängen, gleichzeitig aber wissen, daß sie sich mit einem offenen Bekenntnis dazu international lächerlich machen würden. Dennoch steht die Sache für Conze fest, weil er sich sonst nicht auf die Frage beschränken könnte, warum es den Alliierten trotz besten Willens nicht gelungen sei, eine stabile Friedensordnung zu errichten.
Die Antwort wird niemanden überraschen und entspricht dem, was bereits bekannt ist. Die Alliierten hatten unterschiedliche Interessen, Frankreich wollte Deutschland dauerhaft schwächen, England seine Schulden an die Vereinigten Staaten nicht selbst bezahlen müssen, die Amerikaner wollten etwas ganz anderes als ihr Weltpolitiker Wilson und schließlich war da noch der Bolschewismus, der sich anschickte, dauerhaft Unruhe zu stiften.
Conze legt nahe, daß die Deutschen mit dem Frieden von Brest-Litowsk die Blaupause für Versailles geliefert hätten, was sich mit den hehren Zielen der Alliierten nicht nur logisch nicht in Einklang bringen läßt, sondern auch den Inhalt der Vertragswerke sträflich ignoriert.
Den größten Widerspruch riefen die Reparationen, die Schuldzuschreibung und die Kriminalisierung des Gegners im Versailler Vertrag hervor. Von diesen Dingen findet sich in dem – äußerst harten, aber völlig konventionellen – Frieden von Brest-Litowsk nichts (obwohl Rußland hauptschuldig am Krieg war, was Dokumente schon damals belegten!).
Die schiefe Sicht auf die Dinge ist bei Conze notorisch, wenn er etwa die Tatsache überbewertet, daß sich der deutsche Delegationsleiter in Versailles, Graf Brockdorff-Rantzau, nach Übergabe des Friedensdiktats nicht erhob, sondern im Sitzen erwiderte,daß insbesondere die Schuldzuschreibung nicht zu akzeptieren sei:
Den Eindruck, den er dadurch auslöste, war katastrophal.
Wilson sei enttäuscht gewesen. Obwohl es Conze besser weiß, muß hier der völlig falsche Eindruck entstehen, daß ein hochnäsiger Aristokrat daran schuld war, daß am Ende keine milderen Bedingungen gewährt wurden. Im Hinblick auf die genannten Bücher stellt sich die Frage, warum diese Bücher geschrieben werden mußten, wenn sie das Jubiläum von Versailles nicht zum Anlaß einer Neubewertung nehmen?
Um eine Wiederaufnahme des Deutungskampfes um Versailles kann es in der Tat nicht gehen, da sich die unmittelbaren Folgen von Versailles angesichts der von 1945 ziemlich harmlos ausnehmen. Aber muß die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht unverständlich bleiben, wenn man die Wahrnehmung der Zeitgenossen als überzogen abtut und sogar davor warnt, einen kausalen Zusammenhang zwischen 1919 und 1939 herzustellen?
Jeder unbedarfte Leser steht seinen Vorfahren unter dieser Maßgabe völlig verständnislos gegenüber und muß sie für verrückt halten.
Das Verständnis, das sich in den Büchern größtenteils für die Vorgehensweise der Alliierten zeigt, deren Ziele verständlich gewesen seien, wünscht man sich für die Deutschen, die plötzlich als Paria vor dem Weltgericht standen, das sie angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeiten innerlich nicht anerkennen konnten.
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